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FORSCHUNG/370: Projekt RAVE - Galaktische Archäologie (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 4/2008

Galaktische Archäologie
Das Projekt RAVE blickt tief zurück in die Vergangenheit des Alls

Von Tina Heidorn und Andreas Loos


Wenn die Sonne bei Coonabarabran untergeht, dann beginnt das Leben in den waldigen Abhängen ringsum: Die Koalas wachen auf, die nachtaktiven Kängurus kommen aus dem Schatten. Und in der großen weißen Kuppel über UK Schmidt, dem 1,2-Meter-Spiegelteleskop des Anglo-Australian Observatory (AAO), öffnet sich ein Spalt, um den Blick in den Abendhimmel freizugeben. "Nach einem gemeinsamen Abendbrot in der Unterkunft gehen wir an die Arbeit", erzählt Mary Williams. "Eine Schicht dauert im Winter bis acht Uhr, im Sommer geht es bis sieben." Von einem Naturschutzgebiet rund 450 Kilometer nordwestlich von Sidney aus beobachtet ein Team von Astronomen, darunter Mary Williams vom Astrophysikalischen Institut in Potsdam (AIP), laufend die Milchstraße.


Das UK Schmidt durchforstet für das Projekt RAVE (Radial Velocity Experiment) den Himmel. Ziel der weltweiten Kollaboration, an der das Potsdamer AIP maßgeblich beteiligt ist: eine gewaltige Sammlung von Daten und damit mehr Wissen über unsere Galaxie, die Milchstraße. 30 Prozent der Mittel für den internationalen Survey stammen aus Geldern, die am Leibniz-Institut eingeworben wurden. Die AIP-Forscherinnen und -Forscher um Matthias Steinmetz und Mary Williams vermessen damit nicht nur, wie schnell sich Sterne von uns weg bewegen, sondern auch ihre chemische Zusammensetzung, und zwar in einem Teil der Milchstraße, der nur von Süden aus zu sehen ist. Der Südsternhimmel ist weniger erforscht als die nördliche Hemisphäre, weil die meisten Surveys auf der Nordhalbkugel stattfinden.


Was Sternenlicht über das Tempo verrät

Bei den Messungen nutzen die Astronomen den Doppler-Effekt, ein physikalisches Phänomen, das schon seit über 150 Jahren bekannt ist. So, wie das Martinshorn eines Polizeiautos tiefer klingt, wenn sich das Auto entfernt, verschiebt sich nämlich auch die Wellenlänge des Lichtes, das Körper aussenden - also ihre Farbe -, wenn sie sich von uns weg bewegen, und zwar ins Rote. Astronomen nutzen aus, dass es physikalische Prozesse in den Sternen gibt, die Licht einer ganz bestimmten Wellenlänge aussenden oder schlucken. Durch Vergleich mit den entsprechenden Wellenlängen auf der Erde können sie aus der Farbverschiebung ziemlich genau die Geschwindigkeit errechnen, mit der die Sterne von uns weg oder auf uns zurasen. Obendrein liefern die Muster der ausgesandten Wellenlängen - die Spektren - Astronomen Informationen über die chemischen Prozesse im Inneren der Sterne und damit zum Beispiel über deren Alter. Denn Sterne reifen wie Wein: Im Laufe ihres Lebens backen sie leichte Elemente wie Wasserstoff und Helium in Fusionsprozessen schrittweise zu immer schwereren Elementen zusammen. Zugleich profitieren sie aber auch von ihren Ahnen: Bei ihrer Entstehung fangen sie schwerere Elemente ein, die von früheren Sterngenerationen gebildet worden sind. Über die Jahrmilliarden hinweg enthalten die Sterne also immer mehr Metalle. Der chemische Fingerabdruck eines Sterns ermöglicht es so, verwandte Sterne in Gruppen zusammenzufassen.

Das UK Schmidt ist für solche Messungen besonders geeignet, vor allem durch seinen großen Blickwinkel von mehr als sechs Grad. Es wirft große Ausschnitte des Himmels auf eine Fläche von etwa 35 mal 35 Zentimetern. Dort befinden sich 150 winzige Linsen, die über Lichtwellenleiter mit einem Spektrometer verbunden sind. Die Linsen werden von einem Roboter mikrometergenau auf die Untersuchungsobjekte ausgerichtet. Dann beginnt für die Wissenschaftler das Warten: "Zwei bis drei Stunden dauert die Aufnahme der Spektren", erzählt Williams, "dann fährt das Teleskop zum nächsten Feld." Systematisch wird so die Milchstraße des südlichen Sternenhimmels durchforstet und vermessen; pro Nacht schafft das Gerät etwa 500 Sterne.

Damit ist RAVE derzeit das weltweit größte Beobachtungsprojekt für Geschwindigkeit und chemische Zusammensetzung von Sternen in der Milchstraße. Schon jetzt haben die Wissenschaftler etwa 300.000 Sterne am Himmel vermessen, doch die ersten Jahre seit 2003 dienten vor allem auch dem Test der Analysemethoden - denn das Projekt ist sehr langfristig angelegt. "Die Wissenschaft geht jetzt erst richtig los", meint AIP-Astronomin Williams.


Uralte Gestirne in der Mitte der Galaxis

Am Ende wollen die Forscher alle Teile der Galaxie besucht haben, denn in unterschiedlichen Gegenden der Milchstraße erzählen die Sterne unterschiedliche Geschichten. Die Scheibe - in der sich auch unser Sonnensystem befindet - ist vergleichsweise jung. Alt sind dagegen die Halo rund um die Mitte der Galaxie; hier findet man Sterne, die etwa zehn Milliarden Jahre alt sind. Die Planungen sehen vor, bis Ende 2011 mehr als 750000 Sterne unter die Lupe genommen zu haben. Etwa achtzig Prozent davon stammen aus der dünnen Scheibe der Galaxie in der Nähe der galaktischen Ebene, rund fünfzehn Prozent aus der dicken Scheibe darüber und darunter.

"Damit machen wir tatsächlich so etwas wie galaktische Archäologie", meint Mary Williams. Denn das RAVE-Team erhofft sich vor allem mehr Wissen über die Entstehungsgeschichte der Milchstraße. Die heute gängige, wenn auch nicht unumstrittene These besagt, dass sich große Galaxien aus kleineren gebildet haben. Auch in unsere große Galaxie sollen kleinere Galaxien hineingestürzt sein. "Akkretion", also Zusammenballung, nennen das Astronomen. Manchmal sprechen sie auch scherzhaft von "Kannibalismus".

In unserer eigenen großen Galaxie hoffen die Forscher Anhaltspunkte für diese These zu finden. Dreh- und Angelpunkt in den Theorien ist die Masse der Galaxie und deren Verteilung über die Galaxie hinweg. "Klar: Je schwerer die Milchstraße ist, desto höher ist die Fluchtgeschwindigkeit der Sterne", erklärt Williams.

Hier hat RAVE schon die erste Revolution erzeugt: Die Messungen deuten auf viel weniger Masse in der Galaxie hin, als bisher angenommen wurde. Das bedeutet auch, dass die Modelle zur Entstehung der Galaxie angeglichen werden müssen.

Dafür suchen die Astronomen nach "Gezeitenschweifen", Sternen und Gas, das schon vor Milliarden Jahren aus anderen Galaxien in unsere gefallen ist - oder gerade dabei ist: Denn manche dieser Galaxien zerbrechen soeben und stürzen in unsere Milchstraße. Ein Beispiel ist der so genannte Sagittarius-Zwerg, eine kleine Galaxie im Sternbild Bogenschütze (Sagittarius), die die Astronomen erst seit 1994 kennen. Ihre Reste sind bereits über einen großen Teil des Himmels verstreut, auseinandergerissen durch die Anziehungskraft unserer Milchstraße. RAVE konnte nachweisen, dass Spuren des Stern-Stroms sich nicht in der Nachbarschaft der Sonne finden, wie manche Autoren vorher vermutet hatten. Williams selbst hat es besonders die "Arcturus-Gruppe" angetan, die seit Anfang der 1970er Jahre bekannt ist: Damals entdeckte man, dass sich gemeinsam mit einem der hellsten Sterne am Nachthimmel, dem Arcturus im Sternbild Bootes (Ochsentreiber), eine ganze Zahl von Sternen genau gleich bewegt, verteilt über die dicke Scheibe der Milchstraße. Mary Williams geht es nicht nur darum, weitere Sterne zu finden, die der Gruppe angehören, sondern auch der Frage nachzugehen, ob es sich hierbei um die Überreste einer kleineren Sterngalaxie handelt - oder um die Reste eines offenen Sternhaufens.

Die Frage ist noch ungelöst. Falls sie bis 2010 nicht geklärt ist, muss der nächste Schritt nach RAVE getan werden: Das Weltraumteleskop GAIA ist ein geplanter Satellit der ESA. Er soll ab 2012 die Arbeit von RAVE fortsetzen - nicht vom australischen Busch aus, sondern aus dem All.


RAVE im Kosmos

Von Josef Zens

RAVE steht für Radial Velocity Experiment. Das Projekt misst die Geschwindigkeit, mit der sich Sterne auf uns zu oder von uns weg bewegen.

Die Messungen finden auf der Südhalbkugel in Australien statt. Dort nutzen die AIP-Wissenschaftler das UK-Schmidt-Teleskop des Anglo-Australischen Observatoriums AAO.

Zusätzlich zu der Bewegung der Sterne messen die Experten auch noch die chemische Zusammensetzung der Himmelskörper. Insgesamt wollen sie im Zeitraum von 2003 bis 2010 bis zu einer Million Sterne ins Visier genommen haben. Damit ist RAVE derzeit das weltweit größte Beobachtungsprojekt für Geschwindigkeit und chemische Zusammensetzung von Sternen in der Milchstraße.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 4/2008, Seite 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2008