Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → ASTRONOMIE

FORSCHUNG/437: Astronomen stellen Dunkle Materie infrage (idw)


Universität Wien, Alexander Dworzak, 18.11.2010

Astronomen stellen Dunkle Materie infrage


In einem gemeinsamen Forschungsprojekt untersuchen Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie der Universität Wien und sein Kollege Pavel Kroupa von der Universität Bonn sogenannte Gezeiten-Zwerggalaxien. Sie sind in jenen großen Materieauswürfen (Gezeitenarmen) zu finden, die beim Verschmelzen zweier Galaxien entstehen. Das bessere Verständnis der Gezeitenzwerge bedeutet für die beiden Sternforscher, sich von einer Theorie zu entfernen, die in der Astronomie fast schon als Dogma gilt: In ihrer aktuellen Publikation im Journal "Astronomy and Astrophysics" stellen sie die Existenz der Dunklen Materie infrage.

Zwerggalaxie Leo I im Sternbild Löwe, die vom Stern Regulus - dem hellsten Stern im Sternbild - überstrahlt wird. - © Russell Croman

Zwerggalaxie Leo I im Sternbild Löwe, die vom Stern Regulus - dem hellsten
Stern im Sternbild - überstrahlt wird.
© Russell Croman

"Die Mehrzahl der AstronomInnen ist davon überzeugt, dass sich 'das Universum und der ganze Rest' nur mit der Existenz von Cold Dark Matter (CDM) erklären lässt - das ist Materie, die nicht direkt beobachtbar ist, aber die Masse im Universum bei weitem dominiert und gravitativ mit sichtbarer Materie wechselwirkt, ohne sich wie diese zu verhalten", sagt Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie. Seit den 1970er-Jahren wird erfolglos nach den unsichtbaren Teilchen geforscht.


Was das Universum zusammenhält

"Die Idee der Dunklen Materie hat sich derart festgesetzt, dass viele keine Kritik daran akzeptieren", so Hensler, der diese Haltung teilweise nachvollzieht: "Auf großen Skalen funktioniert die Theorie wunderbar. Es gibt zurzeit keine bessere Erklärung für bestimmte Phänomene, die wir zwar beobachten, aber nicht allein mit der Masse der sichtbaren Materie erklären können." Dazu gehört u.a., dass Galaxien so schnell rotieren, dass die Sterne darin nicht den Gesetzen der Fliehkraft entsprechen. Kalte Dunkle Materie hält angeblich dank ihrer Masseanziehung die Galaxien zusammen.


Zweifel verdichten sich

Das CDM-Szenario wankt, sobald man sich auf kleine Skalen begibt. Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie der Universität Wien und sein Bonner Kollege Pavel Kroupa untersuchen Satellitengalaxien, die um unsere Milchstraße kreisen: "Hier passen die Vorhersagen vorne und hinten nicht mit den Beobachtungsdaten überein." In einer aktuellen Publikation im Journal "Astronomy und Astrophysics" präsentieren sie mit Kollegen aus Deutschland, Frankreich und Australien fünf Widersprüche, die das Dunkle-Materie-Modell vor massive Probleme stellen. Die Ergebnisse basieren auf Beobachtungsdaten von rund 50 Satellitengalaxien der Milchstraße und des Andromeda-Nebels.


Fünf Widersprüche

Einer dieser Widersprüche ist die Diskrepanz zwischen den errechneten und den beobachteten Masse-Leuchtkraft-Verhältnissen in Satellitengalaxien: Nach dem CDM-Szenario sollten sie umso heller leuchten, je mehr Dunkle Materie sie enthalten, da Dunkle Materie sichtbare Materie anzieht. "Die Ergebnisse unserer Parameterstudie weichen jedoch eindeutig von den Vorhersagen der Simulationen ab", erläutert Hensler.

Simulation von Einheiten Dunkler Materie um das Hauptpotential der massereicheren Milchstraße - © Joachim Stadel

Simulation von Einheiten Dunkler Materie um das Hauptpotential der
massereicheren Milchstraße mit einer Ausdehnung von 200 Kiloparsec
(entspricht dem sechsfachen Durchmesser der Milchstraße)
© Joachim Stadel

Weiters sollten dem Modell zufolge mindestens 1.000 Satellitengalaxien um unsere Milchstraße und den Andromeda-Nebel kreisen. "Tatsächlich sehen wir aber nur 25, und die sind nicht zufällig verteilt wie die Theorie vorhersagt, sondern bilden eine Art Scheibe." Deshalb bevorzugen die beiden Wissenschafter die These, dass diese Zwerggalaxien als Gezeitengalaxien entstanden sind.


Suche nach Alternativen

Auch weitere Beobachtungen, etwa Schwankungen in der Rotationkurve von Galaxien, können mit dem CDM-Modell nicht erklärt werden "Wir müssen anfangen, Alternativen ernsthaft in Erwägung zu ziehen", so Hensler. Dazu zählt die Anpassung der Newtonschen Gravitationstheorie - wie es die VertreterInnen der Modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND-Theorie) versuchen. "Vermutlich liegt die Ursache sogar noch tiefer in den Grundfesten unserer Physik", so Hensler.


Publikation

Local-Group tests of dark-matter Concordance Cosmology: Towards a new paradigm for structure formation?
(P. Kroupa, B. Famaey, K. S. de Boer, J. Dabringhausen, M. S. Pawlowski, C. M. Boily, H. Jerjen, D. Forbes, G. Hensler, A. Del Popolo, M. Metz)
Erschienen in der aktuellen Ausgabe des Journals "Astronomy and Astrophysics". Online als Preprint unter
http://www.aanda.org/index.php?option=com_article&access=doi&doi=10.1051/0004-6361/201014892&Itemid=129
(DOI: 10.1051/0004-6361/201014892)

Weitere Informationen unter:

http://univie.ac.at/175


Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution84


*


Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Wien, Alexander Dworzak, 18.11.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2010