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ARTIKEL/486: Kongress Armut und Gesundheit - Das größte Zukunftsrisiko tragen die Kinder (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 49 vom 10. Dezember 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Das größte Zukunftsrisiko tragen die Kinder
Kongress Armut und Gesundheit: Nicht an Symptomen laborieren, Ungleichheit beseitigen!

Von Hilmar Franz


Mit zweitausend Fachleuten und Praktikern engagierte sich der zweitägige Kongress "Armut und Gesundheit" vor allem für ein gesundes Aufwachsen von Kindern. Die größte Veranstaltung zur öffentlichen Gesundheit in der Bundesrepublik ist seit 1994 fest im Rathaus von Berlin-Schöneberg etabliert. Ihren Auftakt am 3. Dezember konterkarierte geradezu symptomatisch, aber eher zufällig eine "christlich-liberale" Mehrheit am Reichstagsufer. Der tief beschämende Bundestagsbeschluss, der ja nicht bloß formal der Karlsruher Maßgabe zur gesetzlichen Neuanpassung der Hartz-IV-Regelsätze an die tatsächlichen Bedarfe entsprechen sollte, ist nach Expertenmeinung am Tagungsort Schöneberg verfassungswidrig. Richtig gerechnet, müsste für jeden Leistungsberechtigten monatlich nicht um fünf Euro, sondern um 50 bis 60 Euro aufgestockt werden, konstatierte Richard Hauser. Der Forschungsschwerpunkt des emeritierten Professors für Volkswirtschaft liegt auf der Verteilungs- und Sozialpolitik.

Seit längerer Zeit hat Hauser das Modell einer Kindergrundsicherung in die öffentliche Diskussion gebracht. Die von ihm berechneten Leistungen für Lebensunterhalt plus Bildungsaufwendungen plus angemessenem Anteil an den Wohnkosten sollten pro Kind monatlich 454 Euro betragen und analog zum Kindergeld ausgezahlt werden. Die Etataufwendung von 30 Milliarden Euro entspricht ungefähr der Größenordnung einer Westerwellschen Steuersenkung, wie sie SchwarzGelb zunächst angestrebt hatte.

Denn Kinderarmut, wie sie speziell jeden fünften der Aufwachsenden in der Bundesrepublik trifft, kann und darf einfach nicht die erste Sozialisation sein, erklärte der Experte für Kindergesundheit Raimund Geene, Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal. "Politik ist verpflichtet, auch in schwierigen sozialen Bedingungen lebenden Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern langfristig Verwirklichungschancen für Gesundheit, Bildung, Zukunft zu sichern." Einer in großen Gruppen der Gesellschaft voranschreitenden "Infantilisierung der Armut", ebenso wie der kritisierten Wohlfahrtsökonomie wird deshalb ein gerechtigkeitstheoretischer Ansatz entgegengestellt (capability set), abgeleitet von Nobelpreisträger Amartya Sen. Demnach wären anstelle einer Wohlstandsmessung nach dem Bruttoinlandsprodukt die Handlungsbefähigungen aller Menschen zu erweitern, indem Ressourcen für ein gelingendes Leben gestärkt und vom Gesetzgeber materiell ausreichend abgesichert werden (trinken, essen, gesund sein, Krankheiten vermeiden, lange leben, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, lesen können und auch - nach Adam Smith - ohne Scham sich öffentlich zeigen).

Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind so zu organisieren, dass soziale Ungleichheit abnimmt und sich bei individuellen Handlungsfreiheiten ein Höchstmaß an Gesundheit für alle Menschen realisieren ließe, formulierte es sinngemäß im Einführungsreferat der Freiburger Sozialwissenschaftler Uwe H. Bittlingmayer. Auf einem Flugblatt gegen "Vermaßnahmung" antwortete ein Netzwerk Grundeinkommen: "Von Befähigung sprechen, Bevormundung praktizieren: so erleben Erwerbslose ihre ´Förderung´. Erst wenn ein ausreichend hohes Transfereinkommen nicht mehr an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gekoppelt ist, kann jeder Mensch ´selbst entscheiden, welches Leben er oder sie führen möchte´. Anmaßende und unerwünschte Pädagogik kann eingespart werden."

Außer Appellen, zaghaften Modell-Ansätzen u. a. in einem Kooperationsverbund zur Gesundheitsförderung von sozial Benachteiligten und für 2011 in Aussicht gestellten Handlungsempfehlungen, gibt es derzeit wenig nach vorn Weisendes. Bei seiner Kritik der jetzt verabschiedeten Hartz-IV-Regelsätze und des angerechneten Elterngeldes aufs Grundeinkommen hatte Richard Hauser die "Arbeitgeber"-Drohgebärde des "Lohnabstandsgebots" aufgegriffen. Da sie schon seit dem Karlsruher Urteil obsolet ist, könne eine allgemeine Korrektur nur über die Anpassung der Tarife und Einkommen nach oben erfolgen. Dies einzufordern sieht Horst Schmitthenner nicht allein bei den Gewerkschaften, sondern auch kraft neuer Bündnisse mit Sozialverbänden und Globalisierungskritikern. Annelie Buntenbach, stellvertretende DGB-Vorsitzende, verwies auf den derzeitigen Stand: Appellative Kampagnen zum existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn, für gute Arbeit, von der man leben können soll, und für mehr Solidarität durch einen paritätischen Anteil der "Arbeitgeber" und Einbeziehung anderer Einkommensarten im gesetzlichen Krankenversicherungssystem. Der "Quantensprung" einer Kopfpauschale wird abgelehnt.

"Dieses Land hätte die Möglichkeit, Armut zu bekämpfen. Aber das findet nicht statt", äußerte sich auf dem Abschlusspodium Gerhard Trabert, ein in der Wohnungslosen- und internationaler Katastrophenhilfe engagierter Mainzer Mediziner. "Armut hat nicht nur für Wohnungslose existenzbedrohende Facetten. Arme Menschen werden kränker und sterben früher." Wer das ändern möchte, müsse den dahinter stehenden Reichtum, die knallharte Interessenpolitik des kapitalistischen Systems thematisieren. Anhand der statistischen Daten-Auswertung des sogenannten Sozio-ökonomischen Panels hatte das tags zuvor bereits ein Zwischenrufer aus dem Auditorium getan: "Januar 1919, Rosa Luxemburg: Sozialismus oder Untergang in die Barbarei!"

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 49,
10. Dezember 2010, Seite 6
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2010

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