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HINTERGRUND/179: Situation und Potenzial neuer Kirchenlieder (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 4/2012

Wenn Gutes von allein vergeht
Situation und Potenzial neuer Kirchenlieder

Von Peter Hahnen



Im Gottesdienst vieler Gemeinden werden häufig so genannte Neue Geistliche Lieder gesungen (NGL), die jedoch längst zu Oldies geworden sind. Mancher hat dieses Genre ohnehin bereits totgesagt. Das Neue Geistliche Lied wird es aber weiterhin geben, wenn es hilft, im Gottesdienst von dem zu singen, was bewegt, und von dem, der bewegt. Wo Kirche spirituell vital ist, entstehen auch die passenden Lieder und Genres.


Vor wenigen Jahren am Ostersonntag: Ehe der Gottesdienst begann, trat der Pfarrer vor die Gemeinde und bat, die Liedermappe aufzuschlagen. Es gelte, ein neues Lied einzuüben: "Manchmal feiern wir mitten im Tag". Ein Lied aus dem Jahr 1974 (Text: Alois Albrecht, Musik: Peter Janssens). Nicht NGL (Neues Geistliches Lied) sondern ein Oldie wurde damit als "neu" abverlangt. Unter NGL ist ein sehr wohl definierbares Genre zu verstehen, das sich in seinem Praxisfeld der "Musica sacra" anlehnt: Auf zeitgenössische Weise will es in Liedform Glaube und Hoffnung der Menschen in der Nachfolge Jesu ausdrücken und den Zeitgenossen insbesondere den Gottesdienst als Quelle und Höhepunkt nahebringen beziehungsweise befördern, damit sie sich zur Liturgie in Bezug setzen und sich als "gemeint" erleben können. Die textliche und musikalische Faktur lehnt sich dabei an popularmusikalische Idiome an.


NGL ist also ein nichtkommerzielles Genre neben der marktgängigen US-geprägten christlichen Popmusik, wie sie durch große Plattenfirmen (Major Labels) wie "Universal" und - in kleinerer, aber wirkungsvoller Weise - "Gerth Medien" auf den Markt gebracht wird; ein Zweig nahe der so genannten "Christian Contemporary Music", eng benachbart der Gospel- und Lobpreismusik freikirchlicher Herkunft und der kontemplativen Musik aus Taizé.

Musikalisch spielt sich das NGL am ehesten in den Gefilden eines "Kammerpop" ab. Das ist zu einem Gutteil seiner Anwendersituation geschuldet, der gottesdienstlichen Versammlung: Vokalensembles unterschiedlicher Größe, aber auch (Jugend-)Chöre, eine Combo, womöglich lediglich eine Gemeindereferentin mit Gitarre. Wichtig ist die Mitsingbarkeit, wie sie ein Kirchenlied vom Vortragsstück unterscheidet. Mitsingbarkeit - von der "Participatio actuosa" des nachkonziliaren liturgischen Aufbruchs abgeleitet - soll also mindestens in einem wiederholt gesungenen Refrain gewährleistet sein. NGL ist etwas anderes als das Schlagerprojekt aus den sechziger Jahren, das zu "Danke für diesen guten Morgen" führte (Text und Musik: Martin Gotthard Schneider), und hat auch gar nichts gemein mit Produkten wie der Rock-Oper "Jesus Christ Superstar".


Neues von Gestern

Was heißt es aber, wenn im Gottesdienst ein NGL von 1974 als "neu" eingeübt werden soll? Das Lied "Manchmal feiern wir mitten im Tag" ist ja immer noch nicht schlecht, aber man fragt sich, ob die Zeit partout stillsteht im Liederportfolio der Gemeinden. Der Pfarrer wird im Übrigen gut und wichtig gefunden haben, was er unternahm: Mit "neuen" Liedern die Menschen abholen, wo sie (vermeintlich) stehen und die Auferstehungsfreude "heutig" werden zu lassen. Diese Absicht ist theologisch nachvollziehbar. Wo neue Lieder mit Elan nahegebracht und dann mit Freude gesungen werden, können sie starker Ausdruck von Glaube, Lob und Bitte werden, Medium von Gebet oder doch wenigstens der Hoffnung, beten zu können. Für viele Menschen sind Kirchenlieder, alte wie neue, der Ariadnefaden, an dem sie in das Haus des Glaubens finden. Neue Songs sollten deshalb nicht als "Kirchentagslatschen-Lieder" oder als "Aftermusik" bespöttelt werden. Derlei ist wohlfeil, gemein und geht vor allem an der Wirklichkeit jener vorbei, die mit Liedern Gott loben, hoffen, beten.


Problematisch ist, wenn Lieder, die einst "neu" waren, heute eben wie "von gestern" klingen, und wenn die matt gewordene Klangtapete der siebziger Jahre zur Matrix für heute gemacht wird. Nicht wenige Hauptamtliche in unseren Gemeinden verharren in einem Repertoire, das seine Gestrigkeit in einer Endlosschleife repetiert. Das aber bekommt Popularmusik per se nicht sonderlich, auch keiner Gemeinde. Wollen Mitarbeiter eigentlich nichts anderes kennen lernen? Die ästhetische Dimension scheint in der Ausbildung pastoraler Mitarbeiter allenfalls eine kleine Rolle zu spielen. Angehender Klerus und auch die Pastoral- wie Gemeindereferenten lernen einiges über Moderation, Gruppendynamik und Supervision. Für ästhetische Fragen bleibt offenbar nicht viel Zeit im Curriculum. Von der mangelnden Breite und Praxisnähe der Kirchenmusiker-Ausbildung ganz zu schweigen.


Dem NGL tut das nicht gut. Was einst als gesungene Enzyklika eines politisch wachen und reformorientierten Christentums teils begrüßt, teils gefürchtet wurde (unvergessen das "Sucht neue Worte, das Wort zu verkünden, neue Gedanken, es auszudenken ..." aus dem Lied "Singt dem Herrn alle Völker und Rassen"), verkommt so zu einer Karikatur von Zeitgenossenschaft. Eine Fahne, die jahrzehntelang geschwungen wurde, verblasst von allein. Irgendwann gehört sie ins Museum oder über die Gräber der Toten. Menschen aber, die unter ihr ein Ziel verfolgen, vermag sie nicht mehr zu sammeln. So wird über dem Feld der Pastoral vielfach - von solchen, die es besser wissen müssten - ein grauer Fetzen gewedelt, der traurig an bessere Zeiten erinnert. Die Erinnerung an den Aufbruch von gestern verkommt zum Sentiment, wenn das Andere, das heute leben und glauben hilft, im Heute nicht entsteht.


Ein beachtenswertes Genre der Musica sacra

Dieses "Andere" gibt es durchaus. Bei Weltjugendtagen (WJT) und den nationalen wie regionalen Ministrantenwallfahrten der letzten Jahre konnte man erleben, wie neue Lieder begeistern können. Von "Jesus Christ, you are my life" (WJT) bis zu "Ich glaub an dich" (Nordwestdeutsche Ministrantenwallfahrt Kevelaer) reicht der Reigen jüngerer Songs, die packen. Eine Klientel, die das Singen unterstützen und befeuern kann, ist vorhanden. Die Zahl der Jugendlichen in katholischen Jugendchören stieg zuletzt auf über 40 000 an. Die werden sich kaum auf Chorliteratur von Berthold Hummel, John Rutter und Co. beschränken wollen. Wer sich bei Chortreffen, wie denen von "Pueri Cantores", unter die Jugendlichen selbst mischt, hört deutlich deren Wunsch nach auch mal anderer Kost, die unter der Hürde des Hochkultur-Schemas liegt.

Dass es gutes und aktuelles Material gibt, bewies 2009 der NGL-Sampler "Liederzünden" (Düsseldorf): 16 Titel, sämtlich nach dem Jahr 2000 entstanden und aus der Werkstatt verschiedener Texter und Komponisten, zeigten die Bandbreite der Szene und den "State of the Art" des Möglichen. Was 50 Jahre zuvor als "SacroPop" begonnen hatte, hat sich längst zu einem beachtenswerten Genre der Musica sacra gemausert.


Musikproduzent und Komponist Dieter Falk (unter anderem ehemaliger Casting-Juror bei Pronahm den Stand der Dinge in musikalischer Hinsicht vor kurzem unter die Lupe. Im Februar letzten Jahres stand das jüngere NGL auf einer Fachtagung mit Diözesanvertretern und Künstlern zur Diskussion und wurde der kritischen Einschätzung durch den Pop-Profi unterzogen. Den Sampler "Liederzünden" hatte Falk, der mehrfach mit Goldenen Schallplatten ausgezeichnet worden ist, aufmerksam abgehört und holte zu einer professionellen Einschätzung aus: überraschend gutes Material, in der Phrasierung der Solostimmen verbesserungswürdig und sich manchmal ambitioniert selber im Wege stehend.

Praktisches fügte Falk hinzu: "Rap sollte immer von Rappern vorgetragen werden, nie von uns Erwachsenen. Ich kann das selber auch nicht. Fragt Jugendliche aus euren Schulen. Da klingt es echt", mahnte er jene Kreativen an, die es riskiert hatten, die ein oder andere Rap-Strophe in ihre Kirchenlieder zu holen. An diesem Beispiel ließ sich auch zeigen, dass es für die Ausdrucksformen (nicht nur des Pop) essenziell ist, jugendkulturelle Stile im Original zu belassen, sie sich also nicht "auf Teufel komm raus" anzueignen. Niemandem ist geholfen, wenn beim gut gemeinten Selbstversuch ein "Rap im Kommunionanzug" herauskommt.

"Was die Gemeinde mitsingen soll, muss sie auch mitsingen können", schrieb Falk den Komponisten ins Stammbuch. Werke von Kathi Stimmer-Salzeder, Alexander Bayer und Thomas Quast bekamen großes Lob des viel gefragten Profis. Falk bescheinigte den aktuellen Schöpfungen des NGL zusätzlich in textlicher Hinsicht Qualität, die es etwa von der Gattung des "Praise & Worship" unterscheidet.


Stärken und Schwächen

Die Atmosphäre bei derartigen Treffen ist konzentriert, konstruktiv und, trotz aller sachlich-deutlichen Kritik, vertrauensvoll. Falk etwa redete denn auch Klartext. Schwer wog seine Diagnose in Bezug auf die Befindlichkeiten der Künstler in einer, nach Falks Wahrnehmung, hierarchisierten und betulichen kirchlichen Praxis: "Ihr habt keine Angst vor Popmusik, ihr habt Angst vor einigen Leuten", hielt er den Teilnehmern den Spiegel vor. Nachdrücklich lud er ein, sich von derlei Hemmungen zu lösen und dem inneren Kompass zu vertrauen. "Wir dürfen sein, was wir sind", rief Falk in die Runde und ergänzte: "Macht mal die Handbremse los!"


Stark ist nach wie vor die gottesdienstliche Bindung des NGL. Zu ihr gehört die liturgietheologische Vergewisserung seiner Autoren. Das theologisch immer noch bemerkenswerte "Singt dem Herrn alle Völker und Rassen" war 1969 vom Liturgiewissenschaftler Hans Bernhard Meyer (Innsbruck) für das Messordinarium getextet worden. Auch in jüngerer Zeit widmen sich Autoren der Reflexion über die liturgische Passung ihrer Lieder. Anlässlich einer überdiözesanen Fachtagung ließen sich NGL-Komponisten im Februar 2009 vom Liturgiewissenschaftler Martin Stuflesser (Würzburg) Feedback zu ihren Werken geben. Dessen Fazit: Zu viele neue Lieder sind unter liturgietheologischer Perspektive fragwürdig. Das Problem ist erkannt, wird vereinzelt bearbeitet, aber durch die leidige Diskussion, wie viel Lied in der Liturgie der Zukunft noch sein darf, eher ausgebremst.

Die Kritik wird aber auch nicht allgemein geteilt. Die Dogmatikerin Johanna Rahner (Kassel) bescheinigt dem NGL ein Jahr später vor nahezu identischem Teilnehmerkreis das Zeug zur Zeitansage. Es sei besser als sein Ruf. Rahner schätzt es als starkes Medium der Glaubenskommunikation: "NGL sind dort in ihren Texten am überzeugendsten, wo sie von authentischem Menschsein sprechen, und dabei jene Ebene ansprechen, die den Menschen immer wieder dort trifft, wo er spürt, dass er in dieser Welt nicht ganz zuhause ist." Rahner sieht durch das NGL die dringend notwendige Sprachfähigkeit zeitgenössischen Christentums befördert.


Nicht in die Quelle spucken

Die Germanistin Christiane Schäfer hingegen nennt allgemein das Kirchenlied eine "erschöpfte Gattung": "Das Potenzial ist ausgereizt, alle Formen, alle Stoffe, alle Tempi, alle Bilder, Symbole, Parabeln und Erzählungen sind 'ausgequetscht' seit langem." Das aber ist kein NGL-spezifisches Problem. Für die Hüter des klassischen Kirchenliedes gelten die 250 Jahre von der Reformation bis ins späte 18. Jahrhundert als "Goldenes Zeitalter" (Schäfer) der Gattung. Dem Genre NGL bescheinigt die Wissenschaftlerin aus dem Umfeld der Hymnologieforschung gleichwohl, mutiger Aufbruch und Ausbruch zu sein. Seine Schwächen leugnet sie nicht. Aber Texter wie beispielsweise Thomas Laubach (Moraltheologe), Eugen Eckert (Hochschulpastoral), Kathi Stimmer-Salzeder (Hausfrau) und Gregor Linßen (einziger hauptberuflicher Texter beziehungsweise Komponist in diesem Quartett) stünden neben der einen oder anderen Stilblüte immer wieder auch für ebenso innovative wie biblisch und geistesgeschichtlich fundierte Kompositionen.


Es gibt eine Tendenz, das Kirchenlied respektive seine Liebhaber zu strapazieren. Dies rührt nicht zuletzt aus dem theologischen Anspruch und Selbstverständnis der Musica sacra, als Verwandte der "Musica coelestis" höchsten Ansprüchen genügen zu wollen. Diese an sich nachvollziehbare Haltung wird jedoch zur ideologischen Scheuklappe, wenn sie im Effekt viele aussortiert und nur noch wenige einlädt. Was helfen soll, dem Gemeindegesang gutes Liedermaterial heranzubilden, verkommt zu einer Haltung der Zensur. Nun gibt es zwar keinen Protagonisten aus der Szene rund um das NGL, der überliefertes Liedgut durch neues ersetzen will; vielmehr geht es um eine Ergänzung. Kirchenmusiker aber, die das NGL "exkommunizieren" wollen und sich erst gar nicht damit abgeben, gibt es einige. Ein Kölner Organist forderte einmal emphatisch, man müsse die Neuen Geistlichen Lieder alle "totschlagen".


Wer Neues wagt und dabei die Grenzen der Hochkultur nicht achtet, der hat es bisweilen schwer und muss zur Demut vor Kollegen bereit sein. Es gibt bei nicht wenigen Agenten der institutionell verfassten Musica sacra hierzulande eine Lust am Mokieren, die von außen betrachtet schwer nachvollziehbar ist. Kirchenmusiker, die es besser wissen könnten, belächeln neue Lieder (die sie meist gar nicht kennen) pars pro toto als billiges Material, das die Mühe nicht lohnt. Oder sie beargwöhnen apodiktisch jede Synkope als "unsingbar", eine Behauptung, die durch die Praxis längst widerlegt ist. Die oft schlappe popularmusikalische Kompetenz, die aus einer mangelhaften Ausbildung resultiert, rächt sich, wenn der (nur) klassisch ausgebildete Organist jedes NGL rhythmisch zum "Rumtata" einer Gaudi einebnet, wie wir sie an Amsterdamer Drehorgeln durchaus schätzen. Solcherart angerichtet und hingerichtet wird der apostrophierte "Tod des NGL" zur "selffullfilling prophecy" einiger Stimm(ungs)führer und in popularkulturellen Belangen defizitär ausgebildeter Kirchenmusiker.

Es liegt aber auch an verpassten Chancen, im geeigneten Augenblick Neues nahezubringen: Enttäuschend fällt etwa der Ertrag der Weltjugendtage aus. 2008 in Sydney beschallte man die zum stummen Zuhören verdonnerte Gemeinde mit einem bombastischen Klassik-Pop-Mix. Mitsingen war unmöglich, ähnlich wie beim WJT 2005 in Köln. Der hielt zwar durchaus lohnendes Material bereit, das die auf dem Marienfeld versammelte (Groß-)Gemeinde aber nicht einüben durfte.


Am NGL kondensiert sich beispielhaft die Diskussion um den Gottesdienst der Kirche

Im Editorial einer der wenigen kirchenmusikalischen Zeitschriften des deutschen Sprachraums liest sich die hochgezogene Augenbraue in Formulierungen wie dieser schon mit: "Ziel war es, (...) Jugendliche (...) wieder in die Kirche zu locken." Derlei Fehlinterpretation wird gekoppelt an eine Warnung vor dem gesellschaftlichen "Jugendwahn". Vom spirituellen Potenzial popularkultureller Idiome kein Wort!


Dabei stimmt die Akzentsetzung einfach nicht. Wenn es offiziell wird im deutschen Katholizismus, klingt es irgendwie (fast) immer wie von einem anderen Stern. Das sollte man nicht mit der Musica coelestis verwechseln. Wie die klingt, kann kein Sterblicher zu Lebzeiten wissen. Da passt es aber ins Bild, dass manche mittlerweile der Liturgie eine "Alterität" abfordern, die sich in musikalischer Hinsicht von der Welt vor allem abheben müsse, um das Heilige als das Andere sinnfällig zu machen. Das Alteritäts-Konzept aber ist theologisch umstritten und fragwürdig. So kondensiert sich am Kirchenlied beziehungsweise dem NGL beispielhaft die Diskussion um den Gottesdienst der Kirche.

Wie weiter? Neue Lieder entstehen von allein. Und zwar nicht, weil man mit ihnen als klingender Leimrute Leute in die Kirche locken will, sondern weil einige kreative und begabte Christen nicht anders können, als ihren Glauben auf diese Weise auszudrücken. Kirchenmusiker sind darunter (Karl-Bernhard Hüttis, Martin S. Müller), Juristen (Thomas Quast), Pastoralreferenten und Pastoralreferentinnen (Stephanie Dormann, Robert Haas), Ordensleute (Norbert Becker). Zudem sind Jugendchöre und Kirchen-Bands derzeit gefragt.

Die These von der singfreien Gesellschaft ist für den Raum der Kirchen widerlegt. Wo den Menschen - unter anderem durch gute Animation - geholfen wird zu singen, singen sie gern. Menschen brauchen nicht nur Musik, die sie anhören können. Sie greifen auch gern auf Lieder zurück, mit denen sie selber singend ihr Leben in "Ein-Klang", sich mit anderen in Gemeinschaft, nicht zuletzt eben auch in Harmonie (Zusammenklang) bringen können. Das Gebet vieler, längst nicht nur junger Menschen, ist gerade "singendes Gebet". Und wir sind in unserm Glauben auch angewiesen auf Lieder, die uns singen lassen, was wir (noch) nicht sagen können. So manche Katechese singt sich eher ins Ohr und ins Herz, als dass sie sich gesprochen lernen lässt.

Dabei wird das NGL von den meisten Gottesdienstteilnehmern als eine wichtige Facette der Kirchenmusik geradezu erwartet. Als die "Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz" die Motive der Pilger beim WJT abfragte, wurde der Wunsch, "neue Lieder kennen zu lernen", von den Jugendlichen überraschend deutlich benannt. Eine noch jüngere Untersuchung der Liturgischen Konferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bestätigte diese Einschätzung. Sie zeigte auch, dass klassisches Kirchenlied und NGL von den normalen Kirchgängern als ebenbürtig gewertet und gewünscht werden. Dieser Wunsch geht zudem durch alle Generationen.


Das NGL wie das traditionelle Kirchenlied sind bei jenen, die Gottesdienste aufsuchen, "milieugängig". Die so genannten Sinus-Milieu-Studien haben im Übrigen auch gezeigt, dass insbesondere Jugendliche problemlos zwischen mehreren Stilen "switchen" können und wollen. Wer in der Clique auf HipHop steht, wird in der Kirche durchaus Taizé-Gesänge oder NGL schätzen. Aber gut dargeboten muss es sein; die "Performance" muss stimmen. Nicht auf Deckungsgleichheit kommt es an. Es besteht also kein Grund, sich als pastoraler Mitarbeiter in musikalischen Belangen zu verstellen. "Ankommen" kann ich nur als Original, nicht als schlechte Kopie fremden Geschmacks.

Esperanto, das alle Milieus und Gruppen gleichermaßen anspricht, ist auch das NGL nicht und kann es gar nicht sein - so wenig wie Gregorianik oder die "Pfälzer Kindermesse". Die Chancen, mit dem NGL in der Kirche kaum anzutreffende Milieus zu erreichen, schätzt etwa der Bielefelder Soziologe Thomas Blank gering ein: "Man erreicht vornehmlich jene, die auf einer Wellenlänge sind." Der Sohn eines Kirchenmusikers behauptet sogar: Als strukturierte Musik stellen Lieder, gleich welchen Genres, per se eine Ordnung dar. Die aber wirke auf die einen wie eine unliebsame Uniform, für andere sei sie wichtiges Medium, um im Leben zur nötigen Kohärenz zu finden. Jedes Singen sei per se riskant. Blank fordert, die Menschen singen zu lassen, was ihnen gut tut. Aber: "Das permanente Singen von Liedern, die zwingen zu imitieren, was ich nicht bin, macht krank." Was bei Opernsängern zu beobachten sei, die nämlich krank mache, wenn sie ihre Partien als Entfremdung erlebten, stellte Blank auch grundsätzlich für das Kirchenlied fest: "Es ist ein mächtiges Werkzeug der Selbstgestaltung und Gemeinschaftsstiftung. Aber wie jedes Werkzeug kann man auch Kirchenmusik missbrauchen, um Menschen von sich zu wegzuführen."


So gesehen, stellen sich an die Theologie des Gottesdienstes und die Musica sacra kritische Rückfragen. Solange unsere Musiktheologie die Erhebung der Seele mehr behauptet, als unter Zuhilfenahme von musikpsychologischen und -soziologischen Erkenntnissen der individuell vielfältigen spirituellen Kraft von Musik nachzugehen, wird sich an der "Kirchen-Musik" nichts ändern.


Derzeit existiert Verschiedenes recht gut nebeneinander

Als Lied konkreter, nicht idealisierter Menschen, die glauben (möchten) und sich in der Glaubensgemeinschaft auferbauen wollen, und als Lied, das eine konkrete Anwendersituation gestalten hilft, wird es das NGL weiter geben. Es hilft, im Gottesdienst von dem zu singen, was bewegt. Und auch von dem, der bewegt. Wo Kirche spirituell vital ist, entstehen dazu auch die passenden Lieder und Genres. Die kann man nicht diktieren. Derzeit existieren verschiedene Stilgeschwister recht gut nebeneinander. In einem Gegeneinander profitiert keiner. Am wenigsten jene, die Lieder brauchen wie das täglich Brot. Nahrhaftes gäbe es genug, aber die Gemeinden werden lieber an schlechtes Handwerk gewöhnt. Nur wenige Kirchen hierzulande verfügen etwa über eine Beschallungstechnik, die Popularmusik adäquat im Kirchenschiff erklingen lässt. Wir würden es uns nicht gefallen lassen, wären unsere Kirchenorgeln derart behindert.

Aber immer weniger Menschen lassen sich derlei bieten. Spätestens die Sinus-Studien sollten uns gelehrt haben, wie sehr wir allein durch die selbstreferenzielle und mickrige Ästhetik unserer Gottesdienste viele Menschen vertreiben oder verpassen. Statt hier konzentriert Abhilfe zu schaffen, beispielsweise in der Aus- und Fortbildung unserer Mitarbeiter, wird zur Erklärung der Symptome von einer "Gotteskrise" geredet. Den Menschen, die nicht (mehr) erreicht werden, wird im gleichen Atemzug vorgeworfen, sie selber - dem Konsumismus, Egoismus, Relativismus verfallen - seien das Problem. So musiziert man sich mit Scheuklappen durchs selbst fabrizierte Dunkel. Bleibt, auf den nächsten Ostermorgen zu hoffen!


Peter Hahnen, promovierter Theologe und Kulturmanager, legte 1998 die bislang einzige katholisch-theologische Dissertation zum Neuen Geistlichen Lied vor. Der ehemalige Dramaturgie- und Regieassistent koordiniert die jährliche überdiözesane "Fachtagung NGL". Er war Berater für das Jugendfestival beim WJT 2005 und Vorsitzender der Kommission Musik-Theater-Kleinkunst beim Ökumenischen Kirchentag 2003. Von ihm liegen zahlreiche Beiträge zu Spiritualität, Musik, liturgische Bildung und Kulturarbeit vor.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 4, April 2012, S. 181-186
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2012