Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → SOZIALES

PSYCHOLOGIE/060: Somatopsychologie - körperliche Ursachen psychischer Störungen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2011

INTERVIEW
Somatopsychologie - körperliche Ursachen psychischer Störungen

von Judith Eick


Physische Ursachen psychischer Erkrankungen werden oft nicht erkannt. Auch Psychologen sollten sich das Blutbild ihrer Patienten anschauen.


Körper und Geist bilden zusammen eine biologische Einheit. Ist eine der beiden Komponenten gestört, spiegelt sich dies in der jeweils anderen wider. Dr. Erich Kasten, Professor für Medizinische Psychologie, weist in diesem Zusammenhang in seinem Buch auf die Relevanz differenzierter organischer Diagnostik bei psychischen Störungen hin. Für das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt sprach Judith Eick mit Kasten.

Herr Kasten, Sie haben im vergangenen Jahr ein Nachschlagewerk über "Somatopsychologie - körperliche Ursachen psychischer Störungen" geschrieben. Was hat Sie dazu veranlasst?

Kasten: Vor einigen Jahren hielt ich im Rahmen einer Berliner Gastprofessur eine Vorlesungsreihe zum Thema Somatopsychologie. Psychosomatik ist in aller Munde, aber die umgekehrte Variante wird häufig unterschätzt. Soma und Psyche bilden eine biologische Einheit: Unser Denken und Verhalten beeinflusst körperliche Funktionen - vice versa gilt ebenso: Organische (Dys)funktionen haben Einfluss auf mentale Prozesse. Es verwundert daher nicht, dass eine Fülle organischer Erkrankungen Auswirkungen auf unser mentales Befinden hat. Letztlich beruhen alle geistigen Prozesse auf einer körperlichen Basis.

Was bedeutet das für die Versorgung psychisch auffälliger Patienten?

Kasten: In der Praxis werden Patienten mit psychischer Auffälligkeit häufig direkt an einen psychologischen Psychotherapeuten überwiesen. Psychologen führen aber keine körperliche Diagnostik durch. Ihnen liegt ja meist noch nicht einmal das Blutbild des Patienten vor. So bleiben physische Ursachen psychischer Störungen oft lange Zeit - im schlimmsten Falle sogar gänzlich - unerkannt.

Welche Krankheiten werden Ihrer Erfahrung nach am häufigsten verkannt?

Kasten: Minimale Entzündungen sind beispielsweise nicht zu unterschätzen: Auch eine lapidare Paradontitis oder eine leichte chronische Kieferhöhlenreizung können das Immunsystem aktivieren. Immunpeptide, die Botenstoffe des Immunsystems, werden auch im Gehirn erkannt. Im Krankheitsfall nötigt letztlich unser Gehirn uns durch Gefühle von Abgeschlagenheit dazu, uns ins Bett zu legen. Problematisch ist das, wenn die Entzündung zwar leicht, aber dauerhaft ist. Dann fühlt man sich monatelang schlapp und lustlos. Wenn außerdem noch eine labile mentale Disposition hinzukommt, kann das über die Dauer wie eine seelisch bedingte Depression wirken.

Hormonstörungen können sich ebenfalls schon bei geringen Entgleisungen psychisch bemerkbar machen. Ein relativ häufiges Beispiel: Schon subklinische Abweichungen der Schilddrüsenfunktion können bei Menschen, die ohnehin zur psychischen Labilität neigen, Stress oder psychosoziale Konflikte zur Folge haben, letztlich "das Fass zum Überlaufen" bringen.

Das "Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen" (DSM) berücksichtigt das somatopsychische Modell durchaus. Dort werden Krankheitsfaktoren kodiert, die psychische Störungen zur Folge haben können und von den "primären" psychischen Erkrankungen ohne organische Ätiologie differenziert.

Ein Fallbeispiel?

Kasten: Eine meiner Patientinnen war die 42-jährige Frau Anna S.; sie war in ihrem bisherigen Leben eigentlich stets fröhlich und aufgeschlossen, wurde dann aber zunehmend nervöser, psychisch instabiler und fahriger. Sie arbeitete in einem großen Krankenhaus unter teilweise hohem Zeitdruck. Obwohl sie diesen Job schon seit Jahren und durchaus gerne machte, schob sie die Symptomatik auf berufliche Überlastung. Die zunehmenden Schlafstörungen erklärte sie mit dem Schichtdienst, der ihren Tag- und Nacht-Rhythmus ständig durcheinanderbrachte. Aber selbst im Urlaub konnte sie nicht mehr abschalten, unablässig hatte sie ein Gefühl der inneren Unruhe. Immer öfter wurde sie ihrem Mann gegenüber aggressiv und vergriff sich auch Patienten und Besuchern gegenüber mitunter im Ton. Dann erlitt ihr Mann einen Unfall, der wochenlange Rehabilitation erforderte, und Frau S. musste sich plötzlich auch noch um viele Lebensbereiche kümmern, die er sonst übernommen hatte.

Als nun Existenzängste mit regelrechten Panikanfällen mit Herzrasen und Schwitzen hinzukamen, suchte sie endlich ihren Hausarzt auf und schilderte ihm die Symptome. Der Arzt diagnostizierte ein Burnout- Syndrom und überwies die Patientin an einen Psychotherapeuten, der mit ihr ein verhaltenstherapeutisches Training zur "Stressimpfung" machte und ihr die progressive Muskelentspannung beibrachte.

Die innere Unruhe ließ allmählich nach und auch die Schlafstörungen besserten sich im Lauf der Behandlung. Zunächst wertete sie dies als Therapieerfolg. Allerdings schoss sie weit über das Ziel hinaus: Die Patientin wurde nun schon fast zu ruhig und fühlte sich zunehmend erschöpft, träge und kraftlos. Schließlich war sie ständig nur noch so müde, dass sie kaum noch aus dem Bett fand. Sexuelles Verlangen verlor sie völlig und hatte laufend das Gefühl zu frieren. Zunehmend litt sie unter Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Erneut suchte sie ihren Hausarzt auf, der eine Depression diagnostizierte und dazu riet, sie solle unbedingt einen Facharzt für Psychiatrie aufsuchen. Dieser verschrieb ein Antidepressivum. Die Patientin nahm daraufhin kontinuierlich zu, was sie als Nebenwirkung des Antidepressivums wertete. Sie setzte dieses schließlich selbstbestimmt ab, da es ihre Stimmung ohnehin nicht wirklich gebessert hatte. Bei einem Gespräch mit dem Hausarzt kam es dann zu einem regelrechten Streit, da der Arzt meinte, sie müsse das Medikament unbedingt weiterhin einnehmen. Frau S. dagegen bestand darauf, dass sie nicht wirklich depressiv sei. Sie lebte mit ihrem Mann in einer glücklichen Beziehung und war im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte keinen Grund, depressiv zu sein, sondern war der Meinung, dass irgendetwas mit ihrem Körper nicht stimmte. Sie berichtete von weiteren Symptomen, die nicht zueinander passten: Haarausfall, Kribbeln in den Händen, Zyklusstörungen und einem Kloßgefühl im Hals beim Schlucken. Beim letzten Symptom wurde der Arzt hellhörig, ließ ein Blutbild machen, in dem sich eine Entgleisung der Schilddrüsen-Hormone feststellen ließ. Letztendlich wurde die Diagnose einer Hashimoto-Thyreoiditis gestellt. Seit der Einnahme von Schilddrüsenmedikamenten ist Frau S. wieder belastbar, fröhlich und psychisch stabil. Hätte die Patientin nicht eine solide psychische Grundverfassung gehabt, wäre ihr Fall wohl zu einer psychotherapeutischen Odyssee geworden.

Was sagen Sie in diesem Zusammenhang zur "Fehldiagnose Demenz"?

Kasten: Gerade bei älteren Patienten gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die zu Symptomen führen, die einer beginnenden Demenz ähneln: Dehydrierung beispielsweise hat kognitive Ausfälle zur Folge. Soziale Isolierung - etwa durch altersbedingte Immobilität - bringt die Psyche aus dem Gleichgewicht. Schwerhörigkeit und Sehstörungen können zu akustischen respektive optischen Halluzinationen führen und verleiten zur Fehldiagnose.

Was ist bei der Wechselwirkung von Medikamenten zu beachten?

Kasten: Beruhigungs- und Schmerzmittel in hoher Dosierung sollten individuell auf ihre psychische Verträglichkeit hin überprüft werden. Benzodiazepine verursachen nicht nur eine rasche Gewöhnung bis hin zur Sucht, sondern bei alten Menschen auch Gedächtnisstörungen. Neuroleptika haben nicht nur Bewegungsstörungen zur Folge, sondern können Depressionen hervorrufen. Antidepressiva können Impotenz verursachen, was den Betroffenen dann auch nicht unbedingt glücklich macht. Manche Hormonpräparate für Frauen führen zu Unruhe, Reizbarkeit und Angstzuständen bis hin zu Panikanfällen.

Was raten Sie Kollegen - der eigenen und anderer Fachrichtungen - in Praxis und Klinik?

Kasten: Die gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Soma kommt nicht nur in ausgesuchten Fällen zum Tragen, sondern grundsätzlich. Auch Psychologen sollten sich das Blutbild ihrer Patienten anschauen. Chronische Krankheiten, Nahrungsmittelintoleranzen, alles, was das Immunsystem des Körpers über einen längeren Zeitraum schwächt oder anstachelt, kann auch Auswirkungen auf das psychische Gleichgewicht haben.


Bibliographische Angaben: Erich Kasten, "Somatopsychologie. Körperliche Ursachen psychischer Störungen von A bis Z", Reinhardt Verlag 2010, ISBN 978-3-497-02120-8


*


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201111/h11114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


*


Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2011
64. Jahrgang, Seite 56 - 57
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de

Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2011