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FORSCHUNG/417: Ein radioaktives Rätsel (SuW)


Sterne und Weltraum 2/10 - Februar 2010
Zeitschrift für Astronomie

Ein radioaktives Rätsel?

Von Rudolf Kippenhahn


Im Sonnenkern entstehen unvorstellbare Mengen an Neutrinos. Sie durchstömen zu Milliarden in jeder Sekunde unseren Körper, ohne dass wir davon etwas spüren. Könnten sie trotz ihrer verschwindend geringen Neigung, mit anderen Elementarteilchen in Wechselwirkung zu treten, für eine jahreszeitliche Schwankung gewisser radioaktiver Zerfallsraten verantwortlich sein?


Die Sonne ist ein Kernkraftwerk, ob wir wollen oder nicht. Ihre Energie wird in ihrem tiefen Inneren bei der Fusion von Wasserstoff- zu Heliumatomen frei. Dabei entstehen aber auch Unmengen an Neutrinos. Diese sonderbaren Teilchen reagieren praktisch nie mit Atomen, deshalb weiß man so wenig von ihnen. Sie dringen ungehindert zur Sonnenoberfläche vor und erreichen die Erde. Die Neutrinos durchdringen auch den Erdkörper. Am Tag erreichen sie uns von oben, in der Nacht von unten.

Es gibt einige Atomarten, vor allem Chlor und Gallium, die zwar nur selten, aber doch gelegentlich mit einem dieser Neutrinos reagieren. Der Kern des Atoms Chlor-37 stößt dann ein Elektron ab und wird zu Argon-37, das Gallium-71 zu Germanium-71. Jeden der Sonne zugewandten Quadratzentimeter treffen auf der Erde in der Sekunde 66 Milliarden Sonnenneutrinos. Aber man merkt nichts von ihnen. Bei einem langjährigen Versuch in den USA wandelte sich in 390.000 Litern einer den Sonnenneutrinos ausgesetzten Chlorverbindung im Mittel nur alle paar Tage ein Chloratom in ein Argonatom um. Auch bei einem europäischen Experiment mit 30 Tonnen Gallium entstand etwa nur ein Germaniumatom täglich. Die Sonnenneutrinos beeinflussen unsere Welt offenbar nur wenig. Aber neuerdings kam der Verdacht auf, dass sie auch noch einen anderen, bisher unbekannten Einfluss haben könnten.


Radioaktivität im Jahresrhythmus?

Im Jahre 1986 veröffentlichten drei amerikanische Physiker um David E. Alburger vom Brookhaven Laboratory im US-Bundesstaat New York Untersuchungsergebnisse über das radioaktive Isotop Silizium-32 [1]. Es zerfällt mit einer Halbwertszeit von etwa 150 Jahren zu Phosphor. Das heißt: Von jeder Menge des Stoffes hat sich nach dieser Zeit die Hälfte der Atome in Phosphoratome umgewandelt. Die sich über nahezu vier Jahre erstreckenden Messungen zeigten einerseits, dass die Rate der Zerfälle im Laufe der Jahre sinkt. Das war zu erwarten, schließlich verringerte sich während der Messzeit die Menge an Silizium. Das Überraschende aber war, dass die Zerfallsrate im Jahresrhythmus schwankte. Das Silizium zerfiel Anfang Februar etwas schneller als Anfang August (siehe Grafik). Warum strahlt es im Winter mehr als im Sommer? Die gemessenen jährlichen Abweichungen liegen im Bereich von etwa 0,2 Prozent und sind etwa dreimal stärker als statistische Schwankungen.

Was kann den Zerfallsraten diesen Rhythmus aufprägen? Dieser Frage nahm sich der Physiker Ephraim Fischbach von der Purdue University im US-Staat Indiana an. Fischbach ist ein unkonventioneller Denker, er stellte sich in seinem vielseitigen Forscherleben die Frage nach der so genannten »fünften Kraft«, von der man vermutete, dass sie messbare Abweichungen von der newtonschen und der einsteinschen Gravitationstheorie bewirkt. Zum Beispiel müssten Körper verschiedener Masse etwas verschieden schnell zu Boden fallen. Fischbach überlegte auch, wie das die Erde umspannende Netz von Mobiltelefonen benutzt werden könnte, um Radioaktivität überall in der Welt aufzuspüren. Er untersuchte mit seinen Mitarbeitern, ob sich in der Ziffernfolge der Zahl Pi irgendwelche Regelmäßigkeiten finden lassen. Und er stieß auch auf Alburgers Messungen des Zerfalls von Silizium-32.


Ist die Sonne schuld?

Es gäbe eine mögliche astronomische Ursache für die schwankende Zerfallsrate: Die Erde bewegt sich nicht in einem Kreis, sondern in einer Ellipse um die Sonne. Deshalb ist sie uns am 3. Januar fünf Millionen Kilometer näher als am 5. Juli. Da die Stärke der Neutrinostrahlung mit dem Abstand abnimmt, treffen im Winter mehr Neutrinos bei uns ein als im Sommer (siehe Grafik S. 42). Können die Sonnenneutrinos den radioaktiven Zerfall des Siliziums beeinflussen? Geben sich die Sonnenneutrinos nicht nur durch spärliche Reaktionen in Tausenden Litern einer Chlorverbindung und in Tonnen von Gallium zu erkennen, sondern prägen sie auch kleinen Laborproben ihren Stempel auf? Oder tun sie das gar nicht? Der stärkste Zerfall erfolgt nämlich nicht zur Zeit des stärksten Neutrinoeinfalls, sondern einen Monat später.

Vielleicht kann hier die Planetensonde Cassini weiterhelfen (siehe Bild oben). Sie erforscht zurzeit den Saturn samt seinen Monden und Ringen und bezieht ihren Strom aus drei Plutoniumbatterien. Diese gewinnen ihre Energie aus der Temperaturdifferenz zwischen dem durch seine Radioaktivität erwärmten Plutonium-238 und der (kühleren) Umgebung. Das Plutonium ist ein Alphastrahler, das heißt, sein Atomkern stößt zwei Protonen und zwei Neutronen ab. Während sich Cassini bei der Venus Schwung holte, war sie einem nahezu 200-fachen Neutrinostrom ausgesetzt, verglichen mit dem jetzigen Zustand beim fernen Saturn. Wenn die Sonnenneutrinos auch den Zerfall des Plutoniums stimulieren sollten, dann müsste die Leistung der Plutoniumbatterien bei der Venus deutlich höher gewesen sein als jetzt bei Saturn. Leider ist das nicht so. Detaillierte Untersuchungen zeigen keinerlei Variation der erwarteten Art.

Ist damit die Anregung der Radioaktivität durch Sonnenneutrinos passé? Nicht ganz. Der Strom einer Plutoniumbatterie wird thermoelektrisch aus der Temperaturdifferenz zwischen dem radioaktiv erwärmten Plutonium und der Umgebung gewonnen. Je größer die Differenz, um so stärker die Leistung. Das aber wirkt einer möglichen Verstärkung der Radioaktivität durch Sonnenneutrinos entgegen. Bei der Venus: viele Neutrinos, aber wegen der Sonnennähe warme Umgebung, also geringe Temperaturdifferenz. Beim Saturn: kalte Umgebung, also hohe Temperaturdifferenz, aber wenig Neutrinos. Auch wenn die Sonde hinreichend lange im Schatten des Saturn fliegt, durchdringen die Sonnenneutrinos den Planeten mühelos, die Außentemperatur aber würde sinken und die Effizienz der Batterien vergrößern. Auf meine Anfragen beim für die Sonde verantwortlichen Jet Propulsion Laboratory, ob neben der offenbar unveränderten Effektivität der Batterien auch die Zerfallsraten unverändert geblieben sind, habe ich leider keine befriedigende Auskunft bekommen.


... oder die Elektronik?

Am 23. September 2009 sprach Ephraim Fischbach im Kolloquium der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Dort hatten Messungen im Jahre 1998 nahe gelegt, dass auch das radioaktive Element Radium-226 bei seinem Zerfall einen Jahresrhythmus zeigt. Anscheinend geht es nicht nur bei Betazerfällen nicht immer mit rechten Dingen zu. Silizium-32 zählt zu den Betastrahlern, weil der Atomkern ein Betateilchen, ein Elektron, abstößt. Das Radium-226 hingegen trennt sich beim Zerfall von einem Alphateilchen, also von zwei elektrisch positiven Protonen und zwei elektrisch neutralen Neutronen und wird mit einer Halbwertszeit von 1600 Jahren zu Radon-222.

Auch die in Braunschweig gemessenen Zerfallsraten von Radium-226, das sich dabei in das radioaktive Edelgas Radon umwandelt, schwankten im jährlichen Rhythmus und waren am Anfang jedes Jahres um zwei Promille höher als im Sommer [2]. Können Sonnenneutrinos nicht nur Betazerfälle, sondern auch Alphazerfälle anregen? Bei Fischbachs Vortrag ging es um die Frage nach den jahreszeitlichen Schwankungen der Zerfallsrate des Radium-226. Auch als ich Heinrich Schrader, einen der Verfasser der Braunschweiger Arbeit von 1998, kürzlich am Telefon sprach, betonte er, dass er wie schon in der Arbeit vor elf Jahren die damals gemessenen Schwankungen auf Instabilitäten in der Messapparatur zurückführt.

Die Braunschweiger Physiker haben den von ihnen gefundenen Schwankungen nie so ganz geglaubt. Sie hatten im Jahr 1998 zwei verschiedene Messmethoden benutzt, um den Zerfall zu messen. Zum einen prüften sie die Stärke der von der Strahlung erzeugten Ionisation in einer mit Argongas gefüllten Kammer. Zum anderen benutzten sie Germanium-Halbleiterdetektoren. Nur die Messungen mit der Ionisationskammer zeigten die jahreszeitlichen Schwankungen deutlich. So vermuteten sie schon im Jahr 1998, dass die Schwankungen ihre Ursache in der Messapparatur hatten. In ihr könnten durch das überall in der Natur vorkommende und in den Gesteinen der Erdkruste gebildete Radon hervorgerufene Entladungen die Zerfallsraten beeinflussen. Das Radon diffundiert nämlich bei verschiedener Temperatur, also abhängig von den Jahreszeiten, aus dem Erdboden mehr oder weniger stark in den Messraum.

Bei Fischbachs Braunschweiger Kolloquium kam es zu keiner Einigung. Kurz zuvor hatte Heinrich Schrader auf einer Tagung in Bratislava berichtet, dass die jährlichen Fluktuationen verschwinden oder sich verändern, wenn man die Messmethode wechselt. Das ist einer der Gründe, derentwegen ich mich für die astrophysikalische Deutung der schwankenden Zerfallsraten nicht erwärmen kann. Aber ich muss vorsichtig sein, ich habe in dieser Zeitschrift schon einmal über die Idee eines amerikanischen Kollegen gespottet. Doch er hatte Recht [3].


Rudolf Kippenhahn ist Astronom und Schriftsteller.


Literaturhinweise

[1] Alburger, D.E., Harbottle, G., Norton, E.F.: Half-life of 32Si. In: Earth and Planetary Science Letters 79, S. 168-176, 1986.

[2] Siegert, H., Schrader, H., Schötzing, U.: Half-life measurements of Europium radionuclides and the long-term stability of detectors. In: Applied Radiation and Isotopes 49, S. 13971-1401, 1998.

[3] Kippenhahn, R.: Die Sonne bracht' es an den Tag. In: Sterne und Weltraum 5/2002, S. 22-23.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 40: Das radioaktive Silizium-32 sollte gemäß seiner Halbwertszeit von etwa 150 Jahren kontinuierlich zerfallen (rote Kurve in dieser schematischen Darstellung). Messungen an einer Probe, die am Brookhaven Laboratory untersucht wurde, zeigten jedoch jahreszeitliche Schwankungen (grüne Kurve).

Abb. S. 41: Falls Sonnenneutrinos den radioaktiven Zerfall beeinflussen, sollte sich dies auch auf die drei Plutoniumbatterien an Bord der Planetensonde Cassini auswirken. Denn sie war bei einem Vorbeiflug an der Venus einem viel stärkeren Neutrinostrom ausgesetzt als jetzt während ihres Aufenthalts im Saturnsystem.

Abb. S. 42: Bedingt durch die Ellipsenform ihrer Bahn ist die Erde im Laufe eines Jahres einem leicht schwankendem Strahlungsstrom von der Sonne ausgesetzt. Auch die von der Sonne abströmenden Neutrinos, deren Dichteverlauf hier rot dargestellt ist, treffen deswegen im Jahresrhythmus in unterschiedlicher Anzahl auf die Erde.


© 2010 Rudolf Kippenhahn, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 2/10 - Februar 2010, Seite 40 - 42
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2010