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PFLEGE/382: Demenz - "Du hast mich nicht begrüßt" (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 90 - 2. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

"Du hast mich nicht begrüßt"
Palliative Pflegephilosophie nach Silviahemmet - eine Stiftung der Königin von Schweden

Von Dr. med. Claudia Kaminski


Fassungslosigkeit macht sich in der Runde breit. Die ältere Dame sitzt am Tisch, der festlich für das Essen gedeckt ist, und wiederholt: "Du hast mich nicht begrüßt!" Der so angesprochene Enkel steht auf, begrüßt die Großmutter leicht irritiert erneut und setzt sich wieder. Wenige Minuten geht die Unterhaltung am Tisch fröhlich weiter. Dann wieder: "Du hast mich nicht begrüßt!" Noch einmal steht der junge Mann auf, begrüßt verunsichert, aber geduldig die Großmutter und nimmt am Tisch Platz. Mehrere Male geht das so und immer sagt die Großmutter: "Du hast mich nicht begrüßt!" Allen am Tisch wird klar, dass hier etwas nicht stimmt.

Das Beispiel macht deutlich, wie sehr Angehörige unter der dementiellen Erkrankung mitleiden können. Es zeigt aber auch, dass Geduld und eine ruhige Atmosphäre trotz allem ein gutes Miteinander ermöglichen.

Die dementielle Erkrankung ihrer eigenen Mutter machte Königin Silvia von Schweden besonders sensibel für das Thema Demenz und führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Krankheit und zur Stiftung "Silviahemmet", was so viel wie "Silvia-Heim" bedeutet. Einfache Mittel und Prinzipien helfen, den Patienten im Alltag das Leben zu erleichtern und die Angehörigen zu entlasten. Die Achtung der Würde des Menschen und die Erhaltung seiner Lebensqualität setzen hier früh an. Grund genug für die Malteser, die in ihren stationären Einrichtungen und ihren sozialen Diensten - sei es im Hausnotruf, im Menüservice oder im Besuchs- und Begleitungsdienst - sehr viel mit älteren Menschen zu tun haben, eine Kooperation mit der Stiftung einzugehen, um das Programm näher kennen zu lernen. Die ersten neun Mitarbeiter der Malteser schlossen ihre Trainer-Ausbildung Anfang April mit der Abschlussprüfung in Stockholm ab. Der Höhepunkt: ein Empfang bei der schwedischen Königin.

Epidemiologie

In Deutschland leben aktuell mehr als eine Million Menschen mit einer dementiellen Erkrankung - eine der größten Herausforderungen in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Alle vier bis fünf Jahre ist in Europa mit einer Verdoppelung der Demenzneuerkrankungen zu rechnen. Man schätzt, dass im Alter zwischen 65 und 69 Jahren jeder 20. betroffen ist. Das entspricht 200.000 Neudiagnosen jährlich.

Dabei gibt es verschiedene Ursachen für krankhafte Veränderungen des Gehirns. So kennt man die primär degenerativen Formen, die vaskulären Formen und die sogenannten sekundären Formen der Demenz.

Die bekannteste Ausprägung der primär degenerativen Formen ist die Alzheimer-Krankheit, die das zentrale Nervensystem betrifft und bei der das Gehirngewebe zurückgeht. Mehr als 650.000 Menschen in Deutschland sind davon betroffen. Die vaskulären Demenzerkrankungen, "gefäßbedingte Demenz", werden durch Störungen im Herz-Kreislaufsystem verursacht. Alkohol- oder Drogenmissbrauch, AIDS oder Schilddrüsenerkrankungen sind unter anderem Ursachen für die sogenannten sekundären Demenzen. Unabhängig jedoch von der Ursache: Bis zum Jahr 2030 rechnen Experten mit bis zu 2,5 Millionen dementiell erkrankten Menschen bundesweit. Das größte Risiko, an Demenz zu erkranken, ist: die höhere Lebenserwartung.

Krankheitsverlauf

Die Krankheit verändert - je nach Grunderkrankung - die kognitive Wahrnehmung, die emotionale Kontrolle, das soziale Verhalten, die Motivation und manchmal auch die Persönlichkeit der Betroffenen. Die schrittweise Verschlechterung des Gesundheitszustandes kann von anfänglichem Hilfebedarf zu kompletter Abhängigkeit und Rund-um-die-Uhr-Betreuung führen.

Zu Beginn fällt - wie bei der angeblich fehlenden Begrüßung durch den Enkel - meist die Störung des Kurzzeitgedächtnisses auf. Dinge werden verlegt, nicht wiedergefunden, die zeitliche Orientierung bereitet Schwierigkeiten, Angehörige reagieren entnervt, weil sie bis zu zehn oder zwanzig Mal am Tag nach Wochentag oder Datum gefragt werden. Auch zu Beginn der Erkrankung kann es schon zu Problemen in der Ausdrucksfähigkeit kommen, zu Schwierigkeiten bei gewohnten Handlungen, oder alltägliche Dinge wie das Waschen der Haare werden vergessen.

Schreitet die Krankheit fort, ist zunehmend auch die räumliche Orientierung gestört. Vertraute Personen oder Gegenstände werden immer schwerer wiedererkannt. Es kann auch eine ausgeprägte Unruhe, ein Nicht-still-Sitzen-Können, ein Nesteln und ein unentwegtes Räumen von Gegenständen, wie Geschirr oder Wäsche, hinzukommen, wobei der Erkrankte sich eine neue Ordnung schafft und sich nicht mehr daran erinnert, wohin die Teller früher einmal gehörten. Die Bedeutung der Worte wird nicht mehr erkannt, so dass der Erkrankte der Aufforderung "Heben Sie bitte den Arm" nicht mehr nachkommen kann, weil er nicht mehr weiß, was "Arm" bedeutet. Auch komplexe Abläufe, wie Kochen oder Wäschewaschen, können in diesem Stadium nicht mehr durchgeführt werden.

Die Fähigkeit zu planen nimmt ebenso ab, wie Motivation, etwas zu unternehmen. Bei schwerer Demenz kann sich die Situation der Menschen so weit verschlechtern, dass Essen und Trinken durch Schluckstörungen nicht mehr möglich sind und eine Versteifung der Muskulatur auftritt.

Doch: Nicht alle Ausprägungen finden sich bei jedem Patienten. Wenn ein Verdacht auf eine dementielle Erkrankung besteht, so kann ein orientierender Test, der sogenannte Mini Mental Status Test (MMST), einen ersten Hinweis auf die Diagnose geben. 1975 von Folstein et al. entwickelt, ist er im klinischen Alltag ein geeignetes Verfahren, kognitive Leistungen zu erfassen und zu beurteilen. Auch in der Verlaufskontrolle gibt er Anhalt über das Fortschreiten der Erkrankung.

Auch wenn der Test wegen seiner Anfälligkeit im Hinblick auf unruhige Umgebung, Schmerzen, Scham, Scheu oder sich einmischende Angehörige nicht unumstritten ist, so bietet er doch einen Einblick in die Fähigkeiten des Probanden; über zeitliche und räumliche Orientierung, Merk- und Erinnerungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Lesen, Schreiben, Zeichnen und Rechnen. Auch Sprache und Sprachverständnis gehören zu dem einfachen Test, der maximal zehn Minuten in Anspruch nimmt. Dabei sollte es selbstverständlich sein, dass Hilfsmittel, wie Brille oder Hörgerät, optimal eingestellt sind, um das Testergebnis nicht unnötig negativ zu beeinflussen. Auch die Möglichkeit einer so genannten Altersdepression muss in Erwägung gezogen werden.

Aufklärung nach Diagnose?

Wenn Angehörige sich sorgen und Veränderungen bei einem geliebten Familienmitglied feststellen, ist der Mini Mental Status Test gegebenenfalls eine erste Möglichkeit, herauszufinden, ob es sich tatsächlich um eine dementielle Erkrankung handelt. Eine dann ärztlich herbeigeführte Diagnose stellt die Familie jedoch vor das Problem: Soll der Erkrankte aufgeklärt werden? Leidet er nicht sowieso schon an seiner Vergesslichkeit, wenn er sie noch bemerkt? Wird die Aufklärung über die Erkrankung das Leid nicht noch verstärken? Hier gilt es für die Familien, sorgsam abzuwägen: Ist die Mutter, der Vater oder die Großmutter; der Großvater noch in der Lage, tatsächliche Wünsche zu äußern, finanzielle Überlegungen zu treffen, die Pflege und das weitere Vorgehen zu regeln? Behutsam sollten die Angehörigen daher überlegen wer mit dem Erkrankten spricht und welche Außerungen es über diese Arten der Krankheit schon gegeben hat, um die richtige Lösung und Antwort zu finden. Beratung oder die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe können bei nicht allzu fortgeschrittener Krankheit noch hilfreich sein. Und: Häufig wird eine Demenz zu spät diagnostiziert. Eine medikamentöse Behandlung bei früherer Diagnosestellung kann den Prozess - je nach Grunderkrankung - durchaus beeinflussen und verlangsamen.

Steht also die Diagnose einer dementiellen Erkrankung, dann ist der ganzheitliche Ansatz der schwedischen Stiftung ein Glücksfall für die weitere Entwicklung: Der Erkrankte steht im Mittelpunkt. Er ist der Lehrmeister des Teams, das sich um ihn kümmert, sich um ihn sorgt. Und dieses Team besteht nicht nur aus Arzten, Krankenschwestern oder Pflegern, sondern auch aus den Taxifahrern, dem Reinigungspersonal, den Köchen und allen, die dem Patienten im Laufe des Tages begegnen. Alle sind wichtig, jeder teilt seinen Eindruck von den aktuellen Fähigkeiten oder Defiziten des Erkrankten mit.

Dieser Teamgedanke hat die Malteser besonders fasziniert: "Der Mensch mit dementieller Erkrankung steht im Mittelpunkt. Er lehrt alle im Team, die Individualität des Erkrankten als Ausgangspunkt für ein bestmögliches Leben in den jeweiligen Phasen der Demenz zu respektieren." - "Alle sind geschult und bringen ihre Erfahrungen und Beobachtungen in die Teamarbeit ein - zum Wohle des Patienten."

Und Silviahemmet berücksichtigt tatsächlich die einfachsten Dinge: Die Tageszeitung erhält ihren festen Platz. Unauffällig kann sich der Erkrankte zeitlich orientieren, wenn er auf die Zeitung schaut. Gelernt werden kann - auch in einem frühen Stadium -, dass Schlüssel ihren festen Platz haben, der mehrfach täglich kontrolliert werden kann. Verschiedene Elektrogeräte werden gezeigt, die das Leben erleichtern, und sei es nur die einfache Zeitschaltuhr für Herd oder Bügeleisen, die Schlimmeres verhindern kann, wenn das Abschalten einmal vergessen wird, oder die Kontaktmatte, die beim Verlassen des Bettes automatisch das Licht anschaltet, und vieles mehr.

Treffend bemerkt dazu Dr. Jochen Gerd Hoffmann, Chefarzt der Geriatrie im Kölner Malteser Krankenhaus St. Hildegardis: "Die Eckpfeiler des ganzheitlichen Ansatzes im Umgang mit dementiell Erkrankten, Symptom-Kontrolle, Teamwork, Unterstützung der Familien und Angehörigen sowie Kommunikation und Beziehungsarbeit sind neu und eine deutliche Erweiterung des ärztlichen Blickwinkels." Er habe neue, einfache Wege kennen gelernt- außerhalb reiner medikamentöser Therapie, so der Mediziner.


INFORMATIONEN

Altern - physiologisch

"Alt werden bedeutet, den Verlust von Fähigkeiten hinzunehmen, die einem einst wie selbstverständlich in die Wiege gelegt wurden." Bei allen Überlegungen, ob bei einem Angehörigen oder einer nahe stehenden Person eine dementielle Erkrankung vorliegt, müssen die normalen, die physiologischen Wirkungen des Alterns, in Betracht gezogen werden. Das chronologische Alter, also das tatsächliche Alter, das biologische Alter, also das gefühlte Alter, aber auch das soziale Alter, sprich die Rolle, in der Mann und Frau tatsächlich im Leben stehen.

Biologisch gehört es zum Alterungsprozess, dass wir kleiner werden, an Gewicht verlieren und Fetteinlagerungen sich verändern. Die Haut wird dünner, es gibt weniger Polsterung und mehr Falten, weil sich die elastischen Fasern verändern. Durch Pigmentverlust werden die Haare grau. Die Muskelkraft nimmt ab, Gehör und Sehfähigkeit lassen nach, und auch Herz, Lunge und Immunsystem schwächeln mit zunehmendem Alter. All das ist normal. Was nicht zum normalen Alterungsprozess gehört, sind beispielsweise Depressionen.


Silviahemmet

Die Stiftung Silviahemmet wurde 1996 durch die schwedische Königin Silvia ins Leben gerufen, um die Pflege Demenzkranker zu optimieren, das behandelnde und pflegende Personal auszubilden sowie die klinische Forschung im Bereich Demenz zu fördern. Ein besonderes Anliegen der Stiftung ist zudem, der Öffentlichkeit einen positiven Zugang zur Thematik Demenz zu ermöglichen, sowie den Angehörigen den Umgang mit den Erkrankten zu erleichtern.



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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Johannes Freiherr Heereman, Königin Silvia und die Autorin.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 90, 2. Quartal 2009, S. 20 - 21
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2009