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GEWALT/207: Flucht vor Gewalt - Steigende Tendenz bei Selbsttötungen afghanischer Frauen (medica mondiale)


medica mondiale e.V. - Mittwoch, 8. September 2010

Flucht vor Gewalt:
Steigende Tendenz bei Selbsttötungen afghanischer Frauen

medica mondiale zur Situation von Afghaninnen anlässlich Welttages der Suizidprävention


Köln, 8. September 2010. Im Vorfeld des Welttages der Suizidprävention (10. September) weist die Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale auf das drängende Problem der Selbsttötungen afghanischer Frauen hin. Aufgrund wachsender Gewalt und einem Leben ohne Rechte entscheiden sich verzweifelte Frauen und Mädchen in Afghanistan in zunehmendem Maße sich selbst zu töten.

Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie des afghanischen Gesundheitsministeriums geht von einer steigenden Anzahl von Afghaninnen zwischen 15 und 40 Jahren aus, die sich ihr Leben nehmen. Die Untersuchung spricht von rund 2.300 Selbsttötungsversuchen jährlich und damit einer erheblichen Erhöhung in den letzten Jahrzehnten. Auch ein Bericht des kanadischen Außenministeriums erklärte Ende 2009, dass Selbstverbrennung für eine steigende Anzahl von afghanischen Frauen ein Ausweg aus unerträglichen Lebensumständen sei und dass sich erheblich mehr Frauen als Männer in Afghanistan das Leben nehmen würden. In vielen Industriestaaten ist das Verhältnis umgekehrt, so kommen in Deutschland auf einen Suizid einer Frau etwa drei Suizide von Männern.

Viele Afghaninnen wählen die Methode der Selbstverbrennung, da Brennstoff in der Küche für die ins Haus verbannten Frauen leicht erreichbar ist, andere greifen zu Rattengift. Ursache für die Verzweiflungstaten ist zumeist die Hoffnungslosigkeit vieler Frauen, die keinen anderen Ausweg aus der Gewalt mehr sehen, wie medica mondiale auch in einer eigenen, 2007 veröffentlichten Studie feststellen musste[*].

"Viele Frauen leben vollkommen rechtlos und sind der Willkür und Gewalt ihrer Ehemänner und deren Familien ausgeliefert; andere sind abgrundtief verzweifelt, weil sie zwangsverheiratet werden sollen", so Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale. Diejenigen, die ihre Suizidversuche überlebten, würden beschuldigt, der Familie Schande zugefügt zu haben. Die Zahl von Selbsttötungen nähme bereits seit einiger Zeit zu, da die Situation für die Frauen immer schwieriger werde: "Jahrelang hat die internationale Gemeinschaft den Aufbau der Zivilgesellschaft und die Stärkung von Frauen vernachlässigt, jetzt haben die konservativen Kräfte wieder Fuß gefasst und schränken die Rechte von Frauen Stück für Stück weiter ein." Dem müsse auch die Bundesregierung ihren Einfluss entgegensetzen: "Jede Zahlung der Geberländer, also auch von Deutschland, muss von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht werden", forderte Hauser.

Die Leiterin von medica mondiale Afghanistan, Humaira Rasuli, betonte: "Mit einer entsprechenden Unterstützung und der Stärkung der Rechte von Frauen ließe sich die Zahl von Selbsttötungen erheblich reduzieren." Vor allem durch die Beratungsarbeit von medica mondiale Afghanistan seien viele gefährdete Frauen stabilisiert worden. Allein 1.200 Afghaninnen konnten in psychosozialen Gesprächen erstmals in ihrem Leben eine Entlastung von ihren oft immensen Problemen erfahren. Die Lage von Frauen hat sich nach einer ersten Euphorie nach dem Fall der Taliban kaum verbessert, sie ist weiterhin katastrophal, vor allem in ländlichen Gebieten. Laut UNIFEM, dem Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen, werden 87 Prozent der Frauen regelmäßig geschlagen. 80 Prozent der Ehen werden unter Zwang geschlossen, die Hälfte der Ehefrauen ist bei der Heirat unter 16 Jahre alt. Frauen, die sich für ihre Rechte engagieren, werden unter Drohungen aufgefordert, ihre Arbeit einzustellen. Eine lokale Mitarbeiterin von medica mondiale kündigte ihr Arbeitsverhältnis, da ihre Familie dies forderte, eine andere musste nach Drohungen in eine andere Wohnung umziehen. Im Vorfeld der Parlamentswahlen im September war es kürzlich zu mutmaßlichen Giftgasanschlägen in Mädchenschulen in Kabul gekommen - Klientinnen von medica mondiale wurde daraufhin von ihren Familien untersagt, weiterhin an Alphabetisierungskursen teilzunehmen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte den 10. September erstmals 2003 als Welttag der Suizidprävention ausgerufen. Die Organisation geht davon aus, dass jährlich etwa eine Million Menschen ihr Leben aufgrund von Suizid verliert.

[*] Studie zu Selbstverbrennungen (in englischer Sprache) von medica mondiale:
Dying to be heard - Self-Immolation of Women in Afghanistan, zu finden unter
www.medicamondiale.org


medica mondiale setzt sich seit 1993 ein für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten. Dabei versteht sich die Organisation als Anwältin für die Rechte und Interessen von Frauen, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben. Neben gynäkologischer Versorgung, psychosozialer und rechtlicher Unterstützung bietet medica mondiale Programme zur Existenzsicherung und leistet politische Menschenrechtsarbeit. In Afghanistan ist die Organisation seit 2002 tätig. medica mondiale führt in dem Land umfangreiche Programme durch in psychosozialer Beratung und Weiterbildung, in der Rechtshilfe, in der Fortbildung medizinischen Fachpersonals und in der Menschenrechtsarbeit.


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Quelle:
medica mondiale e.V.
Pressemitteilung vom 8. September 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2010