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SUCHT/716: Substitution - Mit Methadon & Co. zurück ins Leben (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 11, November 2021

Mit Methadon & Co. zurück ins Leben

von Dirk Schnack


SUBSTITUTION. Seit 20 Jahren ist Andreas Canal in der Substitution. Ohne Ersatzstoffe würde er heute wahrscheinlich nicht mehr leben. Sie lösten ihn vom Heroin und ermöglichen ihm inzwischen ein Engagement in der Selbsthilfe.


Er könnte von seiner schweren Kindheit erzählen und damit das Abrutschen in die Drogen erklären. Andreas Canal schmunzelt bei diesem Gedanken. Er redet nicht lange um sein persönliches Problem herum: "Ich war nicht besonders umgänglich, wenn ich getrunken habe. Der Gebrauch von Heroin war eine Möglichkeit für mich, mit meinen psychischen Problemen einigermaßen klarzukommen Der ursächliche Grund für den Konsum war damals der Versuch einer Eigentherapie und eine Art Selbstmedikation."

Canal ist sich bewusst, dass er ohne Ersatzstoffe wie Methadon mit hoher Sicherheit erst vor dem Richter, dann im Gefängnis und später möglicherweise auf dem Sterbebett gelandet wäre. Maßloser Drogenkonsum hat seinem Leben eine Richtung gegeben, die man sich nicht aussuchen würde.

Drogen begleiten Canal durch sein Leben. Mit sieben Jahren fing er an zu rauchen, mit 13 zu trinken. Alkohol half dem Jugendlichen zunächst, mit dem Alleinsein zurechtzukommen. Dass er unter Angststörungen und Depressionen litt, war niemandem bekannt oder es interessierte nicht. Mit immer größeren Mengen Alkohol verdrängte er, Anschluss in der Gesellschaft aber wurde für den verschlossenen jungen Mann immer schwerer. Eine Ausbildung brach er ab, eine Ehe scheiterte. "Ich habe jeden Tag große Mengen getrunken und wollte das nicht mehr. Ich war schon lange neugierig, wie Heroin wirkt, wie es sich "anfühlt". Ich habe mir davon versprochen, dass es mir gelingt, durch den Konsum meine psychischen Problem in den Griff zu bekommen", sagt Canal. Tatsächlich gelang dies auch, allerdings nur kurzzeitig.

Das Gefühl des ersten Rauschs kann Canal noch heute, 25 Jahre später, schildern. "Das erste Mal hat mich umgehauen. Mein Leben wechselte von schwarzweiß zu bunt. Plötzlich behinderte mich die Angststörung nicht mehr, stattdessen war ich glücklich." So einfach glücklich sein: Das gelang ihm wenige Monate. Er konnte den Alkoholkonsum deutlich reduzieren, solange er Heroin nahm.

Erst nach ein paar Monaten realisierte Canal, dass er - wie zuvor beim Alkohol - in eine Abhängigkeit gerutscht war. Die Intervalle wurden kürzer, die Mengen größer. Irgendwann benötigte er täglich Heroin, dann mehrmals täglich. Sein Geld war aufgebraucht, er "beschaffte" sich die notwendigen Mittel. Die mit diesem Leben verbundenen Risiken waren ihm bewusst, aber egal. "Meine Alternativen wären Alkoholtod oder Suizid gewesen. So betrachtet hat mir Heroin zu diesem Zeitpunkt das Leben gerettet", glaubt Canal.

Äußere Zwänge führten dann später zu einer Wende: Er hatte schlicht kein Geld mehr, die Beschaffung wurde immer problematischer für ihn: "Ich war komplett pleite, hatte nichts mehr zu verkaufen und für den Überfall auf eine Apotheke oder eine Bank fehlte mir schlicht der Mut."

Canal kannte jemanden, der bei einem Kieler Arzt im Substitutionsprogramm war. Ohne diesen Bezug hätte er sich keinem Arzt geöffnet, die Hemmschwelle war riesig. "Ich hatte kein Vertrauen und keine guten Erfahrungen zu und mit Ärzten. Meine Erwartungen an die Substitution waren sehr gering. Aber ich hatte kein Geld mehr für Heroin, wollte den Druck der Beschaffung loswerden und vor allem nicht mehr entzügig sein."

Er war 31 Jahre alt, als er sich zur Substitution entschied. Es begann mit einer Enttäuschung - er musste einen Behandlungsvertrag unterschreiben in einer Situation, die nach seiner Ansicht dafür nicht geeignet war. "Ich war auf Entzug und die Aufklärung ging komplett an mir vorbei. Ich war nicht aufnahmefähig und hätte alles getan und alles unterschrieben, um an Methadon zu kommen. In einer solchen Situation darf man einen Menschen keinen Vertrag unterschreiben lassen", findet er auch heute noch.

Nach der ersten Einnahme von Methadon ging es ihm sofort besser. "Das trat sofort ein, bevor es überhaupt wirken konnte. Es war eine reine Kopfsache." Später stellte sich dann der "Methadon-Rausch" ein, den Canal aber als Enttäuschung wahrnahm, weil er so ganz anders ausfiel als unter Heroin. Er blieb trotzdem dabei: "In erster Linie war ich glücklich, weil es zumindest irgendein Rausch war. Und ich war endlich nicht mehr entzügig."

Er wurde zwar auf andere Ersatzstoffe umgestellt, blieb aber in der Substitution. Später spielten dann langfristige Überlegungen eine Rolle: "Ich habe mich gefragt, ob ich langfristig damit klarkomme und was die Alternativen wären."

Dennoch befielen ihn im Laufe der Jahre immer wieder Zweifel. "Ich habe oft geschwankt und war unzufrieden. Ich wollte abbrechen, aber ich wusste, dass ich mir die Schwarzmarktpreise nicht leisten konnte. Ich wollte auch nicht mehr, dass sich mein Leben nur noch um die Frage drehte, woher ich das Geld für das nächste Gramm oder den nächsten Beutel nehmen sollte." Auch seine psychischen Krisen kommen immer wieder. Er zieht sich dann komplett von der Außenwelt zurück - eine regelmäßige Tätigkeit in einem Beruf ist für ihn damit trotz Substitution unmöglich. Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie es für viele Menschen normal ist, bleibt schwierig.

Als die substituierende Allgemeinarztpraxis, in der er anfangs betreut wurde, an eine Nachfolgerin übergeben wurde, wechselte Canal aus persönlichen Gründen zur Drogenambulanz in der Boninstraße. Er ist zwar froh, dass es solche Anlaufstellen gibt, hat aber kein Verständnis, dass drogensüchtige Patienten zum großen Teil noch immer nicht wie andere chronisch Erkrankte in Praxen versorgt werden. Ärzte außerhalb der Fachambulanz sucht er gar nicht mehr auf, weil er erwartet, stigmatisiert zu werden. Getrennte Wartezimmer, wie es sie zum Teil bei substituierenden Ärzten gibt, empfindet er als diskriminierend. "Wir sind krank, nur mit einer anderen Problematik als andere Patienten", sagt er.

Das Thema treibt ihn so um, dass sich Canal inzwischen in der Selbsthilfe engagiert. Er ist Koordinator für Norddeutschland für den JES (Junkies - Ehemalige - Substituierte) Bundesverband. Das Netzwerk aus regionalen Selbsthilfegruppen und Einzelkämpfern setzt sich für eine regulierte Freigabe aller Substanzen und gegen Kriminalisierung und Stigmatisierung drogenbrauchender Menschen ein. Die Tätigkeit empfindet er als wichtig und erfüllend - vielleicht die erste in seinem Leben, die er so wahrnimmt. 20 Jahre Substitution haben es möglich gemacht.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 11, November 2021
74. Jahrgang, Seite 8-9
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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