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FORSCHUNG/433: Das kosmische Standardmodell auf dem Prüfstand (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 8/10 - August 2010

Zwerggalaxien
Das kosmologische Standardmodell auf dem Prüfstand

Von Pavel Kroupa und Marcel Pawlowski


Die noch rätselhafte Dunkle Materie soll eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Galaxien spielen. Besonders in den Satellitengalaxien der Milchstraße würden sich ihre Einflüsse bemerkbar machen. Doch Beobachtungen in unserer kosmischen Nachbarschaft nähren Zweifel an der Existenz dieser Materieform.


In Kürze
Ein zentraler Baustein des kosmologischen Standardmodells ist die Dunkle Materie. Die Existenz dieser rätselhaften Materieform ist bislang allerdings noch nicht nachgewiesen worden.
Auch die Eigenschaften von Satellitengalaxien nahe gelegener Sternsysteme hängen dem Standardmodell zufolge eng mit der Dunklen Materie zusammen.
Detaillierte Studien von Satellitengalaxien weisen aber auf zahlreiche Widersprüche zwischen Modell und Beobachtung hin. Müssen wir über eine Alternative zur Dunklen Materie nachdenken?

Seit 13,7 Milliarden Jahren existiert das Universum. Doch wie gelangte es zu seiner großräumigen Struktur? Und welche Materiearten und Kräfte spielten dabei die wesentlichen Rollen? Es gibt vieles, was wir schon wissen. Die Häufigkeit der Elemente, der kosmische Mikrowellenhintergrund, die Expansion des Universums: All diese Phänomene sind gut untersucht und lassen uns aus vielen Gründen vermuten, dass der Kosmos einst in einem Urknall entstand. Seither ist es vor allem die Schwerkraft, die unserem Universum seine von Galaxien und ganzen Haufen von Galaxien strukturierte Form gab.

Doch das so genannte kosmologische Standardmodell, mit dessen Hilfe Forscher gegenwärtig die Entwicklung des Universums beschreiben, macht noch weitere Vorhersagen. Eine davon lautet: Galaxien setzen sich nicht nur aus sichtbarer Materie zusammen. Vielmehr verfügen sie neben der »normalen« baryonischen Materie, aus der Sterne ebenso wie Menschen bestehen, über eine weitere Zutat: die Dunkle Materie. Diese ist nicht nur das Salz in der Suppe, sondern soll gleich 85 Prozent aller Materie im Universum ausmachen. Nachgewiesen wurde sie bislang nicht, aber vor allem in unterirdischen Labors fahnden Forscher bereits nach ihr, und auch auf der Internationalen Raumstation wird bald ein 1,5 Milliarden Euro teures Instrument installiert, das Alpha-Magnet-Spektrometer (AMS, siehe die kommende Ausgabe von SdW), um die Suche aufzunehmen.

Doch gibt es diese Dunkle Materie wirklich? Für ihre Existenz führen die Astronomen gute Gründe an. Beobachtungen von Scheibengalaxien belegen, dass die Sterne in deren Außenbereichen schneller um das Zentrum der Galaxien rotieren, als es das newtonsche Gravitationsgesetz vorhersagt. In die Berechnungen fließt die Masse aller beobachtbaren Materie einer Galaxie ein: die Masse der Sterne ebenso wie die des interstellaren Gases und des kosmischen Staubs. Das Ergebnis sind so genannte Rotationskurven, die den Zusammenhang zwischen Rotationsgeschwindigkeit der Sterne und ihrem Abstand vom Zentrum der jeweiligen Galaxie beschreiben (siehe Grafik). Ihnen zufolge sollte die Geschwindigkeit, mit der Sterne etwa um das Milchstraßenzentrum kreisen, zum Rand der Galaxis hin stark abfallen; so, wie auch die äußeren Planeten im Sonnensystem langsamer um die Sonne rotieren, als dies etwa Venus oder Erde gemäß den keplerschen Gesetzen tun. Tatsächlich beobachten die Forscher aber, dass außen liegende Sterne das galaktische Zentrum viel schneller umkreisen als erwartet. Infolge der dabei entstehenden Fliehkräfte müsste unser Sternsystem sogar in kürzester Zeit auseinanderfliegen. Rätselhafterweise geschieht genau dies jedoch nicht.


Einen Kandidaten nach dem anderen ausgeschlossen

Die einfachste Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, lautet: Wir unterschätzen die Masse der Galaxien. Anfangs gab es für die »fehlende« Masse zahlreiche Kandidaten wie Schwarze Löcher und Neutronensterne, aber auch braune Zwerge und kaltes Gas. Doch nach und nach schlossen die Forscher einen nach dem anderen aus. Übrig blieb nur die Vermutung, dass es dann eben eine neue Art von Materie geben müsste: Dunkle Materie. Diese hypothetische Form von Teilchen zeichnet sich gegenüber gewöhnlicher, sichtbarer Materie dadurch aus, dass sie keine elektromagnetische Wechselwirkung ausübt. Sie sendet also kein Licht aus und kann kaum mit baryonischer Materie wechselwirken. Deshalb ist sie nicht nur im Universum unsichtbar, sondern lässt sich auch von unseren Messgeräten und Detektoren kaum registrieren. Wenn überhaupt, treten Dunkle-Materie-Teilchen nur äußerst schwach mit normaler Materie und mit sich selbst in eine nachweisbare Beziehung. Diese Teilchen, falls es sie gibt, krümmen durch ihre Schwerkraft lediglich die Raumzeit.

Im Standardmodell der Teilchenphysik, das ansonsten sämtliche heute bekannten Elementarteilchen beschreibt, sind die Dunkle-Materie-Teilchen auffälligerweise nicht enthalten - ein Hinweis, dass sie vielleicht überhaupt nicht existieren? Künftig könnte das gegenwärtige Standardmodell allerdings von der Stringtheorie (siehe »Ist die Stringtheorie noch eine Wissenschaft?«, SdW 5/2009, S. 34) abgelöst werden. Diese neue Theorie, so hoffen die Physiker, würde auch Dunkle-Materie-Teilchen umfassen. Deren Existenz müsste dann nicht mehr postuliert werden; stattdessen würden die Partikel auf ganz natürliche Weise als Bestandteil unserer Welt auftreten.

Was ursprünglich als einfache Problemlösung erschien, mittels deren sich die beobachteten Rotationskurven erklären ließen, wuchs mit der Zeit zu dem unter Wissenschaftlern heute sehr populären kosmologischen Standardmodell heran. Auf diesem theoretischen Fundament beruht das bis heute umfangreichste Modell von den Ursprüngen, der Entwicklung und der Zusammensetzung des Kosmos. Ihm zufolge ist der größte Teil der Materie im Kosmos dunkel: Galaxien bestehen vor allem aus riesigen Ansammlungen Dunkler Materie, so genannten Dunkle-Materie-Halos. In deren Zentren wiederum und nur dort sitzen die für uns sichtbaren Galaxien. Doch stimmt dies wirklich?

Viele kosmologische Simulationen beruhen allein auf dem Verhalten der Dunklen Materie; der Einfluss der uns vertrauten baryonischen Materie gilt als vernachlässigbar gering. Ursprünglich sollen die Dunkle-Materie-Partikel gleichförmig im Kosmos verteilt gewesen sein. Schon sehr früh begannen die Teilchen aber, sich zusammenzuballen. Auf diese Weise entstanden zunächst viele kleine Dunkle-Materie-Halos, von denen etliche miteinander kollidierten und zu größeren Halos verschmolzen. Meistens waren es größere Halos, die sich in einer Art Dunkle-Halo-Kannibalismus Zwerghalos einverleibten und so zu stattlicher Größe heranwuchsen. Unserer Abschätzung nach benötigte die Milchstraße etwa 1010 dunkle Halos mit Massen oberhalb einer Sonnenmasse, um ihre heutige Größe zu erreichen.

In den Simulationen wuchsen die Strukturen aus Dunkler Materie aber zu schnell heran: Sie benötigten weniger Zeit, um groß zu werden, als es die astronomischen Beobachtungen nahelegen. Daher brachte das Standardmodell der Kosmologie noch die so genannte Dunkle Energie (SdW 8/2009, S. 26) ins Spiel. Diese verlangsamt das Heranwachsen der Dunkle-Materie-Strukturen, so dass die errechnete Materieverteilung schließlich mit den Beobachtungen in Einklang stand.

Die Dunkle Energie ist jedoch ebenfalls nur ein postuliertes Phänomen. Als Forscher kurz vor der Jahrhundertwende herausfanden, dass das Universum nicht nur expandiert, sondern sich die Ausdehnung offensichtlich sogar beschleunigt, erklärten sie dies mit einer neuen Energieform, die den Raum gewissermaßen auseinanderreißt - eben der Dunklen Energie. Diese bringt allerdings eine große Schwierigkeit mit sich. Expandiert das Universum beschleunigt, wächst dadurch auch seine Vakuumenergie letztendlich über alle Grenzen an. Die Energieerhaltung in einem abgeschlossenen System ist jedoch ein grundlegendes Prinzip der Physik. Wenn wir die Existenz der Dunklen Energie annehmen wollen, müssen wir, ohne dies derzeit belegen zu können, das Universum als ein offenes System betrachten.

Doch zurück zur Dunklen Materie. Wie füllen sich die dunklen Halos überhaupt mit dem leuchtenden, baryonischen Gas, aus dem sich Sterne und schließlich sichtbare Galaxien bilden? Dies ist eine entscheidende Frage. Alle Berechnungen auf Basis des Standardmodells, denen realistische physikalische Prozesse der Sternentstehung zu Grunde liegen, zeigen, dass sich zunächst die kleinen Halos und erst später die größeren Exemplare mit Gas und Sternen füllen. Beginnt die Sternentstehung zuerst in Zwerggalaxien, sollten diese im Durchschnitt also eher älter sein als massereiche, größere Galaxien. Tatsächlich beobachten Astronomen aber genau das Gegenteil: Massereiche Galaxien sind deutlich älter als ihre zwergenhaften Verwandten.


Das Problem der fehlenden Satelliten

Auch andere Widersprüche haben sich aufgetan. In diesem Jahr wiesen die Astrophysiker Jim Peebles von der University of Princeton in New Jersey und Adi Nusser vom Technologieinstitut Technion im israelischen Haifa nach, dass die Verteilung der sichtbaren Materie im so genannten Lokalen Volumen nicht mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmt. (Zu dieser Region, die einen Radius von 24 Millionen Lichtjahren besitzt, gehört auch die Milchstraßengalaxie.)

Wir selbst haben das Standardmodell auf noch kleineren Skalen getestet. Denn ihm zu folge müssten sich sämtliche Galaxien, also auch unsere Milchstraße, aus unzähligen kleineren Galaxienbausteinen zusammengesetzt haben. Tatsächlich sagen Simulationen voraus, dass sich im Dunklen Halo der Milchstraße, der rund eine Million Lichtjahre misst - zehnmal mehr als die sichtbare Milchstraßenscheibe -, noch viele hundert bis tausend Halos identifizieren lassen müssten. Erkennen könnten wir sie an den leuchtenden Galaxien in ihrem Inneren. (Hinzu kommt eine noch viel größere Zahl völlig dunkler Halos.)

Das geeignete Testgelände, um diese Halos aufzuspüren, ist die so genannte Lokale Gruppe. Mit einem Durchmesser von gerade einmal drei Millionen Lichtjahren stellt sie unsere unmittelbare kosmische Nachbarschaft dar. Sie beherbergt zwei große Spiralgalaxien: unsere Milchstraße selbst sowie die Andromedagalaxie. Beide werden von je einer kleinen Schar von Satellitengalaxien in maximal 800.000 Lichtjahren Entfernung von ihrer jeweiligen Muttergalaxie umkreist.

Die Lokale Gruppe erlaubt den präzisesten Test eines kosmologischen Modells, der uns möglich ist, weil wir sie im Vergleich zu entfernteren Regionen am detailliertesten beobachten können. Die vielfältigen Aussagen, welche die Standardkosmologie zu den erwarteten Eigenschaften und Verteilungen der Satellitengalaxien trifft, lassen sich hier also besonders gut überprüfen. Doch gerade auf der Ebene von Galaxien und ihren Satelliten treffen wir auf eine Reihe von schwer wiegenden Widersprüchen zwischen Theorie und Beobachtung.

Dem Standardmodell zufolge können sich Verschmelzungen von Halos über Milliarden von Jahren hinziehen, so dass sich innerhalb größerer Dunkle-Materie-Halos auch heute Subhalos befinden können, die sich noch nicht ganz aufgelöst haben. Diese Subhalos wiederum besitzen ihrerseits Subhalos und so weiter. Alle diese Ansammlungen Dunkler Materie (siehe Bild) laufen räumlich ungeordnet auf sich ständig verändernden Bahnen um ein gemeinsames Zentrum.

Insbesondere sagen die Simulationen voraus, dass um eine Galaxie von der Größe der Milchstraße hunderte bis tausende Dunkle-Materie-Halos kreisen sollten. Bislang sind aber nur etwa 24 Satellitengalaxien der Milchstraße bekannt, eine bedeutende Steigerung ihrer Zahl durch künftige Entdeckungen ist wohl nicht zu erwarten. Diese Diskrepanz zwischen Vorhersage und Beobachtung ist unter dem Begriff des »Missing Satellite Problem« bekannt. Zunächst versuchte man daher, die physikalischen Prozesse in den Simulationen realistischer und in höherer Auflösung darzustellen, in der Hoffnung, die Anzahl der vorhergesagten Subhalos würde sich auf das beobachtete Maß reduzieren. Aber diese Versuche scheiterten. Damit schien die Standardkosmologie und insbesondere die Dunkle-Materie-Hypothese bereits widerlegt.

Dann allerdings entwickelten die Theoretiker andere mögliche Erklärungen, um die Theorie doch noch zu retten. Vielleicht, so eine der Annahmen, sind die sichtbaren Galaxien nur die »Spitze des Eisbergs«. Das würde bedeuten, dass zwar eine große Zahl dunkler Halos existiert, dass sich aber nur in wenigen von ihnen Sterne oder zumindest Gasansammlungen bilden. Welche Ursachen könnte dies haben?


Beobachten wir nur die Spitze des Eisbergs?

Je weniger Masse ein dunkler Halo besitzt, desto geringer ist seine Schwerkraft und damit seine Fähigkeit, sichtbare Materie zu binden. Zudem existieren interne wie externe Energiequellen, die der Schwerkraft weitere Kräfte entgegenwirken lassen. Befindet sich im dunklen Halo bereits eine Zwerggalaxie, heizen die darin entstehenden Sterne das abgekühlte Gas wieder auf, so dass es gegen die Schwerkraft expandiert und aus der Galaxie hinausströmt. Denselben Effekt könnte ionisierende Strahlung von außen bewirken. Dunkle Halos geringer Masse wären dann also nicht in der Lage, ausreichend Gas an sich zu binden, so dass in ihnen nicht einmal Sterne entstehen würden. Vielleicht beschränken aber auch Gezeitenwechselwirkungen das Wachstum der Satellitenhalos.

Wenn es zutrifft, dass wir lediglich die Spitze des Eisbergs der Satellitengalaxieverteilung beobachten, dann wären diese Zwerggalaxien in Dunkle Subhalos extrem großer Masse eingebettet, denn nur diese üben ausreichend Schwerkraft aus, um genug sichtbare Materie zu binden. Daraus können wir schließen: Weil ein Halo umso mehr baryonische Materie bindet, je massereicher er ist, muss der Halo einer Zwerggalaxie im statistischen Mittel umso massereicher sein, je leuchtkräftiger die Galaxie ist. Die Standardkosmologie sagt folglich voraus, dass ein Zusammenhang zwischen der Masse der dunklen Halos und der Leuchtkraft der enthaltenen Zwerggalaxien existiert. Dies bestätigen auch zahlreiche Modellrechnungen, welche die unterschiedlichen internen und externen Energiequellen berücksichtigen.

Was aber ergeben unsere Beobachtungen? Studien zeigen, dass alle Satellitengalaxien der Milchstraße - in der Nordhemisphäre kennen wir mit 16 Exemplaren bereits die meisten, im Süden läuft eine groß angelegte Suche (siehe Kasten) - vergleichbare Mengen an Dunkler Materie aufweisen, nämlich jeweils rund eine Milliarde Sonnenmassen. Ihre Leuchtkräfte (korrekter müsste man sagen: Leuchtleistungen) erstrecken sich allerdings über einen weiten Bereich: Sie betragen zwischen dem Tausendfachen und dem Zehnmillionenfachen der Leuchtkraft der Sonne und stehen entgegen den Voraussagen der Standardkosmologie daher keineswegs in einem Zusammenhang mit der Masse der Halos. Behauptet man, um das Problem der fehlenden Satelliten zu lösen, wir sähen nur die Spitze des Eisbergs - nur jene Satelliten, in denen sich tatsächlich leuchtende baryonische Materie ansammelte -, verstrickt man sich also an anderer Stelle in einen Widerspruch.


AUF DER SUCHE NACH DEN FEHLENDEN SATELLITEN

Gibt es die Dunkle Materie wirklich oder müssen wir über Alternativen nachdenken? Die Antwort auf diese Fragen hängt entscheidend von der Zahl der Satellitengalaxien der Milchstraße ab. Bisher wurde nur die Nordhemisphäre mit hoher Präzision nach ihnen abgesucht. Zu den Zielen des »Stromlo Milky Way Satellites (SMS) Survey« gehört es darum, die Südhemisphäre nach noch unentdeckten Satelliten zu durchmustern. Leiter des internationalen Projekts ist der schweizerische Astrophysiker Helmut Jerjen vom Mount-Stromlo-Observatorium der Australian National University in Canberra.

Erweisen sich die Satelliten am Südhimmel ebenfalls als in einer Scheibe angeordnet - so wie die bislang bekannten 16 nördlichen und acht südlichen Satelliten -, würde dies den Vorhersagen der Standardkosmologie klar widersprechen. Aus Symmetriegründen ist zu erwarten, dass die SMS-Durchmusterung rund acht weitere Satellitengalaxien entdecken wird. Eine Nord-Süd-Asymmetrie in der Verteilung der Satelliten ist unwahrscheinlich, sie würde sich über kosmologisch relativ kurze Zeiträume hinweg ausgleichen.

Werkzeug für den SMS-Survey ist das zehn Millionen Dollar teure, robotische 1,35-Meter-Teleskop SkyMapper am Siding-Spring-Observatorium der Australian National University. Eine 268-Megapixel-CCD-Kamera mit einem großen Gesichtsfeld von 5,7 Quadratgrad sorgt dank ihrer hohen Lichtempfindlichkeit für die bislang präzisesten Durchmusterungsdaten des Südhimmels. Auch Deutschland ist an dem Instrument beteiligt: Ein spezieller Verschluss, entwickelt am Observatorium Hoher List der Universität Bonn, gewährleistet über das ganze Gesichtsfeld hinweg eine gleichmäßige Belichtung. Unsere Bonner Arbeitsgruppe wird die Daten gemeinsam mit anderen Forscherteams interpretieren und sich voraussichtlich auch an den Beobachtungen beteiligen.
pk/mp


Auch in weiteren Fällen hält die Standardkosmologie dem Vergleich mit Beobachtungen nicht stand. Scheibengalaxien bestehen aus einer Scheibe aus Sternen, deren Mitte häufig eine Art Verdickung aufweist. Dieser Bereich größerer Sterndichte, der wie eine elliptische Galaxie erscheint und in dem die Sterne auf ungeordneten Bahnen um das Zentrum der Galaxie laufen, wird Bulge genannt. Offenbar besitzt er einen Einfluss auf die Zahl der Satelliten um eine Galaxie. Das lässt sich prüfen, indem man einfach die Satelliten der uns nächstgelegenen Scheibengalaxien zählt. Das Risiko, einige davon zu übersehen, reduzieren die Astronomen, indem sie von vornherein nur jene in die Rechnung aufnehmen, die mehr als das 200.000-Fache der Sonnenleuchtkraft aufweisen. Die Andromedagalaxie mit ihrem massereichen Bulge ist von 16 solcher Satelliten umgeben. Der Bulge der Milchstraße verfügt nur über halb so viel Masse, um sie zählen wir neun Exemplare. Und schließlich hat die Lokale Gruppe auch noch die recht kleine Scheibengalaxie M 33 zu bieten. Sie besitzt überhaupt keinen Bulge, und bislang haben die Astronomen auch vergeblich nach ihren Satelliten gesucht. Unser Test zeigt also eine bemerkenswerte Relation: Je massereicher der Bulge einer Galaxie, von desto mehr Satellitengalaxien wird sie umgeben. (Bisher können wir diesen Test nur anhand der drei Galaxien in der Lokalen Gruppe durchführen, denn nur hier können wir weit gehend sicher sein, die existierenden Satelliten tatsächlich zu entdecken.)

Aus Sicht der Standardkosmologie ist die beobachtete Relation indessen unwahrscheinlich. Ihr zufolge sollten Galaxien mit massereicheren dunklen Halos, entstanden aus vorangegangenen Verschmelzungen, mehr Subhalos, also mehr beobachtbare Satellitengalaxien aufweisen. Doch die Astronomen haben Scheibengalaxien sowohl mit als auch ohne Bulge entdeckt, die vergleichbare Rotationskurven aufweisen. Daher sollten sie auch dunkle Halos ähnlicher Masse besitzen und folglich eine etwa gleiche Zahl von Subhalos. Laut Standardkosmologie steht die Zahl der Satellitengalaxien daher nicht in einem Zusammenhang mit der Masse des Bulges - doch genau diesen Zusammenhang beobachten wir in der Lokalen Gruppe.


Gleichmäßig verteilt? Im Gegenteil

Werfen wir nun einen Blick auf die Anordnung der Satelliten um ihre Muttergalaxien. Ihre dreidimensionale räumliche Verteilung und ihre Bahnen enthalten wichtige Informationen über ihren Ursprung. Folgt man der Standardkosmologie, so fallen Zwerggalaxien im Lauf der Verschmelzungsvorgänge sozusagen aus allen Richtungen in einen größeren dunklen Halo hinein. Doch selbst die kleinsten kosmischen Strukturen, Filamente und Ansammlungen von Zwerggalaxien, die Astronomen beobachtet haben, erstrecken sich über mehr als 600.000 Lichtjahre, also über ein Mehrfaches des Milchstraßendurchmessers. Man sollte also davon ausgehen können, dass die Satellitengalaxien mehr oder weniger gleichmäßig im gesamten Milchstraßenhalo verteilt sind.

Tatsächlich aber weist die räumliche Verteilung der bekannten Satellitengalaxien eine sehr klare Struktur auf: Sie sind in einer Scheibe angeordnet, die senkrecht zur Milchstraßenebene steht (siehe Grafiken unten). Diese nur etwa 150.000 Lichtjahre dicke Satellitenscheibe besitzt einen Durchmesser von ungefähr 1,5 Millionen Lichtjahren. Erwartet hatten die Astronomen jedoch eine andere Verteilung der Satelliten. Auf diesen Widerspruch hat erst 2005 einer von uns (Kroupa) gemeinsam mit Christian Theis, der damals an der Universität Kiel forschte, und Christian Boily vom Observatoire astronomique de Strasbourg hingewiesen. Weil auch die in den Folgejahren gefundenen, sehr leuchtschwachen Satellitengalaxien dieser Scheibenanordnung folgen, kann von Zufall keine Rede mehr sein.

Damit nicht genug. Aus den Spektren der Satellitengalaxien lassen sich ihre Radialgeschwindigkeiten ermitteln. Fertigt man darüber hinaus über mehrere Jahre hinweg Aufnahmen der Satellitengalaxien an, so lassen sich zwei weitere Bewegungskomponenten und auch ihre Geschwindigkeit messen - vorausgesetzt, sie sind schnell und nah genug, damit ihre Winkelgeschwindigkeit ausreichend groß ist. Von einigen der nahe gelegenen Satelliten weiß man daher auch, in welcher Richtung sie um die Milchstraße kreisen. Sieben der acht auf diese Weise vermessenen Satelliten bewegen sich erstaunlicherweise innerhalb der Satellitenscheibe, ähnlich den Planeten des Sonnensystems, die in derselben Ebene um ihr Zentralgestirn rotieren. Sechs davon kreisen sogar in derselben Richtung; nur eine, nämlich Sculptor, ist ein »Geisterfahrer«, der sich in entgegengesetzter Richtung bewegt.

Dieses Ergebnis kommt für die Standardkosmologie völlig überraschend, denn sie vermag weder für die Anordnung der Satelliten in einer Scheibe noch für ihre gemeinsame Bewegungsrichtung eine Erklärung zu liefern. Auch hier kann der Zufall keine Rolle spielen: Das ist so unwahrscheinlich, dass wir es ausschließen können, zumal die Andromedagalaxie eine vergleichbare Anordnung von Satellitengalaxien aufzuweisen scheint.

Wollen wir die Satellitengalaxien der Milchstraße als baryonische Materie inmitten von Subhalos aus Dunkler Materie auffassen, stoßen wir also auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Gibt es denn Alternativen zu dieser Auffassung? Bereits im Jahr 1976, als die Dunkle-Materie-Hypothese noch keine allgemeine Anerkennung gefunden hatte, schlug der renommierte Astrophysiker Donald Lynden-Bell von der University of Cambridge vor, dass es sich bei ihnen um Gezeitenzwerggalaxien handeln könnte. Objekte dieser Art entstehen, wenn zwei gasreiche Galaxien auf ihrem Weg eng aneinander vorbeifliegen - streifende Zusammenstöße sind weit häufiger als frontale Kollisionen - und sich durch ihre gegenseitige Schwerkraft abbremsen und herumreißen.

Dabei wirken dort, wo die Galaxien einander zugewandt sind, stärkere Anziehungskräfte als auf der entgegengesetzten Seite. Zudem entstehen Fliehkräfte, während die Galaxien beim Vorbeiflug aneinander zerren. Diese Kräfte reißen die Galaxien förmlich auseinander und lassen aus jeder von ihnen zwei gebogene so genannte Gezeitenarme herauswachsen. Die beiden inneren Arme laufen dabei aufeinander zu, während die äußeren vom Ort der Kollision wegweisen.


Neues aus dem »Schrott« der Kollision

Diese Arme können sich über Hunderttausende von Lichtjahren und damit weit über die Durchmesser der Galaxien hinaus erstrecken. Sie bestehen aus Sternen, aber auch aus Gas und Staub. Dieses Material wiederum kann verklumpen, so dass es schließlich zum gravitativen Kollaps der Gas- und Staubwolken kommt und damit zur Geburt neuer Sterne. So bilden sich aus dem weggeschleuderten »Schrott« der Kollision allmählich größere Ansammlungen von Sternen, und schließlich werden in den Gezeitenarmen ganze Galaxien geboren: Gezeitenzwerggalaxien.

Die so entstandenen Gezeitenzwerggalaxien reihen sich entlang des Gezeitenarms auf und besitzen ähnliche Bewegungsrichtungen. Zudem befinden sie sich unweigerlich in der Ebene der Wechselwirkung zwischen den großen Galaxien, wo die stärksten Kräfte wirken, und unsere jüngsten Computerberechnungen zeigen, dass sich in diesem Fall auch leicht »Geisterfahrer« bilden können.

Betrachtet man die Satellitengalaxien der Milchstraße als Gezeitenzwerggalaxien, lässt sich ihre bislang rätselhafte Verteilung ebenso wie die Richtung ihrer Bewegungen auf überzeugende Weise erklären. Die Kollision, bei der sie ursprünglich entstanden, dürfte sich unseren Berechnungen zufolge vor rund elf Milliarden Jahren ereignet haben. In jener kosmischen Epoche war das Universum noch viel kleiner und dichter, die Galaxien kollidierten darum häufiger. Dank ihres damals hohen Gasanteils stand zudem sehr viel Material für die Ausbildung von Gezeitenarmen und Gezeitenarmgalaxien zur Verfügung. Wahrscheinlich hat diese Kollision auch zur Entstehung des Bulges der Milchstraße geführt.

Das Szenario der Gezeitengalaxien erklärt zudem weitere Beobachtungen. Ihm zufolge sind umso mehr Gezeitengalaxien zu erwarten, je massereicher die kollidierenden Sternsysteme sind. Bulges lassen sich ebenfalls als Produkt der Kollision zweier Galaxien und des in ihnen enthaltenen Gases erklären. Sie fallen dann umso massereicher aus, je massereicher oder gasreicher die Kollisionspartner waren. So ergibt sich auf plausible Weise der in der Lokalen Gruppe beobachtete Zusammenhang zwischen der Masse des Bulges einer Scheibengalaxie und der Anzahl ihrer aus Gezeitenwechselwirkungen hervorgegangenen Satelliten, denn beide Phänomene hängen auf ähnliche Weise von der vorangegangenen Galaxienwechselwirkung ab. Entstand eine Scheibengalaxie hingegen, ohne dass eine größere Kollision dabei eine Rolle spielte, verfügt sie weder über einen Bulge noch über Satellitengalaxien, so wie es bei der Galaxie M 33 der Fall ist.

Natürlich beschreibt auch die Standardkosmologie Wechselwirkungen zwischen Galaxien, sie sind schließlich das treibende Element des Wachstums von Sternsystemen. Allerdings haben Tadashi Okazaki und Yoshiaki Taniguchi von der japanischen Tohoku University schon im Jahr 2000 festgestellt, dass die Zahl der durch die Wechselwirkungen entstehenden Gezeitengalaxien vollkommen ausreicht, um die Zahl sowohl der beobachteten Satellitengalaxien als auch die der elliptischen Zwerggalaxien in Galaxienhaufen zu erklären. In diesem Bild bleibt also gar kein Platz für weitere, von Dunkler Materie dominierte Zwerggalaxien, so dass sich selbst innerhalb der Standardkosmologie ein logischer Widerspruch zu offenbaren scheint.

In den nächsten Jahren müssen wir daher unter anderem mit Hilfe des SMS-Survey (siehe Kasten S. 27) und des Gaia-Satelliten (siehe Kasten S. 29) überprüfen, ob sich tatsächlich die meisten Satellitenzwerggalaxien unserer Milchstraße in einer Scheibe bewegen. Wäre dies der Fall, sind sie mit hoher Sicherheit Gezeitenzwerge und es blieben, entgegen den Voraussagen der Standardkosmologie, keine Dunkle-Materie-Satellitengalaxien mehr übrig, die im dunklen Halo der Milchstraße gefangen sein könnten.


KREISEN MEHRERE STRÖME VON SATELLITENGALAXIEN UM DIE MILCHSTRASSE?

Neue Daten über die Satellitengalaxien der Milchstraße erhoffen wir uns von Gaia. Von 2012 bis 2017 wird die rund 500 Millionen Euro teure ESA-Mission rund ein Prozent aller Sterne der Milchstraße und sogar Exemplare in der Andromedagalaxie vermessen. Der Zensus umfasst verschiedene Typen und Altersklassen von Sternen. Ihre Positionen, vor allem auch die Geschwindigkeit, mit der sie sich durch die Galaxis bewegen, wird der Satellit mit höchster Präzision ermitteln und zudem die Leuchtkraft der Sterne in unterschiedlichen Spektralbereichen untersuchen.

Die Gaia-Mission soll aber auch die Geschwindigkeiten, mit der sich Satellitengalaxien um unsere Milchstraße bewegen, mit einer Genauigkeit von einigen Dutzend Kilometern pro Sekunde in drei Dimensionen erfassen. Möglicherweise wird sogar die Feinstruktur ihrer Bewegung in der Satellitenscheibe, innerhalb derer sie um die Milchstraße kreisen, erkennbar sein: Entstanden die Satellitengalaxien aus nicht nur einem, sondern aus zwei Gezeitenarmen, könnten wir auf gleich zwei Ströme von Satellitengalaxien stoßen, die in der Scheibe leicht gegeneinander versetzt sind.

Geht man statt vom kosmologischen Standardmodell von alternativen Ansätzen wie dem in diesem Artikel vorgeschlagenen MONDschen Universum aus, gelangt man zu weiteren Voraus sagen. Neueste Computersimulationen zeigen, dass die junge Milchstraße einst möglicherweise gleich mehrfach mit derselben Galaxie in Wechselwirkung trat, bevor beide schließlich verschmolzen. War dies der Fall, könnte Gaia sogar mehrere Generationen von Satellitengalaxien entdecken und damit auch mehrere, aber ähnlich ausgerichtete Scheibenebenen. In unserem Bonner Team erarbeiten wir mit Hilfe von Computermodellen der frühen Milchstraße derzeit entsprechende Voraussagen, um sie später mit Gaias Beobachtungsdaten abzugleichen.   pk/mp


Noch ist aber ein weiterer wichtiger Punkt zu klären. Auch die Sterne in Satellitengalaxien kreisen viel schneller um deren Zentren, als es die Schwerkraft der sichtbaren Masse vermuten lässt. Die Satelliten der Milchstraße müssten sogar einen extrem hohen Anteil an Dunkler Materie aufweisen, um stabil zu sein und nicht auseinanderzufliegen. Brauchen wir die Dunkle Materie also doch?

Hier hilft ein Blick auf die noch jungen Zwerggalaxien, die zur etwa 200 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie NGC 5291 gehören. Auch bei ihnen dürfte es sich um Gezeitengalaxien handeln, denn der Gezeitenarm, in dem sie entstanden, ist noch zu erkennen. Dennoch scheinen sie die zusätzliche Gravitation der Dunklen Materie zum Zusammenhalt zu benötigen, wie erstmals Frédéric Bournaud von der Université Paris Diderot im Jahr 2007 anhand ihrer Rotationskurven zeigte.

Doch Gezeitenarme verfügen nur über vergleichsweise wenig Dunkle Materie, wie die amerikanischen Astrophysiker Joshua Barnes und Lars Hernquist bereits 1992 im Wissenschaftsjournal »Nature« dargelegt haben. Denn diese verhält sich anders als ihr sichtbares Pendant. Statt sich in einer dünnen, rotierenden Scheibe anzuordnen, verteilt sie sich gleichmäßiger und sehr weiträumig um die interagierenden Galaxien. Sie ist also nicht einfach dort zu suchen, wo wir die Gezeitenarme sehen. Anders als die Gas- und Staubwolken in diesen Armen klumpt sie auch nicht. (Wird baryonisches Gas komprimiert, können die Atome ihre Energie abstrahlen, wodurch sie abkühlen und dann verklumpen. Komprimierte Dunkle Materie hingegen kann, weil sie nicht elektromagnetisch wechselwirkt, ihre Energie nicht auf diese Weise loswerden. Steigt der Druck, so treibt es die Partikel wieder nach außen weg.) Obwohl Gezeitenzwerggalaxien also mit Sicherheit keine signifikanten Mengen Dunkler Materie enthalten, wirken in ihnen größere Gravitationskräfte, als die bloße sichtbare Materie vermuten lässt. Welche Kraft hält aber dann die Galaxien zusammen?

Die Standardkosmologie und mit ihr die Dunkle-Materie-Hypothese fußt auf der Annahme, dass Einsteins allgemeine Relativitätstheorie (ART) nicht nur dort gültig ist, wo wir sie experimentell mit höchster Präzision überprüft haben, sondern auch auf kosmischen Skalen. Doch die Folgerungen aus der Dunkle-Materie-Hypothese widersprechen den Beobachtungen - die ART lässt sich in ihrer heutigen Form also nicht halten.

Dieses Paradoxon hat Folgen für unser Verständnis von Gravitation, von der wir bis heute nicht wirklich wissen, was sie eigentlich ist. Im einsteinschen Sinn müsste die Gravitation nicht als Kraft interpretiert werden, die Schwerkraftanziehung zwischen Massen wäre stattdessen auf die Krümmung der Raumzeit zurückzuführen. Anders als bei den drei übrigen Fundamentalkräften, die durch so genannte Austauschteilchen vermittelt werden, würde dann kein Austauschteilchen der Gravitation existieren.


Auf eine Wissenslücke gestoßen

Aber auch die moderne theoretische Physik kennt den genauen Zusammenhang zwischen Masse und Raumzeit bislang nicht. Noch ungeklärt ist etwa die wichtige Frage, ob die Raumzeit aus der Existenz von Materie hervorgeht oder ob sie überhaupt unabhängig von Masse existieren kann. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Astronomie genau im Bereich der Gravitation eine Wissenslücke aufdeckt.

Die beschriebenen Widersprüche zwischen kosmologischem Standardmodell und astronomischen Beobachtungen legen nun die Annahme nahe, dass wir ein anderes Verständnis der Gravitation in Galaxien benötigen und die Gravitationsgesetze neu formulieren müssen - so, dass die Schwerkräfte unter bestimmten Umständen um ein weniges stärker sind als gedacht. Diese Alternative zur Standardkosmologie ist konzeptionell sogar einfacher als die Dunkle-Materie-Hypothese, was aus wissenschaftstheoretischen Gründen für sie spricht. Und auch das Standardmodell der Teilchenphysik müsste nicht um die Partikel der Dunklen Materie ergänzt werden und besäße weiterhin Gültigkeit. In Galaxien würde keine Masse mehr »fehlen«, stattdessen würde die sichtbare, baryonische Materie leicht stärkere Kräfte verursachen.

Eine Vielzahl von Untersuchungen hat in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass die Eigenschaften von Galaxien wie etwa die Unregelmäßigkeiten ihrer Rotationskurven anscheinend nur von der Verteilung der sichtbaren Materie abhängen - dass also die Dunkle Materie, wenn es sie denn gäbe, auf beinahe magische Weise mit normaler Materie gekoppelt sein müsste. Eine Beschreibung, die von Newtons Gravitationsgesetz abweicht, würde diese scheinbare Kopplung hingegen auf völlig natürliche Weise erklären.

Den hervorragenden Bestätigungen der einsteinschen ART widerspricht all dies nicht, denn die entsprechenden Experimente fanden stets auf sehr viel kleineren Skalen statt - die Gravitationsgesetze gelten daher nicht notwendigerweise auch auf der Ebene von Galaxien. Selbst die Erkenntnis, dass die großräumige Verteilung der Materie im Kosmos mit den Vorhersagen der ART übereinstimmt, ist kein Beweis dafür, dass die Theorie vollständig korrekt ist. Denn naturwissenschaftliche Theorien lassen sich aus prinzipiellen Gründen niemals beweisen. Man kann sie lediglich in konkreten Experimenten überprüfen, um festzustellen, ob sie dort Gültigkeit besitzen. Eine einzige Widerlegung reicht jedoch aus, um ihre Allgemeingültigkeit zu widerlegen.


EINSPRUCH?

Viele Forscher behaupten, dass sich das Standardmodell auf kleinen Skalen nicht testen lässt. Die physikalischen Prozesse der baryonischen Materie wie etwa die Sternentstehung seien zu komplex, als dass man sie in Simulationen großräumiger kosmischer Entwicklungen präzise genug berücksichtigen könne. Folglich besäßen die Simulationen auch nur auf größeren Skalen Aussagekraft. Doch dieser Einwand erfolgt zu Unrecht, denn alle im nebenstehenden Artikel genannten Folgerungen aus dem Standardmodell beziehen sich auf fundamentale Erhaltungssätze der Energie und des Drehimpulses und keineswegs auf Details der baryonischen Physik.


Eine allgemein akzeptierte, konkrete Formulierung einer modifizierten Gravitation gibt es heute noch nicht. Momentan befinden sich aber einige Alternativen im Wettstreit. Am bekanntesten ist wohl die Modifizierte newtonsche Dynamik (MOND), auf die immer mehr Forscher ihre Hoffnungen richten. Erstmals formuliert wurde diese Theorie 1983 vom israelischen Physiker Mordehai Milgrom (»Gibt es Dunkle Materie?« von Mordehai Milgrom, SdW 10/2002, S. 34). Sie basiert auf einer Modifikation des 2. newtonschen Gesetzes, dem zufolge die auf einen Körper wirkende Kraft proportional zu dessen Beschleunigung ist. Dieses Gesetz ist in weiten Bereichen hervorragend bestätigt. Bei Beschleunigungen unterhalb einer bestimmten Schwelle treten Milgrom zufolge jedoch Abweichungen davon auf.

Aus Rotationskurven von Galaxien wurde für diese Schwelle eine Größenordnung von 10-10 m/s² abgeleitet. (Zum Vergleich: Auf der Erdoberfläche erfahren wir durch die Erdmasse eine Beschleunigung, die 100 Milliarden Mal stärker ist.) Der Ursprung dieser winzigen Abweichung könnte nach unserer Sicht möglicherweise in quantenmechanischen Prozessen liegen, die sich in der Raumzeit abspielen, oder in der Existenz zusätzlicher, noch unbekannter Felder. Diese könnten die von Massen verursachten Störungen der Raumzeit weitertragen, als dies die herkömmliche Theorie voraussagt. Ein anderer Vorschlag stammt vom Physiker John Moffat vom kanadischen Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo (Ontario). Dessen Modified Gravity (MOG) basiert darauf, im Fall schwacher Felder eine weitere Kraft zur Gravitation zu addieren. Diese ähnelt der so genannten Yukawa-Kraft, die in Atomkernen eine wichtige Rolle spielt.

Vielleicht muss die ART aber gar nicht modifiziert werden. Auch bisher unberücksichtigte Raumzeiteffekte, die nur im Fall sehr schwacher Gravitation, also sehr geringer Krümmungen des Raums auftreten, könnten Abweichungen verursachen.

Theorien zur Erklärung der Gravitations anomalien in Galaxien werden unter Wissenschaftlern derzeit immer intensiver debattiert und stellen ein rasant wachsendes Forschungsfeld dar. Das kommende Jahrzehnt dürfte also sehr spannend werden. Noch ist nichts entschieden, eins aber ist schon jetzt sicher: Die wahre Geschichte des Universums muss erst noch geschrieben werden.


Pavel Kroupa hat an der englischen University of Cambridge promoviert. Derzeit leitet der australische Staatsbürger die Arbeitsgruppe Sternpopulationen und Sterndynamik am Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn. Sein Forschungsinteresse gilt der Dynamik von Sternen und Galaxien. In Zukunft will er sich den Varianten der modifizierten newtonschen Dynamik widmen.
Marcel Pawlowski promoviert an der Universität Bonn im Fachbereich Astrophysik.


Literatur

Bournaud, F. et al.: Missing Mass in Collisional Debris from Galaxies. In: Science 316(5828), S. 1166-1169, 25. Mai 2007.

Gentile, G. et al.: Tidal Dwarf Galaxies as a Test of Fundamental Physics. In: Astronomy and Astrophysics 472(2), S. L25-L28, 2007.

Kroupa, P. et al.: Local-Group Tests of Dark-Matter Concordance Cosmology: Towards a New Paradigm for Structure Formation. In: Astronomy and Astrophysics, im Druck. http://xxx.uni-augsburg.de/abs/1006.1647.

Peebles, P.J.E. Nusser, A.: Nearby Galaxies and Problems of Structure Formation; a Review. In: Nature 465(7298), S. 565-569, 3. Juni 2010. http://adsabs.harvard.edu/abs/2010arXiv1001.1484P.

Tiret, O., Combes, F.: Evolution of Spiral Galaxies in Modified Gravity. In: Astronomy and Astrophysics 464(2), S. 517-528, 2007.

Weitere Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/1037414.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 23:
In dem langen Gezeitenarm (rechts oben im Bild) der miteinander verschmelzenden Mäusegalaxien bilden sich kleine so genannte Gezeitenzwerggalaxien. Der Mechanismus ihrer Entstehung könnte auch vollständig beschreiben, wie sich die Satellitengalaxien um unsere Milchstraße bildeten. Dunkle Materie, einer der Stützpfeiler des kosmologischen Standardmodells, wäre für die Erklärung ihrer Existenz dann überflüssig.

Abb. S. 24:
Dunkle Materie, sichtbar gemacht: Diese Simulation zeigt den Dunkle-Materie-Halo, der laut kosmologischem Standardmodell die Milchstraße (Mitte) umgibt, als Negativbild. Grundlage der Darstellung sind Berechnungen an einem Supercomputer, die der theoretische Physiker Jürg Diemand von der Universität Zürich im Jahr 2008 durchführte. Die auffallend große Zahl von Subhalos (helle Punkte im Bild), in denen sich sichtbare Satellitengalaxien bilden können, steht im Widerspruch zu astronomischen Beobachtungen, bei denen bislang nur wenige Milchstraßenbegleiter aufgespürt wurden.

Abb. S. 25:
Die Geschwindigkeit, mit der Sterne um das Zentrum einer Galaxie rotieren, hängt davon ab, wie weit sie von ihm entfernt sind. Die Grafik, eine so genannte Rotationskurve, zeigt diesen Zusammenhang. Ab einer bestimmten Entfernung, so ergeben Berechnungen mit Hilfe der newtonschen Gesetze, müsste die Rotationsgeschwindigkeit der Sterne abnehmen. Tatsächlich aber beobachtet man, dass außen liegende Himmelskörper die Galaxie viel schneller umkreisen als erwartet.

Abb. S. 26:
Mittlerweile sind 24 Satellitengalaxien der Milchstraße (die hier nicht maßstabsgerecht abgebildet ist) sicher identifiziert. Rund zehn von ihnen wurden erst im vergangenen Jahrzehnt entdeckt. Doch noch immer sind es viel zu wenige, gemessen an den Hunderten von Objekten, die das kosmologische Standardmodell voraussagt. Nicht abgebildet, weil erst kürzlich entdeckt oder zu weit entfernt, sind Leo I, Leo II und Leo V sowie Canes Venatici I, Pisces I und Pisces II. Segue II (ebenfalls nicht im Bild) sowie Segue I sind noch »nicht eindeutig identifiziert«. In den Grafiken S. 27 unten werden sie durch Quadrate dargestellt. Dreht man das obige Bild um 180 Grad um die senkrechte Achse, entspricht die Perspektive etwa derjenigen auf Grafik b.

Abb. S. 27:
Die Satellitengalaxien der Milchstraße sind in einer Scheibe angeordnet. Das Diagramm a) zeigt den Blick auf deren Kante. Diagramm b) ist um 90 Grad um die senkrechte Achse gedreht (von oben gesehen im Uhrzeigersinn), erlaubt also den Blick auf die Scheibenebene. Diese ist in a) mit einer dünnen Linie markiert, die gestrichelten Linien deuten ihre Dicke an. Der kurze Strich im Zentrum entspricht der horizontal liegenden Scheibe der Milchstraße (ihr Durchmesser ist kleiner als die Dicke der Satellitenscheibe). Die elf gelben Punkte stellen die schon länger bekannten leuchtkräftigen Satellitengalaxien dar. Die 13 in jüngerer Zeit gefundenen leuchtschwächeren Exemplare sind grün markiert. Zwei Quadrate stehen für noch nicht eindeutig identifizierte Objekte. Die grauen Kegel deuten schließlich die Raumregion an, in der die Milchstraße unseren Blick auf mögliche Satelliten versperrt.

Abb. S. 28 links:
Die 420 Millionen Lichtjahre entfernte Kaulquappengalaxie UGC 10214 ist eine stark verformte Balken-Spiralgalaxie. Ihr 280.000 Lichtjahre langer Gezeitenarm verdankt sich dem einstigen Durchflug eines kleineren Sternsystems. Er beherbergt eine Reihe von Sternhaufen mit jeweils einigen hunderttausend neugeborenen, zum Teil sehr massereichen Sternen. Weil diese viel heißer sind als die Sonne, senden sie bläuliches Licht aus. Computersimulationen, die von der Arbeitsgruppe der Autoren dieses Artikels durchgeführt wurden, zeigen, dass die Gruppen von Sternhaufen mit der Zeit zu Gezeitenzwerggalaxien verschmelzen.

Abb. S. 28 rechts:
Diese Konstellation aus drei miteinander wechselwirkenden Sternsystemen wird im Englischen »Dentist's Chair« (Zahnarztstuhl) genannt und offiziell als AM 1353-272 bezeichnet. Die auffälligste Galaxie (A) zeichnet sich durch zwei rund 100.000 Lichtjahre lange Gezeitenarme aus, in denen Astronomen zahlreiche Kandidaten (mit roten Kleinbuchstaben gekennzeichnet) für entstehende Gezeitenzwerggalaxien entdeckten. Einige Objekte sind bislang unidentifiziert (weiße Kleinbuchstaben). Außerdem besteht die Konstellation aus einer Scheibengalaxie (B) sowie einem elliptischen Sternsystem (C).

Abb. S. 30:
Ließen sich einige der Satellitengalaxien der Milchstraße als Gezeitenzwerggalaxien identifizieren, würde das Problem der »fehlenden Satelliten« noch drängender: Denn dann wären kaum noch Satelliten vorhanden, für deren Erklärung die Dunkle Materie benötigt wird. Tatsächlich entstehen Gezeitenzwerg galaxien aber auch schon im Standardmodell. Dieses Bild aus einer Simulation, in der die Dunkle Materie berücksichtigt wird, zeigt zwei Scheibengalaxien in einer späten Kollisionsphase; auch der zentrale Bulge der künftigen Galaxie (heller Punkt in der Bildmitte) ist bereits erkennbar. Vor allem aber sind, wie Perlen an einer Schnur aufgereiht, im unteren Gezeitenarm die Vorläufer von Gezeitenzwerggalaxien zu sehen.

Abb. S. 31:
Um die Kollision zweier milchstraßenähnlicher Scheibengalaxien zu simulieren, muss nicht unbedingt die Existenz Dunkler Materie angenommen werden. Im Jahr 2008 war es Olivier Tiret (jetzt an der International School for Advanced Studies in Triest) und Françoise Combes vom Observatoire de Paris erstmals gelungen, bei Berechnungen auf Basis nichtnewtonscher Dynamik auch die Ausbreitung von Gezeitenarmen und die Bildung von Zwerggalaxien zu reproduzieren (Bild). Simulationen dieser Art sind sehr viel aufwändiger als newtonsche Rechnungen und bislang nur in niedriger Auflösung möglich.


© 2010 Pavel Kroupa, Marcel Pawlowski, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 8/10 - August 2010, Seite 22 - 31
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2010