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FORSCHUNG/366: Die dunkle Seite des Universums (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Herbst 2008
Ruhr-Universität Bochum

Dunkle Materie schließt die Lücke zwischen Modell und Beobachtung
Die dunkle Seite des Universums

Von Ralf-Jürgen Dettmar


Die Kluft zwischen theoretischem Modell und tatsächlicher Beobachtung in der Astronomie lässt sich nur mit der rätselhaften "dunklen Materie" und der noch mysteriöseren "dunklen Energie" schließen. Untersuchungen von Galaxien am Lehrstuhl für Astronomie der Ruhr-Universität bestimmen die Verteilung der dunklen Materie in solchen Objekten und erlauben so Rückschlüsse auf die "dunkle Seite des Universums".


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Eigentlich erwartet man von Astronomen und Astrophysikern, dass sie das Licht von Sternen und Galaxien analysieren, um die Materie im Universum zu untersuchen. Doch seit einigen Jahren setzt sich die Erkenntnis durch, dass es bisher unsichtbare Bestandteile sind, die das Schicksal des Universums bestimmen.

Bei der Untersuchung der Geschichte des Kosmos hilft den Astronomen ausgerechnet die schwächste der Grundkräfte der Natur: die Gravitation. Erst auf großen, "astronomischen" Entfernungen wird diese Kraft dominant. Diese Entfernungen und die ungeheuren Massenansammlungen in Galaxien mit 100 Millionen Sonnenmassen und in Galaxienhaufen mit Tausenden solcher Galaxien erlauben es, den Einfluss der Gravitation auf die Entwicklung des Kosmos zu untersuchen.

Die theoretische Grundlage dafür ist seit fast 100 Jahren mit der Einstein'schen Allgemeinen Relativitätstheorie gelegt. Sie ermöglicht es, den Einfluss der Materie auf die Form des Raums zu beschreiben. Mit der Entdeckung der kosmischen Expansion an Hand der Fluchtgeschwindigkeit der Galaxien in den 1920er Jahren haben sich daraus schnell die Grundkonzepte der modernen Kosmologie mit der zentralen Vorstellung eines Urknalls entwickelt. Auf den nächsten entscheidenden Durchbruch musste man dann bis in die Mitte der 1960er Jahre warten: der Nachweis der sog. 3K-Mikrowellen-Hintergrund-Strahlung durch Arno Penzias und Robert W. Wilson. Diese nobelpreisgekrönte Messung (1972) konnte einerseits als Bestätigung der Urknall-Hypothese angesehen werden - aus ihr wurde die Hintergrundstrahlung schon lange vorhergesagt - andererseits wurden auf dieser Entdeckung aufbauend die Vorstellungen von der Entwicklung des Universums wesentlich detaillierter.

Die Vorstellung von der Entwicklung des Universums wurde wesentlich detaillierter.

Die physikalischen Bedingungen zum Zeitpunkt der Entstehung der Hintergrundstrahlung, wie Temperatur und Dichte, sind allein durch die Gesetze der Atom- und Plasmaphysik bestimmt und deshalb gut bekannt. Das nach dem Urknall expandierende Universum kühlt diesen Regeln folgend ständig ab. Die Temperatur war ca. 380.000 Jahre nach dem Urknall auf unter 3.000 Kelvin (ca. 2700 °C) gefallen - ein wichtiger Moment. Denn bei dieser Temperatur war die thermische Bewegungsenergie der bisher nur getrennt bestehenden Atombausteine so gering, dass Elektronen von Protonen eingefangen wurden, um erstmals Wasserstoff-Atome - und mit einem Anteil von zehn Prozent auch Helium-Atome - zu bilden. Bei dieser so genannten Rekombination wird Energie frei: Die Planck'sche Temperaturstrahlung des zuvor voll ionisierten, d.h. nur aus den atomaren Bausteinen bestehenden Gases wird freigesetzt. Diese Strahlung lässt sich, wegen der Expansionsgeschwindigkeit zu langen Wellenlängen verschoben ("rot verschoben" s. Info 1), als Mikrowellenhintergrundstrahlung bis heute beobachten.


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Rotverschiebung

Die Expansion des Raums führt dazu, dass auch alle elektromagnetischen Wellen wie Licht- oder Radiowellen auseinandergezogen werden; ihre Wellenlängen werden also entsprechend der Raumausdehnung stetig größer. Wird z.B. ursprünglich blaues Licht ausgesandt, so wird es zu einem späteren Zeitpunkt als rotes Licht empfangen - daher der Begriff "Rotverschiebung". Die Rotverschiebung z wird aus der Wellenlängenverschiebung im Vergleich zur ursprünglich ausgesandten Wellenlänge bestimmt. Dies ist in astronomischen Objekten recht genau durch Spektrallinien atomarer Übergänge möglich. Die Rotverschiebung eines Signals ist ein Maß für die Ausdehnung des Raums seit der Aussendung. Dabei gilt, dass sich der Raum um einen Faktor a ausgedehnt hat, wenn die Rotverschiebung 1+z beträgt. Beobachten wir also in einer Galaxie Spektrallinien mit einer Rotverschiebung von z=1 (atomare Spektrallinien haben sich dann z.B. von einer Wellenlänge von 500 nm auf 1000 nm verschoben), dann hat sich die Ausdehnung des Universums verdoppelt (a=2), seit dem das Licht ausgesandt wurde. Die 3K kosmische Hintergrundstrahlung wurde ausgesandt, als das Universum nur ca. ein Tausendstel seiner heutigen Ausdehnung hatte.


Der nächste wesentliche Durchbruch bei der Entstehung der heutigen kosmologischen Ideen war die Verfügbarkeit von Hochleistungscomputern in den 1980er Jahren. Mit numerischen Verfahren ist es seither möglich, die Entwicklung des Kosmos mit dem Rechner zu simulieren. Dazu wird die Entwicklung eines kosmischen Volumenelements über das Entwicklungsalter des Universums verfolgt, um aus den Anfangsbedingungen - jetzt festgelegt durch den Zustand zum Zeitpunkt der Rekombination - schließlich ein Modell des heute beobachtbaren Weltalls zu erhalten.

Aus solchen Simulationen wurde schnell klar, dass die Gravitationswirkung aller in einem typischen Raumvolumen erfassten Objekte nicht ausreichen kann, um die heutige Materieverteilung in Galaxien, in Galaxienhaufen und in den Filamenten (Verästelungen) von Galaxienhaufen zu erklären.

Zur gleichen Zeit wurden bei Messungen der Bewegungsverhältnisse von Gas und Sternen in Galaxien unerwartet hohe Geschwindigkeiten gefunden. Als Beispiel kann die Rotation von Scheibengalaxien wie unserer Milchstraße dienen. Die daraus resultierende Fliehkraft balanciert die anziehende Wirkung der konzentrierten Masse, so dass unsere Milchstraße nicht weiter kollabiert. Da mehr Masse eine stärkere Gravitation bedeutet und je stärker die Gravitation desto schneller die Bewegung ist, führte die Beobachtung sehr hoher Rotationsgeschwindigkeiten zu dem Schluss, dass sehr große Massen wirken müssen - mehr als man beobachten kann. Um eine Galaxie wie unsere eigene gravitativ zu stabilisieren, wird eine etwa zehnmal größere Masse benötigt, als man an Sternen und interstellarem Gas beobachten kann. Die Existenz von Galaxien lässt sich also nur durch die Annahme eines sehr großen Anteils nicht sichtbarer, aber gravitativ wirkender Materie erklären.

Eines der größten Rätsel der heutigen Physik: Die Natur der "dunklen Materie"

Als auch die Untersuchung von Galaxienhaufen durch unterschiedliche Methoden zu dem Ergebnis kamen, dass man wohl einen hohen Anteil der gravitativ wirkenden Materie nicht direkt beobachten kann, wurde die Hypothese der Existenz einer "dunklen Materie" als wesentlicher Bestandteil des Universums auf allen Längenskalen unausweichlich. Ungeklärt bleibt dabei bis heute die Natur dieser "dunklen Materie", eines der größten Rätsel der heutigen Physik.

Die Einbeziehung dieser dunklen Materie erlaubt der theoretischen Astrophysik deutlich verbesserte Modelle für die Entwicklung der Strukturen im Universum. So wurde vorhergesagt, dass die durch die gravitative Wirkung der dunklen Materie hervorgerufene Klumpung in der "Ur-Materie" schon in der Mikrowellenhintergrundstrahlung sichtbar sein sollte. Der COBE (COsmic Background Explorer)-Satellit der NASA konnte diese Klumpung als Temperaturfluktuationen dann tatsächlich 1992 beobachten (auch diese Messung wurde 2006 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet).

Die Experimente zur Messung der Hintergrundstrahlung wie auch die numerischen Simulationen haben sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt (s. Abb. 2a). Von der für Anfang 2009 startbereiten europäischen Planck-Raumsonde erwarten wir einen weiteren Fortschritt in der hochpräzisen Vermessung der Hintergrundstrahlung. Auch die kosmologischen Modellrechnungen haben sich in den letzten Jahren wesentlich verbessert (s. Abb. 2b).

Doch wie gut stimmen die Vorhersagen mit den tatsächlich beobachtbaren Eigenschaften der Materieverteilung im Universum überein?

Um diese Frage zu beantworten, muss man möglichst viel über die Verteilung der uns bekannten normalen, so genannten baryonischen Materie wissen, aus der alle Atome und damit Objekte wie Planeten und Sterne bestehen. Denn nur diese Materie ist beobachtbar und bewegt sich fast wie Probeteilchen im Gravitationspotential der dunklen Materie. Ursprünglich hat man natürlich auch an dunkle baryonische Materie als unbekannte Quelle der zusätzlichen Gravitationskraft gedacht, die aus ausgebrannten Sternen wie Neutronensternen, schwarzen Löchern oder auch vielen unentdeckten Planeten oder ganz schwach leuchtenden Sternen, sog. braunen Zwergen, bestehen könnte. Doch dieser Hypothese von "dunklen Baryonen" stehen andere Beobachtungen entgegen und sie konnte letztlich die zusätzlich benötigte Massenanziehung und insbesondere ihre Verteilung nicht erklären. So hätten ausgebrannte alte Sterne viel mehr schwerere chemische Elemente während ihres Kernbrennens erzeugen müssen, als man im Universum beobachtet, und auch die benötigte große Anzahl an braunen Zwergen hätte sich inzwischen durch ihre gravitative Wirkung nachweisen lassen müssen.

Die Suche nach leuchtschwachen Objekten, die zur Gesamtmasse beitragen, hat aber durchaus zu Entdeckungen neuer Phänomene geführt. So sind u. a. Galaxien gefunden worden, deren zentrale Flächenhelligkeit viel schwächer als der Nachthimmel hell ist. Diese Objekte werden Low Surface Brightness (=Galaxien mit niedriger Flächenhelligkeit) oder LSB-Galaxien genannt. Beobachtungen solcher Galaxien zeigen die große Bedeutung der modernen Messtechnik: Selbst normale Galaxien wie unser Milchstraßennachbar M31, der Andromedanebel, sind nur wenig heller als der Nachthimmel. Für die Messung bedeutet dies, dass man in einem Bildelement einer Teleskop-Kamera genauso viele Photonen vom Nachthimmel empfängt wie von der Galaxie. Die hellsten Stellen in LSB-Galaxien leuchten nun bereits viel schwächer als der Nachthimmel und die Nachweisgrenze (ein Tausendstel der Nachthimmelshelligkeit) ist zurzeit durch die Messgenauigkeit begrenzt. Will man nun also wissen, wie viel baryonische Materie in allen Galaxien vorhanden ist, so muss man die Helligkeitsverteilung aller Galaxien bestimmen und gewichtet mit einer typischen Masse pro beobachteter Leuchtkraft aufsummieren.

Die kosmologischen Simulationen sagen eine starke Konzentration der dunklen Materie in den Galaxienzentren voraus

Seit mehreren Jahren versuchen wir, solche Häufigkeitsverteilungen von Galaxien zu bestimmen. Dazu nutzen wir sehr sensitive Himmelsaufnahmen, die an Observatorien mit besten Beobachtungsbedingungen, wie z.B. der Europäische Südsternwarte ESO oder dem Cerro Tololo Interamerican Observatory CTIO in Chile gewonnen werden. Stickstoff-gekühlte CCD-Kameras mit z.B. 16 Millionen Bildelementen können auf einer Himmelsfläche von Vollmond-Durchmesser Objekte nachweisen, die tausendmal schwächer leuchten als der Nachthimmel (Abb. 3). Die konkrete Aufgabe besteht darin, auf diesen Bildern durch Mustererkennungs-Algorithmen Objekte von Interesse zu identifizieren und dann deren Eigenschaften zu messen. Auf solchen digitalen Bildern, die ursprünglich mit verschiedenen Farbfiltern aufgenommen wurden, konnten wir durch die Anwendung von Programmen, die im Rahmen eines BMBF-Verbundforschungsprojekts entwickelt wurden, etliche neue LSB-Galaxien entdecken. Dabei haben wir auch die Flächenhelligkeit der LSB-Galaxie mit dem bisher leuchtschwächsten Zentrum bestimmt (Abb. 3).


Der Vergleich der aus unseren Messungen abgeleiteten Helligkeitsverteilung mit den wenigen vorhandenen Literaturbeispielen (Abb. 4) zeigt die noch bestehenden Unsicherheiten durch Auswahleffekte bei der Stichprobenbestimmung aufgrund der schwierigen Messtechnik. Doch auch unter der Annahme, dass der stärkste mögliche Anstieg der Anzahl der leuchtschwachen Objekte pro Volumen zutrifft (s. Abb. 4), tragen diese Objekte trotzdem nicht wesentlich zur fehlenden Masse bei.

Anzahl von LSB-Galaxien

Abb. 4: Messergebnisse verschiedener Forschergruppen zeigen, dass die Häufigkeit der gefundenen Galaxien mit schwacher Flächenhelligkeit mindestens so groß oder sogar größer ist als die heller Galaxien. Die rote Kurve zeigt die Annahme der Häufigkeitsverteilung in den 1970er Jahren, als es noch nicht möglich war, schwach leuchtende Galaxien zu detektieren.


LSB-Galaxien haben sich aber noch aus einem anderen Grund als astrophysikalisch höchst interessante Objekte herausgestellt: Die Bestimmung ihrer Rotationsbewegung führt zu dem Schluss, dass sie einen sehr hohen Anteil dunkler Materie haben. Dies verbindet LSB-Galaxien mit sog. Zwerggalaxien. Bei den "Zwergen" unter den Galaxien ist zwar nicht die zentrale Flächenhelligkeit, sondern die Gesamtleuchtkraft gering, aber bei den daraus resultierenden geringen baryonischen Gesamtmassen macht sich der Gravitations-Einfluss der dunklen Materie in ihren Zentren besonders stark bemerkbar. Und in diesen zentralen Bereichen der Galaxien stimmen die oben erwähnten kosmologischen Simulationen nicht mit den Beobachtungen überein!

Mit unserer baryonischen Materie kennen wir nur etwa fünf Prozent des Universums wirklich

Die kosmologischen Simulationen sagen eine starke Konzentration der dunklen Materie in den Galaxienzentren ("cusp") voraus, während die Bestimmung der Massenverteilung aus der Rotationsbewegung auf eine eher flache Verteilung ("core") schließen lässt (Abb. 5). Dieses Beispiel ist charakteristisch für den derzeitigen Stand des Vergleichs zwischen kosmologischen Modellen und Beobachtungen. Während auf den großen Längenskalen von 10 oder 100 Millionen Lichtjahren (auf den Skalen von Galaxienhaufen und größer) Theorie und Beobachtung sehr gut übereinstimmen, gibt es deutliche Diskrepanzen bei genauerem Hinsehen, also auf den kleinen Skalen von 10.000 oder 100.000 Lichtjahren. Gerade die "core-cusp"-Diskrepanz wird in der astrophysikalischen Literatur zur Zeit heftig diskutiert. So vertreten einige Forscher den Standpunkt, dass die Nachweise eines "core"-Profilverlaufs auf systematische und methodische Fehler zurückzuführen seien. Die meisten dieser Einwände konnten aber in den letzten Jahren bereits widerlegt werden.

Masseverteilung in Theorie und Beobachtung

Abb. 5: Computersimulationen der Dichteverteilungen der dunklen Materie sagen eine starke Konzentrierung von Masse in Galaxienzentren (am Nullpunkt des Radius) voraus (cusp). Aufgrund der beobachteten Geschwindigkeitsverteilungen in Galaxienzentren wird jedoch auf eine viel flachere Verteilung geschlossen (core).


Ein Einwand jedoch hatte noch Bestand: Die Herleitung der Masseverteilung setzt die genaue Kenntnis der Rotationsgeschwindigkeit im Zentrum der Galaxie voraus. Ist die Masseverteilung aber nicht ideal punktsymmetrisch, so kann es zu Abweichungen von der Kreisbewegung kommen, die letztlich das stark konzentrierte Potential der dunklen Materieverteilung verwaschen erscheinen lassen würden. Um diesen Einwand zu untersuchen, wurde in einer Bochumer Doktorarbeit die Bewegung des interstellaren Wasserstoffgases in einer Reihe von Galaxien analysiert. Neutraler Wasserstoff in Galaxien lässt sich sehr gut durch eine atomare Spektrallinie bei Radiowellen von 21 cm Wellenlänge beobachten. Will man bei diesen großen Wellenlängen aber noch Details der Bewegungsverhältnisse in Galaxien auf kleinstem Raum unterscheiden, muss man ein Radiointerferometer benutzen (Abb. 6).

Abb. 6: Radiointerferometer wie das Australia Telescope Compact Array in Narrabri (NSW/Australien) erlauben die Untersuchung der Kinematik von interstellarem Gas mit guter räumlicher Auflösung. Im Brennpunkt der einzelnen Spiegel befinden sich Detektoren für verschiedene Wellenlängenbereiche.


Dabei werden mehrere Teleskope so zusammengeschaltet, dass die maximal erreichbare Auflösung durch den größten Teleskopabstand bestimmt wird. Um nun Abweichungen von der Kreisbahnbewegung zu bestimmen, haben wir im Rahmen einer internationalen Kollaboration die gemessenen Geschwindigkeitsfelder ausgewählter Galaxien im Detail modelliert. Dabei konnten wir sehr geringe Bewegungskomponenten in radialer Richtung nachweisen (Abb. 7). Gerade bei den leuchtschwächeren Galaxien haben wir aber keine ausreichende zusätzliche Geschwindigkeitskomponente gefunden, die eine mögliche "cusp"-Verteilung der dunklen Materie einfach als verschmierten "core" erscheinen ließe: Wir schließen daher aus, dass es Bewegungen gibt, die den von der Theorie geforderten "cusp" nur verschwommen als "core" erscheinen lassen.

Abstand zum Frühlingspunkt

Abb. 7: Das Geschwindigkeitsfeld des neutralen Wasserstoffgases (oben links) am Beispiel der Galaxie NGC3198. Die große Ausdehnung des Wasserstoffgases wird im Vergleich zur Verteilung der Sterne (unten links) deutlich. Bei reinen Kreisbahnbewegungen des Gases um das Galaxienzentrum würde man die oben rechts gezeigte Geschwindigkeitsverteilung erwarten. Aus dem Differenzbild (unten rechts) können Abweichungen von der Kreisbahnbewegung genau bestimmt werden.


Damit bleiben bezüglich des "cusp-core"-Problems Theorie und Beobachtung im Widerspruch. Dieses Ergebnis wird auch durch die Ergebnisse einer weiteren Doktorarbeit am Bochumer Lehrstuhl für Astronomie bestätigt, die ebenfalls die Geschwindigkeitsfelder des neutralen Wasserstoffs nutzt, diesmal jedoch, um die Massenbeiträge der verschiedenen Komponenten über die gesamte Scheibe von Zwerggalaxien zu bestimmen (Abb. 8). Da der Anteil der dunklen Materie in diesen Galaxien beträchtlich ist, hat ihre angenommene Modellverteilung auch erheblichen Einfluss auf die Beschreibung der gesamten Rotationskurve. Der Vergleich zweier Modellannahmen - einerseits für eine cusp-, andererseits für eine core-Verteilung - zeigt eine deutlich bessere Anpassung an die Beobachtung im Fall der flachen core-Verteilung.

Abgleich zwischen Theorie und Beobachtung

Abb. 8: Verschiedene Modelle für die Masseverteilung in Zwerggalaxien zeigen eine bessere Übereinstimmung mit den beobachteten Rotationskurven (rot), wenn eine "core". Verteilung der dunklen Materie angenommen wird. Die einzelnen Beiträge zur Gesamtrotation (durchgezogene Linie) kommen von den Sternen (⋅-⋅-⋅-), dem interstellaren Gas (⋅⋅⋅⋅⋅) und der dunklen Materie (- - -).


Diese Diskrepanz zwischen Beobachtung und Theorie bietet uns in der Zukunft vielleicht die Möglichkeit, etwas über die Natur der dunklen Materie zu lernen.

Da die Beschreibung der kosmischen Strukturentwicklung unter der Annahme der dunklen Materie auf großen Längenskalen so erfolgreich ist und die Wirkung der dunklen Materie auch durch die von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagte Lichtablenkung nachgewiesen wird, gilt sie als fester Bestandteil unserer heutigen "Standard-Kosmologie". Diese musste jedoch in den letzten Jahren gleich nochmals erweitert werden.

Durch Messungen der Entfernungen zu weit entfernten Objekten ist die zeitliche Entwicklung der Expansion des Universums genauer bestimmt worden (s. Info 2). Die Ergebnisse lassen sich nur durch eine beschleunigte Expansion erklären, die man durch eine zusätzliche - zunächst aber hypothetische - "Druckkraft" erklärt, die sog. "dunkle Energie".

Schaut man sich jetzt die verschiedenen Bestandteile an, die eine Wirkung auf den zeitlichen Verlauf und die Struktur des Universums haben (Abb. im Info), so stellt man fest, dass wir mit unserer baryonischen Materie nur ca. fünf Prozent des Universums wirklich kennen. Die restlichen 95 Prozent liegen für die Physik zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch völlig im Dunkeln.

Mit einer großen Anzahl verschiedener Techniken versuchen deshalb sowohl Astrophysiker wie auch Elementarteilchen-Physiker die Eigenschaften der dunklen Materie zu bestimmen. Dazu soll u.a. in Zukunft die genauere Kartierung der Gravitationswirkung im Universum durch neue Teleskope dienen, während in den irdischen Laboren die Suche nach bisher unbekannten Elementarteilchen weitergeht, die hinter der dunklen Materie vermutet werden.


Prof. Dr. Ralf-Jürgen Dettmar, Astronomie, Fakultät für Physik und Astronomie


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Noch mysteriöser: Dunkle Energie

Aus der vom WMAP-Satelliten gewonnenen Himmelskarte der kosmischen Hintergrundstrahlung (s. Abb. 2a) konnte noch eine weitere Größe von kosmologischer Bedeutung bestimmt werden: die Krümmung des Universums. Dabei ergibt sich, dass unser Kosmos einer "flachen" Geometrie genügt. Die beobachtete Gesamtmasse aus dunkler und baryonischer Materie reicht aber zur Erklärung dieser Geometrie nicht aus, vielmehr muss es neben der dunklen Materie noch einen weiteren Beitrag geben, der die Raumkrümmung beeinflusst. Durch die neuen Großteleskope sind zudem in den letzten zehn Jahren Entfernungsmessungen zu sehr entfernten Galaxien möglich geworden. Die dabei gemessenen, überraschend großen Entfernungen kann man am besten durch ein Universum beschreiben, dass seit ein paar Milliarden Jahren beschleunigt expandiert. Diese Beobachtungen eines "flachen" Universums mit beschleunigter Expansion passen sehr gut zu den verallgemeinerten kosmologischen Modellen der Einsteinschen Relativitätstheorie, in der eine so genannte kosmologische Konstante auftritt. Diese kosmologische Konstante kann als Druck interpretiert werden, der die Beschleunigung der Expansion auslöst und dessen Gesamtenergie zur Raumkrümmung beiträgt. Dieser Anteil am Inhalt des Universums wird "dunkle Energie" genannt und ist noch mysteriöser als die "dunkle Materie". Die Abbildung zeigt mehrere kosmologische Modelle anhand des zeitlichen Verlaufs der Expansion des Universums. Sie unterscheiden sich durch die verschiedenen Beiträge von dunkler und baryonischer Materie und durch entsprechende Anteile der dunklen Energie. Nach den oben beschriebenen Beobachtungen wird unser Universum heute am besten durch das Modell der roten Kurve beschrieben.

Zeit in Milliarden

Aus der Gesamtmasse des Universums ergibt sich nach der allgemeinen Relativitätstheorie der zeitliche Verlauf seiner Expansion. Bis vor zehn Jahren wurden vorwiegend die unteren drei Weltmodelle diskutiert. Dabei stellt die orange Kurve ein "geschlossenes" Universum, die blaue Kurve ein offenes "gekrümmtes" Universum dar. Aus den heutigen Messwerten ergibt sich die rote Kurve einer beschleunigten Expansion in einem "flachen" Universum.


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Mehr Informationen im Internet

Die an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführten Untersuchungen an LSB-Galaxien und zum Beitrag der dunklen Materie zur Rotation von Galaxien basieren auf den Doktorarbeiten von Janine van Eymeren, Lutz Haberzettl und Clemens Trachternach. Diese Arbeiten wurden durch den DAAD und die DFG bzw. durch die BMBF Verbundforschung gefördert. Zu den Messungen des WMAP-Satelliten und zu den daraus abgeleiteten kosmologischen Zusammenhängen stehen weitere Informationen mit Animationen auf den Seiten des NASA-WMAP-Teams unter http://www.wmap.nasa.gov.

Beispiele für kosmologische Simulationsrechnungen, ebenfalls auch mit Animationen, finden sich auf den Seiten des Max-Planck-Instituts für Astrophysik:
http://www.mpa-garching.mpg.de/galform/data_vis


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. 1: Seit Jahrhunderten beobachten Forscher den Kosmos anhand des Lichts. Erst seit neuestem rücken die unsichtbaren Bestandteile in den Fokus.

Abb. 2a: Die Kartierung der kosmischen Hintergrundstrahlung am gesamten Himmel des WMAP (Wilkinson Mikrowave background Anisotropy Probe)-Satelliten der NASA zeigt geringe Temperaturunterschiede (rot=warm, blau=kalt) von 1:1,00001. Dies lässt bereits auf Materieklumpung 380.000 Jahre nach dem Urknall schließen.

Abb. 2b: Das weitere Schicksal der Materie wird in der Computersimulation als fortschreitende Klumpung der Materie berechnet. Verdichtungen (gelb) stellen Gebiete hoher Materiekonzentration dar, z.B. einen großen Galaxienhaufen im Zentrum. Diese Galaxienhaufen werden durch ein Netzwerk von Dichte-Filamenten verbunden, zwischen denen Leerräume (schwarz) entstehen. Der Balken entspricht einer Entfernung von ca. 100 Millionen Lichtjahren.

Abb. 3: Auf einer Himmelsfläche von vier Vollmonddurchmessern können auf sehr empfindlichen Aufnahmen mit dem 4m Blanco-Teleskop des CTIO Observatoriums in Chile mehr als 1 Mio. Objekte nachgewiesen werden, darunter ca. 40 Galaxien mit extrem geringer Flächenhelligkeit (LSB-Galaxien). Die Galaxie mit der schwächsten je gemessenen zentralen Flächenhelligkeit ist im Ausschnitt (a) zu sehen. Das Objekt konnte auch mit dem Hubble-Weltraumteleskop (b) nachgewiesen werden. Seine zentrale Flächenhelligkeit beträgt nur 1/1000 der Helligkeit des Nachthimmels.


Diesen Artikel inklusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Herbst 2008, S. 7 - 13
Herausgeber: Rektor der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung
mit der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel. 0234/32-22 133, -22 830, Fax 0234/32-14 136
E-Mail: rubin@presse.ruhr-uni-bochum.de
Internet: www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/

RUBIN erscheint zweimal im Jahr
(sowie ein Themenheft pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 2,50 Euro.
Jahreabonnement: 5,00 Euro
(zzgl. Versandkosten)


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2008