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FORSCHUNG/472: Gammablitz oder Megaflare - was geschah im Mittelalter (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 4/13 - April 2013
Zeitschrift für Astronomie

Gammablitz oder Megaflare - was geschah im Mittelalter?

Von Jan Hattenbach



Untersuchungen von Baumringen und Eisbohrkernen zeigen, dass vor rund 1240 Jahren ein mysteriöses Himmelsereignis Auswirkungen auf die Erde hatte. Bei der Suche nach dem Übeltäter geraten Astronomen allerdings in Erklärungsnöte. Die Hauptverdächtigen sind bislang ein kurzer Gammablitz und unsere Sonne.


Was immer es war, bemerkt haben die Menschen des Mittelalters offenbar nichts davon. Gerade das macht umso rätselhafter, was Wissenschaftler in den Baumringen besonders alter Exemplare der Japanischen Zeder fanden: eine außergewöhnlich hohe Konzentration von radioaktivem Kohlenstoff-14, entstanden irgendwann in den Jahren 774 oder 775 nach Christus (siehe Grafik in der Printausgabe). Die Forscher um Fusa Miyake von der Universität Nagoya erklären das mit einem drastischen und sprunghaften Anstieg der kosmischen Strahlung in Erdnähe. Auf den Tag genau lässt sich das Ereignis zwar nicht eingrenzen, sicher ist aber, dass die Erde innerhalb dieses einen Jahres von einem um den Faktor 20 stärkeren Strom kosmischer Strahlung getroffen wurde, als ihn selbst die heftigsten bekannten Ausbrüche auf der Sonne auslösen können. Weil sich ein ähnlicher Anstieg auch in anderen Baumringmessungen und in der Beryllium-10-Konzentration (Be-10) in antarktischen Eisbohrkernen zeigt, ist der Fund mehr als nur eine messtechnische Kuriosität.

Kohlenstoff-14 (C-14) ist ein radioaktives Isotop mit einer Halbwertszeit von 5730 Jahren. Es wird in der oberen Atmosphäre ständig neu gebildet, wenn energiereiche Teilchen aus dem All auf Luftmoleküle treffen und dabei Neutronen freisetzen (Spallation). Diese lagern sich an Stickstoffatome an und bilden dabei C-14. Die Sonne ist ein Hauptlieferant geladener kosmischer Partikel und für die Bildung des radioaktiven Kohlenstoffs ebenso verantwortlich wie andere kosmische Quellen, etwa Supernova-Explosionen oder Pulsare. Die von Miyake und Kollegen angewendete Radiokarbonmethode beruht darauf, dass der Anteil des C-14-Isotops in lebenden Organismen auf Grund der beständigen Nahrungsaufnahme konstant bleibt, in abgestorbenen Tieren und Pflanzen jedoch durch den radioaktiven Zerfall des C-14 exponentiell abnimmt.


Enger Kreis der Verdächtigen

Irgendein kosmisches Ereignis muss also zur Zeit Karls des Großen erheblich mehr energiereiche Partikel zur Erde geschickt haben als üblich. Die Auswahl an Übeltätern, die dafür verantwortlich sein können, ist nicht groß. So würde etwa die Gammastrahlung einer nicht allzu weit entfernten Supernova unbeeinflusst durch galaktische Magnetfelder auf direktem Weg zur Erde gelangen. In der Hochatmosphäre kann sie dann durch den beschriebenen Mechanismus der Neutronenspallation C-14 bilden. Um die in den Zedern gemessene C-14-Konzentration zu verursachen, müsste sich die Supernova allerdings erheblich näher als 7000 Lichtjahre ereignet haben - denn die Sternexplosionen der Jahre 1006 und 1054, die sich beide etwa in dieser Entfernung abspielten, haben keinen messbaren C-14-Anstieg verursacht. Doch bis heute sind keinerlei Aufzeichnungen von einer Beobachtung einer Supernova in den Jahren 774 und 775 bekannt. Dabei hätte sie sicherlich für helle Aufregung gesorgt, denn über Wochen hinweg wäre solch ein »neuer Stern« selbst am Taghimmel sichtbar gewesen. Selbst wenn er so weit südlich am Himmel stand, dass ihn niemand in der bewohnten Welt gesehen hat, müsste heute ein Supernova-Überrest, also eine expandierende Gaswolke oder ein Pulsar, in Radio-, Röntgen- und anderen Teleskopen geradezu auffällig sein - doch gefunden wurde bislang nichts dergleichen.


Gigantischer Sonnenflare?

Eine Supernova scheidet also aus diesem Grund als Erklärung so gut wie aus. Der nächste Kandidat wäre die Sonne: Ein Sonnenflare mit einer freigesetzten Energie von rund 1027 Joule könnte den Anstieg des C-14 ebenfalls erklären. Verantwortlich für die C-14-Produktion wären in diesem Fall die energiereichen Protonen. Das Problem: Selbst der energiereichste je beobachtete solare Ausbruch, das so genannte Carrington-Ereignis von 1859, schleuderte nur rund 7 · 1025 Joule ins All und war damit deutlich zu schwach. Außerdem hätte ein Sonnenflare dieser Größenordnung ebenfalls sichtbare Konsequenzen für die Zeitgenossen des Mittelalters gehabt. Ausgeprägte Polarlichter müssten bis in mittlere Breiten sichtbar gewesen sein, denn beim Carrington-Ereignis von 1859 waren die Aurorae bereits bis Hawaii zu sehen. Beobachtungen dieser Art in den Jahren 774 und 775 sind ebenfalls keine bekannt. Miyake und seine Kollegen halten daher auch diese Erklärung für unzureichend.

Im Januar 2013 brachten Ralph Neuhäuser und Valeri Hambaryan von der Universitäts-Sternwarte Jena deshalb eine weitere Möglichkeit ins Spiel. Ein wenige Sekunden kurzer Gammastrahlenausbruch (englisch: gamma ray burst, GRB), verursacht durch die Verschmelzung zweier Weißer Zwerge, Neutronensterne oder Schwarzer Löcher in einer Entfernung von maximal 13.000 Lichtjahren könnte ebenfalls genug Teilchen zur Erde geschickt haben. Mit seiner kurzen Dauer ließen sich die fehlenden Sichtungen erklären, und statt eines ausgedehnten Nebels verbliebe beim GRB nur einen Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch. Auch das Verhältnis der entstandenen Menge von C-14 im Vergleich zur entstandenen Menge von Be-10 wäre mit den Spektren von kurzen GRBs verträglich, meint Neuhäuser. Vorteil dieser Hypothese: Sie lässt sich testen. Ein Neutronenstern oder selbst ein Schwarzes Loch in dieser relativ geringen Entfernung müsste sich aufspüren lassen, etwa durch hineinstürzende Materie und die dadurch freigesetzte Röntgenstrahlung. Aus diesen Gründen hat die Theorie der Jenaer Astronomen einen besonderen Reiz. Freilich gibt es für ihre Richtigkeit, wie auch für die der beiden anderen Szenarien bislang keine positiven beobachterischen Belege.


Überraschende Beobachtungen des Weltraumteleskops Kepler

Für mehrere Forschergruppen scheint jedenfalls Möglichkeit Nummer zwei - die Sonne - nach wie vor ein wahrscheinlicher Kandidat. Aber kann unser Tagesgestirn überhaupt einen Flare der nötigen Stärke produzieren? Ein Sonnenflare ist die spontane Freisetzung großer Energiemengen, die zuvor im solaren Magnetfeld gespeichert waren. Die umformulierte Frage lautet daher: Ist die Sonne in der Lage, genügend Energie zu speichern, bevor der »Auslöser« gedrückt und die Energie in das Weltall freigesetzt wird?

Leider sind viele Details der Flare-Entstehung auf der Sonne noch nicht verstanden. Doch wie so oft hilft ein Blick ins tiefere All: Das Weltraumteleskop Kepler beobachtet rund 170.000 Sterne auf minimale Helligkeitsveränderungen, hervorgerufen durch den Transit von Exoplaneten (siehe auch S. 50 der Druckausgabe). Natürlich fallen dabei auch Sternflares auf.

Wer bisher dachte, Superflares, wie sie für die Erklärung des mysteriösen Mittelalter-Ereignisses herangezogen werden müssten, kämen bei sonnenähnlichen Sternen nicht vor, wird von Kepler eines Besseren belehrt. Hiroyuki Maehara von der Universität Kyoto und seine Mitarbeiter fanden in den Kepler-Daten 365 Superflares bei 148 sonnenähnlichen Sternen mit Energien zwischen 1026 und 1028 Joule. Einige hatten also genug Energie, um den gemessenen C-14-Anstieg auf einem Planeten mit einer Astronomischen Einheit Bahnradius, also dem Sonnenabstand zur Erde, zu erklären. Die beobachteten Sterne besitzen keine heißen Jupiter als Begleiter - ein wichtiges Detail, denn zuvor hatte man gedacht, ein naher Planet könne für die Entstehung der Flares verantwortlich sein. Keplers Superflare-Sterne ähneln also in jeder Hinsicht unserer Sonne - warum sollten Superflares also nicht auch bei ihr auftreten?

Kazunari Shibata, ebenfalls an der Universität Kyoto beschäftigt, untersuchte daher mit einem Team von Kollegen, unter welchen Umständen die gängigen Theorien der Flare-Entstehung einen Superflare auf unserem Mutterstern zulassen - und wie oft ein solches Ereignis statistisch zu erwarten wäre. Ihr Ergebnis ist bemerkenswert: Ein Ereignis mit einer freigesetzten Energie von 1027 Joule könnte demzufolge alle 800 Jahre eintreten, eines mit 1028 Joule immerhin alle 5000 Jahre. Ankündigen würden sich solch außergewöhnliche Ausbrüche lange im Voraus - durch langlebige, extrem große Sonnenflecken.


Sonnenflecken verdunkeln die Sonne?

Aber genau hier liegt das Problem dieser - sehr spekulativen - Studie, finden Carolus Schrijver vom Lockheed Martin Advanced Technology Center in Palo Alto im US-Bundesstaat Kalifornien und seine Mitarbeiter. Ein solcher Fleck müsste mindestens zwölf Prozent der sichtbaren Sonnenhemisphäre bedecken und damit die Solarkonstante in Erdnähe spürbar reduzieren - doch auch so etwas hat noch niemand beobachtet (siehe Bild S. 26 der Druckausgabe). Selbst im Mittelalter ohne die Hilfe durch Teleskope hätten die Menschen einen solchen Fleck bemerkt, meint Schrijver. Der größte je beobachtete Sonnenfleck wurde im Jahr 1874 vom Royal Greenwich Observatory in England dokumentiert. Er bedeckte gerade einmal 0,84 Prozent der Sonnenscheibe. Schrijver und sein Team halten es daher für unwahrscheinlich, dass Flares jenseits von 1026 Joule, entsprechend etwa der Röntgenintensitätsklasse X-17, bei unserer Sonne überhaupt auftreten.

Also doch ein kurzer Gammablitz? Was aber, wenn sich kein Schwarzes Loch oder Neutronenstern passenden Alters und Entfernung von der Erde finden lässt? Dann bleibt, aller beobachterischen Defizite zum Trotz, die Sonne der einzige Kandidat zur Erklärung des mysteriösen Strahlungsausbruchs.

Nun stellt sich die Frage, was man mit all diesen Spekulationen anfangen soll. Muss sich die Menschheit für Super-Sonnenflares rüsten? Vielleicht sollte man auf Werner Curdt vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindlau hören: Auch er hält das von Shibata und dessen Kollegen entworfene Szenario für unwahrscheinlich. Solange jedoch der auslösende Mechanismus von Sonnenflares nicht vollständig verstanden ist, könne man nicht ausschließen, dass solch ein Ereignis eines Tages tatsächlich einmal eintreten wird. Wir tun also recht gut daran, uns mit diesem Thema zu beschäftigen.

Im Gegensatz zu unseren Vorfahren im Mittelalter hätte ein Superflare für unsere hochtechnisierte Gesellschaft drastische Konsequenzen - Elektronik und Elektrik würden flächendeckend Schaden nehmen. Das alleine ist Grund genug, Curdts Rat zu folgen. Das Rätsel eines mysteriösen kosmischen Strahlenausbruchs zu Zeiten Karls des Großen bleibt jedenfalls vorerst ungelöst.


Jan Hattenbach ist Physiker und an der Sternwarte der Volkshochschule Aachen tätig. In seinem Blog »Himmelslichter«, zu finden unter www.scilogs.de/kosmologs, schreibt er über alles, was am Himmel passiert.


Literaturhinweise

Hambaryan, V.V., und Neuhäuser, R.: A Galactic short gamma-ray burst as cause for the 14C peak in AD 774/5. Erscheint in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society. doi:10.1093/mnras/sts378
Maehara, H. et al.: Superflares on solartype stars. In: Nature 485, S. 478-481, 2012
Miyake, Fusa, et al.: A signature of cosmic ray increase in AD 774-775 from tree rings in Japan. In: Nature 496, S. 240-242, 2012
Schrijver, C.J. et al.: Estimating the frequency of extremely energetic solar events, based on solar, stellar, lunar, and terrestrial records. Journal of Geophysical Research, Vol. 117, A08103, 2012. doi: 10.1029/2012JA017706
Shibata, K. et al.: Can Superflares occur on our sun? Erscheint in: Publications of the Astronomical Society of Japan 65/3, 2013. arXiv: 1212.1361

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w i s - wissenschaft in die schulen

Didaktische Materialien zu diesem Beitrag

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WiS in Sterne und Weltraum

»Sonnenflecken und der Lebensrhythmus der Sonne« bezieht sich auf den Kurzbericht »Gammablitz oder Megaflare - was geschah im Mittelalter?« auf S. 26 und behandelt die schon in einem kleinen Fernrohr auffälligen dunklen Flecke auf der Sonnenscheibe. Sie lassen sich mit einfachen schulischen Mitteln beobachten, zählen und auswerten. Eine Praktikumsaufgabe ist die Bestimmung der Sonnenfleckenrelativzahl.
(ID-Nummer: 1051477)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 26:
Die künstlerische Darstellung zeigt einen hypothetischen Riesenfleck auf der Sonne. Er könnte einen Flare (weiß) mit der erforderlichen Energiemenge hervorbringen, der die C-14-Konzentration in den Baumringen erklären würde. Solch ein Sonnenfleck müsste wenigstens zwölf Prozent der Scheibe bedecken. Bislang wurden derart gigantische Riesenflecken auf der Sonne aber noch nicht gesichtet.

Abb. S. 27:
C-14-Messungen in Baumringen der Japanischen Zeder zeigen einen abrupten Anstieg dieses Isotops in den Jahren 774/775 an (rote Punkte mit Fehlerbalken). Gegenüber dem langjährigen Durchschnitt bei -18 Promille relativ zum weltweiten Mittelwert stieg die Konzentration innerhalb kurzer Zeit um 15 Promille an. Die durchgezogenen Linien sind Modellrechnungen zum Einfluss kosmischer Strahlung über verschiedene Zeitspannen zwischen 0,1 und 3 Jahren. Die besten Übereinstimmungen mit den Messwerten ergeben sich für Eintragsdauern unterhalb von einem Jahr.


© 2013 Jan Hattenbach, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 4/13 - April 2013, Seite 26 - 28
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
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Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
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Internet: www.astronomie-heute.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2013