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SUCHT/609: Gericht erkennt Drogenabhängigkeit nicht als Krankheit an (JES Bundesverband)


JES Bundesverband e.V. - Junkies | Ehemalige | Substituierte - 17. April 2012

Gericht erkennt Drogenabhängigkeit nicht als Krankheit an

JES Bundesverband: Landgericht Augsburg urteilt unsachkundig über Substitution in Haft



Berlin - Die Begründung des abschlägigen Entscheids der Strafvollstreckungskammer im Amtsgericht Augsburg gegen die Klage von zwei Inhaftierten auf Substitutionsbehandlung ist - nach Einschätzung des JES Bundesverbands - von fehlender Fachlichkeit und Neutralität des Gerichts geprägt.

Die substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger stellt seit mehr als 30 Jahren eine der erfolgreichsten Behandlungsformen der Opiatabhängigkeit dar. In Deutschland werden aktuell ca. 80.000 Opiatkonsumenten substituiert. Die zumeist eingesetzten Medikamente Methadon und Buprenorphin wurden in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgenommen.

Folgt man den Begründungen der Beschlüsse, sieht das Gericht in der Substitution keine Behandlungsform, die dazu beitragen kann, die Inhaftierten bei einem zukünftigen Leben ohne Drogen zu unterstützen und so einen Beitrag zu leisten, Delikte zur Beschaffung von Betäubungsmitteln zu vermeiden.

Hiermit negiert das Gericht wesentliche medizinische und psychosoziale Effekte der Opiatsubstitution. Die wissenschaftliche Evidenz belegt, dass die Substitution Krisensituationen vorbeugt und Suchtdynamiken reduziert, die sich unter anderen in einem unkontrollierbaren Verlangen (Craving) nach dem Suchtstoff ausdrücken. Sie beugt somit Rückfällen und damit potenziellen kriminellen Handlungen nach der Haftentlassung vor.

Das Gericht wertet stattdessen die immer wiederkehrenden Versuche des einen Gefangenen, sich Betäubungsmittel zu beschaffen, als für die Substitution nachteilig und mutmaßt, dass der Konsum auch mit der Substitutionsbehandlung nicht eingestellt würde. Stattdessen erklärt das Gericht, dass der Gefangene die Chance nutzen solle, während der Haftzeit Abstand von den Drogen zu gewinnen. Angesichts eines 40-jährigen Lebens mit einer Abhängigkeitserkrankung erscheint dieser Rat als zynisch und negiert die Situation in Haft sowie das Krankheitsbild des Antragstellers.

Die Haltung des Gerichts gegenüber dem Gefangenen und der Substitutionsbehandlung kommt darin zum Ausdruck, dass das Gericht die beleidigende, unsachliche und unfachliche Argumentation der JVA Kaisheim stützt, die dem Antragsteller aufgrund seiner Abhängigkeit eine "antisoziale Charakterstruktur" unterstellt.

"Es ist unfassbar, mit welchen Vorurteilen und Haltungen ein zur Neutralität verpflichtetes Gericht dem Gefangenen gegenübertritt", so Marco Jesse, Vorstand des JES Bundesverbands. "Drogenabhängigkeit wird hier als charakterliches Defizit dargestellt. Diese Sichtweise ist seit mehr als 30 Jahren wissenschaftlich ad absurdum geführt."

"Die fehlende Neutralität des Gerichts drückt sich auch darin aus, dass es der Einschätzung der Ärzte der JVA Kaisheim, die keinerlei Gründe für eine Substitutionsbehandlung sehen, umfänglich folgt und der nachweislich fehlenden Fachkunde im Bereich der Suchtmedizin keine Bedeutung beimisst", ergänzt Mathias Häde vom JES-Bundesvorstand.

Nach Ansicht des JES Bundesverbands wird überdies völlig außer Acht gelassen, dass Überdosierungen nach Haftentlassung ohne begleitende Substitution ein maßgeblicher Faktor für Drogentodesfälle sind und Substitution die Überlebenswahrscheinlichkeit von Drogenkonsumenten nachweislich erhöht.

Der JES Bundesverband wird mit seinen Bündnispartnern aus Medizin, Wissenschaft, Drogenhilfe sowie mit Patientenorganisationen alles dafür tun, dass solche antiquierten und unfachlichen Urteile deutscher Gerichte keinen Bestand haben und wird den Antragstellern alle erdenkliche Unterstützung zur Anfechtung des Urteils zukommen lassen.

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Quelle:
JES Bundesverband e.V.
Junkies | Ehemalige | Substituierte
Pressemitteilung vom 17.04.2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2012