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HINTERGRUND/129: Entwicklungstendenzen in der Musik (Sozialismus)


Sozialismus Heft 10/2008

Entwicklungstendenzen in der Musik
Zu Michael Gielens Erinnerungen "Unbedingt Musik"

Von Ulrich Meditsch


Im Rahmen der Beschäftigung mit fortschrittlicher Kultur ist "ernste" Musik, und hier insbesondere die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, ein nicht einfaches Feld. Michael Gielens vor zwei Jahren veröffentlichte "Erinnerungen"[1] geben die Möglichkeit, die Ansichten eines Fachmanns kennenzulernen und sich diesem Feld zu nähern. Da es sich um einen Text handelt, in dem zwar nicht systematisch musiktheoretisch argumentiert wird, der aber in dieser Hinsicht doch eine Reihe von Thesen enthält, ist er für Ulrich Meditsch zugleich Anlass, an frühere Diskussionsbeiträge aus dem Umkreis der Sozialistischen Studiengruppen in "Sozialismus" anzuknüpfen.[2] Damals wurde über eine marxistische Lesart und Aneignung der Hegelschen Ästhetik ein Zugang zum Zusammenhang von Alltagskultur und Musik versucht.


Das Buch des knapp 80-jährigen Dirigenten gibt Aufschluss über seinen persönlichen und künstlerischen Lebensweg. Gleichzeitig beschreibt er "die kulturelle Bewegung während meines Lebens und ihre Einbettung in die politische Geschichte" /9/. Der Text ist musiktheoretisch interessant, da Gielen als Komponist selbst ein engagierter Vertreter der Beschäftigung mit und der öffentlichen Präsentation von moderner Musik ist. Darüber hinaus interpretiert er alle Musik in Bezug auf ihre Zeit und auf die gesellschaftliche Entwicklung. Es finden sich Einschätzungen zu Komponisten und ihren Werken ebenso wie Bewertungen unterschiedlicher Interpretationen. Schließlich setzt er sich intensiv mit der "Wirkung" seiner Arbeit auf das Publikum auseinander.

Seine Familie muss 1938 aus Wien emigrieren.[3] Bis zum Alter von 23 Jahren lebt er in Buenos Aires. Früh entwickelt er sich zum Fachmann für Musik des 20. Jahrhunderts. Nach einer grundlegenden Musikausbildung ab dem 14. Lebensjahr beginnt er mit 19 Jahren selbst zu komponieren, spielt Musik von Alban Berg, Hanns Eisler und Arnold Schönberg sowie eigene Werke in der "Agrupación Nueva Música" unter der Leitung des argentinischen Zwölftonpioniers Juan Carlos Paz in Buenos Aires und wird bereits mit 21 Jahren Korrepetitor am dortigen Teatro Colón. Aus der Emigrationszeit (bis 1950) stammen Bekanntschaften mit Dirigenten, denen er zum Teil assistierte (Kleiber, Furtwängler, Karajan) und Komponisten (Kagel, Paz). Seine Leitfiguren damals waren Eduard Steuermann (Gielens Onkel, Schönberg-Schüler und späterer Professor in New York), Adorno und Kleiber. Sein beruflicher Weg führt ihn nach der Rückkehr aus der Emigration nach Wien, Stockholm, Aix-en-Provence, Brüssel, Amsterdam, Frankfurt, Cincinatti sowie nach Baden-Baden, wo er das SWR-Chefdirigat übernahm.

Gielen ist in seiner Jugend intensiv mit den Repressionen des Faschismus und in der Emigration mit fortschrittlich denkenden Menschen in Berührung gekommen. Nach einer kurzen Phase der Beteiligung an Jugendprotesten in Argentinien /56-60/ entschied er sich, Musik zu seinem hauptsächlichen Lebensinhalt zu machen /60ff./, sah sich zugleich aber immer als Künstler mit Bezug zur gesellschaftlichen Realität. So beschreibt er beispielhaft seine eigene Komposition "Un vieux souvenir", die im Verhältnis steht zum "Verfall einer Kultur, ... der die allergrößte Aktualität gerade heute hat." Mit Bezug auf Baudelaire sieht er in dessen "künstlerischer Haltung, 'all dem zum Trotz' Kunst zu machen, den adäquaten Ausdruck für mein eigenes Befinden, die Musik also 'dagegenzustellen'"./321/ Heute sieht er den Zustand der Gesellschaft "zusehends als schlimm". Dass die Menschen aus der Geschichte nicht lernen, sieht er als Katastrophe an. Gegen diese Entwicklung steht für ihn Kunst und Musik, denn Musik "ist eine Möglichkeit zu lernen..., den Menschen die Konflikte ihrer Zeit und ihres Inneren vorzuführen ... nicht weniger wichtig ist: Dass die Musik uns vor allem die utopischen, die ersehnten Momente zeigt." /340/ Dem Ziel, dieses dem Publikum zu vermitteln, diente ein Großteil seiner Arbeit.[4]


Zu einigen Komponisten und exemplarischen Werken

Gielen hat sich in seinem Leben mit einer Vielzahl von Werken der "ernsten" Musik auseinandergesetzt. Im Rückblick macht er den Versuch, die Entwicklung der Komponisten von Beethoven bis Zimmermann in einen systematischen Zusammenhang zu stellen.

Deutlich erkennbar verarbeitet Ludwig van Beethoven in seinen Sinfonien die politische Entwicklung. Er erreicht den "Höhepunkt künstlerischer Umsetzung der Ideen der Aufklärung, der Menschenrechte und des revolutionären Elans (mit) der Dritten Symphonie, die alle Kanones der Vergangenheit durchbricht, um mit den Elementen der Vergangenheit eine bewusst durchgearbeitete Vision zukünftigen Lebens zu gestalten". /213f./ Die Neunte Symphonie hat für Gielen dagegen ein hybrides Finale: "Beethoven wollte sein schlechtes Gewissen, wegen 1814, mit dieser Ode (an die Freude - UM) als Höhepunkt all seiner künstlerischen und ideologischen Äußerungen zur Ruhe bringen. Vergeblich. ... kurz vor dem Schluss ist das dithyrambische Ende leeres Getöse. Es ist der falsche Text! Der Triumph der Reaktion (sprich: Metternich) verhindert die Äußerung der wahren, der verdrängten Gedanken und das machte den Missbrauch von Beethovens Neunter zum Feierstück für Führers Geburtstag erst möglich." /211/ Deshalb arbeitet Gielen in seiner Präsentation dieses Werks unter anderem mit einer Collage. Durch eine solche ideologiekritische Montage meint er die Neunte "retten zu können. Und zwar, indem zwischen Adagio und Finale Ein Überlebender aus Warschau op. 46 (1947) von Schönberg gebracht würde.[5] ... Es wurde also ein Fremdkörper vor die Schreckensfanfare zu Anfang des Finales hineinoperiert. ... Durch die Schilderung des wirklichen Grauens wurden die Zuhörer sensibilisiert für die Fanfare, die, nach der Emanzipation der Dissonanz und des Lärms in dem modernen Musikstück, zu zahm, nicht mehr gar so erschreckend wirkt, wie sie das wohl 1824 getan hatte. Die Fanfare bekam durch die Assoziation im Kopf der Hörer ihren ursprünglichen Schrecken (ihre 'Aura'!) wieder." /211f./

Auch Gustav Mahler wird von Gielen als widersprüchlich verstanden. So ordnet er das Finale seiner Siebten Symphonie in die Entwicklung des "'neudeutschen' Geistes ... im Unisono mit der Reichsgründung von 1871" /214/ ein. Andererseits sieht er ihn aber auch als Künstler, der den Menschen ihre Probleme und auch Utopien verständlich macht. "Die Konstruktion einer Utopie der überhöhten Natur und der Liebe ... wird bei Mahler zum schöpferisch-zerstörerischen Weltgetriebe von Pan-Bacchus, das in den das Subjekt zermalmenden Märschen des ersten Satzes der Dritten Symphonie dargestellt ist." /304/ Mahler gelingt es, Stimmungen der Menschen aufzugreifen und in Musik umzusetzen. "Ich finde Mahler deshalb so wichtig für uns, weil er die Konflikte der Welt, die Zerrissenheit des Menschen, in einer Sprache ausdrückt, die dem Publikum verständlich ist. Seine Musik ist in besonders eindringlicher Art Reflexion des Zustandes der Welt und Hinweis auf Utopie, auf Erfüllung der Sehnsucht." Er ist Komponist des Übergangs, des Umbruchs von der tonalen Epoche zur Abstraktion und von deren Regeln hin zur Atonalität. "In einzelnen Sätzen ist manches geradezu identisch mit der Schönberg-Schule, aber durchweg in einer Sprache, von der das Publikum glaubt, dass es sie versteht. Die bekannten Vokabeln sind sozusagen mit einem anderen Sinn befrachtet." /329/

Arnold Schönberg steht für diesen Umbruch. Er entwickelt nach einem "Schöpfungsrausch ... der freien Atonalität, der die Erwartung, Die glückliche Hand und die Lieder op. 22  ... hervorgebracht hatte" /134/, die Zwölfton-Technik als Systematik und zersetzt die Funktionsharmonik durch Chromatik. Sie ist Ausdruck einer Verhärtung, die infolge der Menschheitskatastrophe des Ersten Weltkrieges auch in der kulturellen Entwicklung einsetzte. Zwar formt Schönberg die avancierteste Kompositionstechnik, die aber "gleichzeitig gegenüber der sogenannten 'freien Atonalität' stark regressive Züge trägt". /134f./ Gielen sieht in Schönbergs Abstraktion zunächst den Höhepunkt der Musikentwicklung, revidiert diese Ansicht aber später und schreibt, dass er zwar "ein großer Konservativer, nämlich ein Bewahrer und Verwandler des Überlieferten" /338/ gewesen sei, dass es sich bei der Zwölfton-Technik aber um eine Sackgasse gehandelt habe. Es fehlte die Rückbindung an das Humanum /vgl. 244/.

So hat sich denn nach dem großen Umbruch am Ende der tonalen Epoche eine "verwirrende Vielzahl an Richtungen"[6] in der Musik des 20. Jahrhunderts entwickelt, die Gielen aufgrund seines großen Erfahrungsschatzes sehr kenntnisreich beurteilt:

Igor Strawinsky, der sich der Schönberg-Schule verweigerte, wird von Gielen teils als Schöpfer "großer Musik" eingestuft (The Rakes Progress oder Sacre du Printemps) und teils als Produzent von Werken der Neoklassik (z.B. Pulcinella). Diese war "die Reaktion auf die explosive Moderne der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Es war der künstlerische Reflex auf die Reaktion, die das entscheidende Merkmal der Jahre '18 bis '33 war". Nach der Menschheitskatastrophe des Weltkrieges ergab sich in der Kunst "Erstarrung und Lähmung. Der eklatanteste Ausdruck dieser leeren Kunst ist die Neoklassik Strawinskys" /134ff./.

Franz Schreker, lange Zeit zu Unrecht vergessen und von den Nazis tabuisiert, ist gewissermaßen ein Antipode Schönbergs. Schreker ersetzt die Funktionsharmonik "durch ein eigenes harmonisches System mit 'Zentralklängen' und 'Klangfeldern', die unterirdisch wirken und doch immer einen 'tonalen' Zusammenhang stiften" /284/. Zum Teil überträgt er Freuds Aussagen zur Organisation des Unbewussten und zur Verdrängung. Schreker komponierte in der Sicht Gielens mit "Der ferne Klang ... ein bahnbrechendes Werk des 20. Jahrhunderts" /283/.[7] Die "gesellschaftlichen Widersprüche finden sich ganz eklatant in Werken wie dem Fernen Klang wieder... in diesem Stück sind die Widersprüche sehr viel offenbarer, treten viel offener zutage als in anderen (Stücken)" /287ff/.

Alois Zimmermann ist ein Gegenwartskünstler. Seine Oper Soldaten, ein "Jahrhundertwerk des Musiktheaters" /142/, wurde von Gielen in Köln uraufgeführt. Zimmermann zitiert viele andere Musikstücke. Es handelt sich also um eine "Einverleibung von Musik der Vergangenheit, etwa der von Johann Sebastian Bach, oder ganz Aktuellem wie der Jazzmusik, (das) gibt dem Werk, wie dem Gesamtwerk Zimmermanns, einen deutlichen Charakter von endgültiger Formulierung, sozusagen einen Schlussstein der langen großen Entwicklung seit 1600" /ebd./. Indes gelingt es Gielen mit diesen Beurteilungen letztlich nicht, eine systematische Erklärung für die Entwicklung der Musik des 20. Jahrhunderts abzugehen. Nach dem großen Umbruch zu Jahrhundertbeginn (1900) steht Gielen heute "ratlos vor dem verwirrenden Bild des vergangenen Jahrhunderts" /339/.


Aufklärung und Kulturindustrie

Gielen sah es als seine Aufgabe an, seine Vorstellungen zur "ernsten" Musik dem Publikum verständlich zu machen. Er beanspruchte für sich, bei seiner Arbeit immer "das Gefühl (zu) haben, ...dem Publikum neue Gesichtspunkte vermitteln und aufklärerisch wirken zu können" /166/. Im Bereich ernster Musik, besonders der des 20. Jahrhunderts, ist das nicht leicht. Das Publikum ist in sich sehr differenziert, es gibt verschiedene Geschmäcker, Bildungsgrade, es gibt viele Vorurteile und insgesamt die Gefahr des schwindenden Publikums. "Tonangebend ist prima facie das 'konservative' Publikum ... Das Vorurteil verhindert das Zuhören" /216f./. Der Künstler steht zum Publikum in einem widersprüchlichen Verhältnis. Gielen versucht, diesen Widerspruch durch seine aufklärerische Arbeit zum Teil aufzuheben. Da er angewiesen ist auf das Publikum, auf die "Wirksamkeit" des Werkes in der vorgetragenen Fassung, trägt er so selbst dazu bei, "dass es einen Teil des Publikums gibt, der sich ansprechen lässt" /219/.

In diesem widersprüchlichen Verhältnis treten "Zerreißproben", "Zwangslagen", ja sogar "Erpressungen" /217/ auf, denen Gielen sich nur begrenzt aussetzt. Er hat die Möglichkeit, seine Vorstellungen als Künstler immer wieder an anderer Stelle zu realisieren." Seine Aufführungspraxis widerspricht "aller Gefälligkeit und aller Bequemlichkeit der erfolgreichen kommerziellen Aufführungspraxis". Mit seiner Aufführungspraxis versucht er, "trotz ihrer Zurückhaltung die Werke nackter, durchsichtiger und widerspruchsvoller, vielleicht deshalb fremder, ferner und etwas geheimnisvoller zu Gehör zu bringen." /339/

In diesem Zusammenhang setzt er sich kritisch mit dem privat alimentierten System der USA auseinander, das Musik vielfach als "Entertainment" verstehe. Das sei "ein tragisches Missverständnis der gesellschaftlichen Funktion von Kunst" /221/. Gielen verspürt einen "inneren Widerstand gegen die Kulturindustrie" /169/. Demgegenüber sieht er den öffentlich unterstützten Musikbetrieb in Deutschland positiver. Aber auch in Deutschland gibt es eine sich stärker und stärker entwickelnde Kulturindustrie. Seine Betonung der "neuen Musik" bedeutet "unweigerlich, sich immer weiter von der Kulturindustrie zu entfernen: vom Quotendenken, vom Eventdenken, vom Effekte machen, vom Drumherum reden, von der allgemeinen Riesenlüge" /334/. Er sieht, dass es einen - allerdings nur kleinen" - Sektor der Öffentlichkeit gibt, der sich für "E-Musik" interessiert, "ohne dabei seinen Geschmack den Produzenten oktroyieren zu wollen" /335/. Genau diese Klientel bedient er. Seine verdienstvolle Anstrengung der Vermittlung von ernster Musik zu aufklärerischen Zwecken hat damit nur eine sehr begrenzte Wirkung. Er stellt sich so gegen das Massenbewusstsein. Er lässt sich nicht auf die Funktion und Wichtigkeit der kulturellen Entwicklung größerer Bevölkerungsteile ein. Mit der Ablehnung der Kulturindustrie, der Verteufelung des Quotendenkens als Riesenlüge oder gar "Barbarei" /235/, dem strikten Beharren auf ernster Musik und der Ablehnung der Beschäftigung mit massenkulturellen Entwicklungen verschenkt Gielen ein großes Feld der Kunst- und Musikentwicklung und auch einen großen Teil des potenziellen Publikums.[10]

Anknüpfend an Argumente aus dem Umkreis der Sozialistischen Studiengruppen skizziere ich im Folgenden einen gegenüber Gielens zuletzt behandelten Auffassungen kritischen Ansatz.


Musik in der bürgerlichen Gesellschaft [11]

Musik spricht unmittelbar das "Gemüt" an. Der Ton an sich, das formelle Element der Musik, ist ohne Bedeutung, leer. Musik wirkt mit dem sinnlichen Klang der Töne zunächst nur auf die Empfindung und die Gefühlswelt. Höhere Formen der subjektiven Aneignungsweisen wie Vorstellen und Denken sind nicht automatisch gegeben. Sollen durch Musik gesellschaftlich allgemeine Sinngehalte vermittelt werden, bedarf es hierzu sowohl einer entsprechenden Qualität des musikalischen Materials, diese Sinngehalte allgemein verständlich in Ton, Melodie und Rhythmus zu übersetzen, als auch seitens des Subjekts einer weiteren interpretatorischen Aktivität. Diese doppelte Bestimmtheit von Musik entwickelt sich aber eigentlich erst mit der bürgerlichen Gesellschaft. In musikalischen Zeremonien vorbürgerlicher Kirchenmusik wird über die Musik nur ein allen bereits bekannter und vertrauter, vorausgesetzter Mythos reproduziert.

Die doppelte Bestimmtheit von Musik führt bei Bildungsbürgern zur Unterscheidung zwischen Unterhaltungsmusik und ernster Musik. Unterhaltungsmusik spreche vor allem das Gefühl an, ernste Musik mehr den Geist. Diese Unterscheidung ist so nicht haltbar. Unstrittig gibt es recht unterschiedlich anspruchsvolle Musikprodukte. Aber eine umstandslose Zuschreibung dieser unterschiedlichen Qualität zu den Produkten sogenannter U- und E-Musik ist nicht sinnvoll, denn es gibt in der U-Musik komplexe Musikentwicklungen ebenso wie vielfache Trivialisierungen in der E-Musik.[12]

In einem kürzlich in der Zeitschrift Merkur erschienenen Aufsatz entwickelt Jens Hagestedt die These, dass eine solche Unterscheidung allenfalls nach einer graduellen Skala "vom relativ Unvergeistigten hinauf zum höchst Vergeistigten"[13] entwickelt werden könne. Einleuchtend ist seine daran anschließende Auffassung, dass das Individuum erst im Laufe seiner Lebensphasen ein Musikverständnis entwickelt. "Die Entwicklungsgeschichte des Individuums wird immer von minder zu höher vergeistigten Stufen fortschreiten und sich auch in der Musik, die auf diesen Stufen gehört wird, manifestieren". Während einfachere, aber auch tiefere Popularmusik die Musik ist, "die spätestens von der Pubertät an jenen Gefühlen, die uns selbst betreffen und um Liebe, Engagement und Revolte kreisen, Sprache verleiht", wird ernste Musik nur von denjenigen verstanden, die "von sich selbst in einigem Umfang absehen" können. Abweichend von der Unterscheidung in U- und E-Musik sollten wir davon ausgehen, dass "das Beste aller Gattungen ... gleich viel Substanz" hat.[14]

In dieser Argumentation kommt aber zu kurz,[15] dass die Entwicklung des Bewusstseins der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft sozial und ideologisch bestimmt ist. Zum einen sind die Entwicklungsmöglichkeiten gebunden an zahlungsfähige Nachfrage und verschiedenen Massen und Klassenfraktionen nicht zuletzt deshalb nur in unterschiedlichem Ausmaß gegeben. Kultur kann in der Regel auch nur sehr begrenzt selbst ausgeübt werden. Zum anderen setzen die Angebote auf einer mystifizierten Anschauung des Alltagslebens auf. Bedürfnisstrukturen sind - wie auch die Produkte selbst - gewissermaßen verdreht. Die Kulturentwicklung in ihren vielen Formen ist also nicht per se emanzipatorisch und wirkt der Absicht nach nicht erzieherisch. Andererseits wird die bürgerliche Gesellschaft dadurch aber auch wieder stabilisiert.[16]

Gielens Ablehnung der Kulturindustrie bezieht sich auf diesen Zusammenhang.[17] Seine Auffassung hat zwar eine gewisse Berechtigung, denn die Kulturindustrie verstärkt zum Teil real vorhandenes Alltagsbewusstsein und verschiebt es nach rechts. Dem will er zu Recht nicht folgen. Er schätzt das öffentliche System des Musikbetriebes in Deutschland deshalb so hoch ein, weil es die Möglichkeit gibt, der Marktmäßigkeit zum Teil zu entkommen und das Publikum auch auf schwierigen Wegen mitzunehmen. Wie oben schon gesagt, lässt er aber viele Menschen zurück.


Unterhaltung oder Belehrung, Sinnlichkeit oder Geist?

Die Kunstform Musik löst sich in der bürgerlichen Gesellschaft - wie alle Kunst - letztlich in ein Spiel der Unterhaltung und ein Mittel der Belehrung auf. Mit mehr durch Rhythmus und Melodie bestimmter Musik (stärker vertreten bei Schlagern, Pop, Rock und Jazz) wird vor allem die Sinnlichkeit angesprochen. Trifft auf die kulturindustrielle Produktion von Popmusik zum einen das oben allgemein ausgeführte Charakteristikum des ideologischen Scheins zu, so beruht sie zum anderen "auf einer Reihe von Dimensionen der Körperlichkeit ... Die Kulturindustrie erscheint hier als ein Herrschaftsverhältnis, das nicht nur auf ideologischen Mechanismen und Bewusstseinsphänomenen, sondern auf körperlichem Zugriff gründet." Pop-Größen knüpfen an den Habitus spezifischer Gruppen an, der sich großenteils über körperliches Verhalten definiert. Insofern ist die Wirkung dieser Ensembles eben nicht einfach auf das Gemüt im Hegelschen Sinn, sondern auf "sozial und kulturell spezifische habituelle Strukturen" zurückzuführen.[18]

Eher den Geist bedienende Musik dient vor allem der Belehrung, soweit sie nicht zu einer Form der Unterhaltung herabgesunken ist, wie sie sich heute immer mehr verbreitet. In unterschiedlichen Ausprägungen (z.B. der Vielzahl von Richtungen in der modernen Musik, etwa im modern jazz) wird versucht, mehr oder weniger gesellschaftlich bestimmte Inhalte auszudrücken, wie ideologisch bestimmt auch immer.

Kann man bei der Auflösung von Musik in Unterhaltung und Belehrung weiterhin sagen, dass "Töne" leer sind, sich an das "Gemüt" wenden und bei dem Individuum (oder eben der Bevölkerungsgruppe) lediglich einen "Anstoß" geben zu einer eigenen "Vorstellung und Anschauung", diese jedoch nicht selber durch musikalische Behandlung hervorgebracht haben?[19] Oder ist es so, dass durch Verwendung bestimmter (musikalischer) Muster bereits lange untergründig vorhandene Reaktionsweisen des Publikums unmittelbar abgerufen (z.T. auch umgeformt) werden, die eben nicht erst über das "Gemüt" und Addition von Vorstellungen und Anschauungen erzeugt werden? Anschließend daran wäre zu fragen: Ist Musik heute nicht mehr "Kunst des Gemüts"? Zu fragen wäre auch, was die moderne "Gemüts"verfassung wäre? Hat sich gegenüber der Zeit von Hegel im Grundsatz etwas verändert? Hat die Kulturindustrie, die ja inzwischen eine Riesenbedeutung gewonnen hat, an derartigen Veränderungen ihren Anteil? Eine Klärung solcher Fragen könnte dazu beitragen, einer Lösung des Problems, welchen Stellenwert Musik und Musikentwicklung für die Politik hat, näherzukommen.

Abschließend möchte ich trotz der hier geäußerten und teils grundlegenden Kritik die Lektüre des Textes von Gielen durchaus empfehlen. Sein detailliert beschriebener Ansatz, Musikwerke unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Problemstellungen zu interpretieren und seine Widerständigkeit gegenüber kulturindustriellen Verblödungstendenzen sind ein Gewinn. Besonders seine im Buch verdeutlichte Offenheit gegenüber "moderner" Musik und seine Bemühungen, dem Publikum auch schwierige Stücke näherzubringen, ist nicht nur interessant zu lesen, sondern verdient auch Anerkennung.

Der Hauptkritikpunkt bezieht sich darauf, dass Gielen - indem er sich ausschließlich auf ernste Musik beschränkt - kein entwickeltes Verhältnis zur kulturellen und insbesondere musikalischen Entwicklung breiter Bevölkerungsschichten hat. Dass er sich auch mit Versuchen in diesem Sektor nicht mehr auseinandersetzt, mag man ihm zugestehen.[20] Dass er sich durch diese Einengung der zwar verdrehten, aber doch fortschreitenden Entwicklung subjektiver Aneignungsweisen der Individuen verschließt, ist zu bedauern.


Ulrich Meditsch arbeitete an der Universität Duisburg.


Anmerkungen

[1] Michael Gielen: Unbedingt Musik, Frankfurt/M. 2005. Zitate aus diesem Text im Folgenden in /Schrägstrichen/.

[2] Bechmann, Reinhard/Bischoff, Joachim/Maldaner, Karlheinz/Loop, Ludger: Ideologie als Ware, Hamburg 1979; Bischoff, Joachim/Maldaner, Karlheinz (Hrsg.), Kulturindustrie 1 und 2, Hamburg 1980 und 1982: Glotz, Peter/Kunert, Günter/Sozialistische Studiengruppen: Mythos und Politik. Über die magischen Gesten der Rechten, Hamburg 1985; vor allem aber SOST: Die Macht der Töne, in: Zeitschrift Sozialismus 7-8/1988, S. 37ff.

[3] Die Mutter war Jüdin; die Emigration war die einzige Möglichkeit, dem Faschismus zu entkommen.

[4] Gielens Musikästhetik ist also utopiebezogen. Vgl. dazu auch Adorno, Theodor W.: Philosophie der modernen Musik, Frankfurt/M. 1975, S. 196. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Kuhnert und SOST in Glotz, a.a.O., S. 98 und 100.

[5] "Textgrundlage bildet der Bericht eines anonymen Juden, der den Warschauer Ghettoaufstand überlebte." /211f./

[6] Floros, Constantin: Neue Ohren für neue Musik. Streifzüge durch die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Mainz 2006, S. 7.

[7] Darin geht es um die "Unmöglichkeit, die Utopie zu leben ... Das hat für mich dann schon mit dem Wien nach 1900 zu tun. Zu diesem historischen Zeitpunkt war die schöpferische Potenz der Donaumetropole unheimlich stark. Schönberg treibt die Musik entscheidend voran, Freud entwickelt seine Theorien, der Jugendstil nimmt die Dekadenz implizit auf, der Expressionismus macht sie explizit sichtbar, also einerseits Makart, andererseits Egon Schiele; und innerhalb dieses Reichtums das Gefühl, alles müsse zugrunde gehen. Was dann im ersten Weltkrieg auch gründlich passiert. Diese k. und k. Welt ist eine Scheinwelt" /286/.

[8] Seinen Vertrag mit der Frankfurter Oper löst er zum Beispiel 1987 auf, um anschließend die "Erfüllung" /223/ beim SWR-Symphonieorchester zu haben, das eine Vorreiterrolle in der Aufführung moderner Musik einnahm.

[9] Empirische Daten zeigen, dass auch der größte Teil der öffentlich geförderten E-Kultur in Deutschland nicht bei den Lohnabhängigen und erst recht nicht bei denen mit niedrigeren Einkommen ankommt. Vgl. Bischoff, Joachim/Maldaner, Karlheinz (Hrsg.), Kulturindustrie 2, Hamburg 1982, S. 254f.

[10] In dieser Auffassung folgt Gielen im wesentlichen der Frankfurter Schule und hier insbesondere Adorno, einer seiner Leitfiguren. Adorno und Horkheimer sehen kaum zivilisatorische Momente des Kapitalismus für die Bewusstseinsentwicklung des Proletariats. vgl. Bischoff, Joachim/Maldaner, Karlheinz (Hrsg.), Kulturindustrie 1, a.a.O. S. 51; Adorno, Theodor W., Philosophie der neuen Musik, a.a.O. S. 123.

[11] SOST: Die Macht der Töne, a.a.D. Hier wird detailliert ausgeführt, "dass eine marxistische Lesart und Aneignung der Hegelschen Ästhetik einen Zugang zur Präzisierung sinnlich-ästhetischer Aneignungsweisen und moderner Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft eröffnet." /39/ verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf Hegels Vorlesungen über Ästhetik in Bd. 13 und 15 der Werkausgabe. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1970.

[12] Schon von daher liegt Gielen schief mit seiner ausschließlichen Konzentration auf ernste Musik.

[13] Hagestedt, Jens: Über den Unterschied zwischen "ernster" und "Unterhaltungsmusik", in: Merkur 707, April 2008, S. 294-306.

[14] Alle voranstehenden Zitate aus Hagestedt, a.a.O.

[15] Hagestedt beklagt aber immerhin, dass die zerstreuende Unterhaltung uns "hindert, uns mit den Gründen für die Unerfülltheit des Lebens auseinanderzusetzen" und den Hörern "nicht sagen (kann): Du musst dein Leben ändern." (ebd.)

[16] Vgl. Bechmann, Reinhard/Bischoff, Joachim/Maldaner, Karlheinz/Loop, Ludger: Ideologie als Ware. Hamburg 1979, S. 22ff und 179.

[17] Zur Kritik vgl. Bischoff, Joachim/Maldaner, Karlheinz (Hrsg.), Kulturindustrie 1 und 2, a.a.O.

[18] Herkommer, Sebastian: Ethnografie eines Berliner Szene-Clubs. Mit Pierre Bourdieu in einem neuen kulturellen Raum, in: Sozialismus 4/2003, S. 55.

[19] vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke Bd. 15. Vorlesungen über die Ästhetik III, a.a.O. S. 146

[20] Vermutlich eher scherzhaft schreibt er, dass er "mit dem meisten, was heute geschrieben wird... nicht viel anfangen kann, sei die Ursache meine Sklerose..." /339/. viel offener zeigt sich in dieser Hinsicht György Ligeti in seinen "Rhapsodischen Gedanken über Musik, insbesondere über meine eigenen Kompositionen". In: Meyer-Kalkus, Reinhart (Hrsg.): Motorische Intelligenz. Zwischen Musik und Naturwissenschaft, Berlin 2007, S. 39-52. "Im heutigen musikalisch-kulturellen Kontext gibt es keine verbindliche Grammatik mehr." Ebd. S. 50.


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Quelle:
Sozialismus Heft 10/2008, Seite 56 - 61
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2008