Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


ARTIKEL/498: Pädiater sehen Eltern und Staat in der Pflicht für Kindergesundheit (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2011

Kindergesundheit
Pädiater sehen Eltern und Staat in der Pflicht für Kindergesundheit

Von Dirk Schnack


Viele Schulanfänger in Schleswig-Holstein haben gesundheitliche Defizite. Sprachauffälligkeiten sind auf dem Vormarsch. Eltern sind als Vorbilder gefragt.


Draußen spielen und toben lassen, Mahlzeiten gemeinsam einnehmen und auch bei der Mediennutzung Vorbild sein: Diese Maßnahmen empfiehlt Gesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg Eltern in Schleswig-Holstein. Wie notwendig das ist, zeigt der von seinem Haus vorgelegte aktuelle Bericht über die Schuleingangsuntersuchungen für das Schuljahr 2009/2010. Danach gibt es zwar einige erfreuliche, aber auch Besorgnis erregende Botschaften über den Gesundheitszustand der sechsjährigen Kinder im Land. Die wichtigsten im Kurzüberblick:

- Jedes zweite Kind wies zum Zeitpunkt der Untersuchung mindestens eine Auffälligkeit aus den Bereichen Sehen, Hören, Körpergewicht, Motorik/Koordination, Sprache oder Verhalten auf.

- Besonders häufig sind dabei Ernährungsstörungen, von denen jeder fünfte ABC-Schütze betroffen ist. Untergewicht und Übergewicht bzw. Adipositas sind mit jeweils rund zehn Prozent annähernd gleich verbreitet.

- Bei jedem vierten eingeschulten Kind in Schleswig-Holstein lagen Sprachauffälligkeiten vor. Dies stellte eine leichte Steigerung zum Vorjahr dar. Nur wenige dieser Kinder befinden sich noch nicht in logopädischer (2,9 Prozent) oder sprachheilpädagogischer (5,5 Prozent) Behandlung.

- Verhaltensauffälligkeiten (emotionale, soziale Probleme, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, spezielle Verhaltensauffälligkeiten) treten mit 20,3 Prozent bei jedem fünften Kind auf.

- Die Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 ist in den vergangenen zehn Jahren für alle Untersuchungszeitpunkte um acht Prozent gestiegen.

Die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen sollen der individuellen Beratung und Förderempfehlung für das einzelne Kind dienen und sind zugleich - anonymisiert - Grundlage politischen Han delns für Kommunen und Landesregierung.

Zunächst zu den erfreulichen Ergebnissen: Garg verwies darauf, dass Schleswig-Holsteins Schulanfänger in einigen Bereichen gesünder sind als Kinder in anderen Bundesländern. Als Beispiele führte er an, dass Kinder zwischen Nord- und Ostsee seltener übergewichtig oder von Allergien betroffen sind. Auch die steigende Akzeptanz der Früherkennungsuntersuchungen darf als Erfolg verbucht werden. Wie wichtig der großen Mehrheit der schleswig-holsteinischen Eltern die gesundheitliche Entwicklung ihrer Kinder ist, zeigt die Statistik über das gelbe Vorsorgeheft. In 92 Prozent aller U9-Untersuchungen legten die Eltern dieses Heft vor - zehn Jahre zuvor waren dies nur 84 Prozent. Besonders im Kreis Plön gibt es kaum noch Eltern, die das Vorsorgeheft zur U9 nicht vorlegen - hier beträgt der Anteil fast 98 Prozent. Die Autoren des Berichts führen dies darauf zurück, dass Plöner Kinder, die das Vorsorgeheft zur Einschulungsuntersuchung nicht vorlegen, der Kinder- und Jugendärztin vorgestellt werden müssen.

Landesweit fehlte bei rund 26 Prozent mindestens eine U-Untersuchung. Kurz nach der Geburt des Kindes liegt die Inanspruchnahme nahezu bei 100 Prozent, sinkt aber bis zur U9 auf 90 Prozent. Die Autoren erwarten, dass die Inanspruchnahme in den kommenden Jahren weiter steigen wird, da im Rahmen des Kinderschutzgesetzes ein verpflichtendes Einladungs- und Erinnerungswesen eingeführt wurde. Von einer positiven Entwicklung berichten die Autoren auch beim Impfschutz. Bei der ersten Masern-Mumps-Röteln-Impfung liegt die Durchimpfungsrate bei Schulanfängern inzwischen bei rund 96 Prozent, bei der zweiten bei 91,6 Prozent. 92,6 Prozent der Kinder sind bei Einschulung ausreichend gegen Hepatitis B geimpft, 93,5 Prozent gegen Pertussis. Rund 39 Prozent der Schulanfänger sind mindestens ein Mal gegen Varizellen geimpft, 2007 waren dies nur neun Prozent. Einen kompletten Impfschutz haben 86 Prozent der Schulanfänger.

Zu den weniger erfreulichen Ergebnissen: Die Kinder- und Jugendärztlichen Dienste stellen mehr Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten fest. Garg verwies in diesem Zusammenhang zwar auf nach seiner Ansicht "gut ausgebaute frühzeitig greifende Förderangebote", aber unter Kinder- und Jugendärzten in Schleswig-Holstein gilt die hohe Zahl an Verhaltensauffälligkeiten oder von in ihrer sozialen Integration eingeschränkten Kindern als eines der größten Probleme. Dr. Detleff Banthien, Vorsitzender des Landes verbandes der Kinder- und Jugendärzte in Schleswig-Holstein, hält verstärkte Forschung für erforderlich, um echte Defizite von Entwicklungsstörungen mit günstiger Prognose und um pädagogische von medizinischen Problemen unterscheiden zu können. Weitere Forderungen des Landesverbandes in diesem Zusammenhang an die Politik:

- Bessere Koordination der Mittel beim Einsatz zur Förderung der Kinder und Jugendlichen. "Dafür müssten Schnittstellen zwischen pädagogischem und medizinischem Bereich und den Jugendhilfebereichen definiert und mit finanziellen Mitteln ausgestattet werden", so Banthien.

- Massive Investitionen in die Vorschulbildung; hier schneidet Deutschland im OECD-Vergleich noch schlecht ab.

- Ein Recht auf Zugang zu einer kinder- und jugendärztlichen/hausärztlichen Versorgung. "Dafür müssten die Ausbildung und Niederlassung von Kinder- und Jugendärzten genauso wie die von Allgemeinärzten staatlich gefördert werden", so Banthien.

Zur Versorgungssituation: Die nach Kreisen sehr unterschiedliche Erreichbarkeit von Kinder- und Jugendärzten zeigt sich in einer Statistik über die Inanspruchnahme der U9. Danach wenden sich in Kiel nur zwei Prozent der Eltern mit der U9 an Hausärzte. In Nordfriesland dagegen gehen 37 Prozent wegen der U9 zum Hausarzt. Dies belegt Banthiens Einschätzung, dass der Zugang zu einem auf Kinder- und Jugendliche spezialisierten Hausarzt in Schleswig-Holstein nicht gesichert ist. "Es wurden und werden weiterhin viele Kinder und Jugendliche von Allgemeinärzten ohne jede pädiatrische Ausbildung behandelt", stellt Banthien fest. Er bemängelt, dass trotz der in den vergangenen Jahren deutlich umfangreicheren Tätigkeit der Pädiater - Diagnostik und Behandlung von Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten beanspruchen neben den chronischen Erkrankungen wie Asthma und Allergien und den akuten Erkrankungen immer mehr Manpower zu wenig Geld bereitgestellt wird. "Die Versorgung der Kinder und Jugendlichen ist nicht zielgerichtet. Damit ist auch die Niederlassung für Kinder- und Jugendärzte ebenso unattraktiv wie bei den Allgemeinärzten. Bereits heute gibt es teilweise erhebliche Schwierigkeiten, frei werdende pädiatrische Arztsitze weiterzugeben", sagt Banthien.

Zurück zur Rolle der Eltern: Gargs Appell findet Banthien zwar richtig, allerdings ohne Substanz, solange der Staat nicht für sichere Lebensumgebungen für Kinder sorgt. Er verweist darauf, dass auch Eltern Unterstützung benötigen, um ihre Vorbildfunktion zu erlernen und ausfüllen zu können. Banthien vermisst nicht nur diese Unterstützung, sondern auch ein Einschreiten des Staates, wenn Kinder für Profitzwecke durch die Industrie manipuliert werden; als Beispiel nennt er die gescheiterte Ampelkennzeichnung für Lebensmittel. Sein Resümee: "In Deutschland entscheidet einzig und allein der sozioökonomische Status der Eltern über Bildungserfolge und Gesundheit der Kinder."

*

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201109/h11094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt September 2011
64. Jahrgang, Seite 22 - 23
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang