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BERICHT/058: Der Pflanzenhüter (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2014

Der Pflanzenhüter

von David Schelp


Die Getreide-, Tomaten- und Kürbissorten, über die Andreas Börner wacht, wachsen auf keinem Feld: In der artenreichsten Genbank der Welt hütet der Pflanzenforscher Tausende vom Aussterben bedrohte Sorten, um die Vielfalt der Nutzpflanzenwelt zu sichern - und die Ernährung künftiger Generationen.


Es ist ein ausgesprochen kaltes Herz, dem Andreas Börner da seine Liebe schenkt. 28 Jahre seiner Studien hat er ihm mittlerweile gewidmet, ist um die halbe Welt gereist, um es immer von Neuem mit Leben zu füllen. "Es ist der Anfang und das Ende unserer Arbeit", erklärt der Forscher mit dem grauen Schnauzbart und den freundlichen Augen, "ihr Herzstück." Ein Satz, aus dem man nicht unbedingt schließen würde, dass Börner von einem Kühlhaus spricht: dem Kern der Genbank des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK).

Draußen scheint Augustsonne auf die 100 Hektar des Instituts, drinnen überzieht schon in der Schleuse zum Kühlhaus Gänsehaut Andreas Börners Unterarm. Er nimmt eine schwarze Daunenjacke aus einem Schrank, erzählt beiläufig vom erstaunlich niedrigen Krankenstand am Institut ("Die Kälte härtet scheinbar ab.") und zieht dicke Handschuhe an.

Als er die Sicherheitstür zum Kühllager öffnet, schlagen ihm -18 Grad Celsius entgegen. Dahinter fällt Kunstlicht auf deckenhohe Regalreihen. Auf Knopfdruck rollen sie ächzend auseinander und geben den Blick frei auf Tausende mit Samen gefüllte Gläser. Andächtig dreht Börner eines davon in der Hand. "Sehen sie, hier!" sagt er. "Die Urgroßeltern unseres Brotweizens."


Riesige Körner-Archen

Es sind ganze Pflanzengenerationen, deren Saatgut Andreas Börner und seine Kollegen in Gatersleben lagern. Genbanken wie die des IPK sind Pflanzenarchive. Riesige Körner-Archen, in denen Wissenschaftler Tausende Samenproben für die Nachwelt erhalten: Getreide, Gemüse, Gräser. Ihrer Arbeit liegt ein Motiv zugrunde, das der Moskauer Fabrikantensohn und Biologe Nikolai Iwanowitsch Vavilov vor nicht ganz 100 Jahren erstmals formulierte: das Erbgut möglichst vieler Nutzpflanzen sichern - bevor die Vielfalt für immer verloren geht.

Vavilovs Sorge war nicht unbegründet. Seit 1900 sind nach Schätzungen der Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen 75 Prozent der Nutzpflanzensorten ausgestorben. In Europa sind es sogar mehr als 90 Prozent. "Generosion" nennen Wissenschaftler das Schwinden der Sorten.

Sie sei, erklärt Börner, als er aus dem Kühlhaus kommt und die Jacke zurück in den Schrank hängt, vor allem darauf zurückzuführen, dass Landwirte nurmehr eine Handvoll hochgezüchteter Sorten aussäen, die besonders dicke Erträge versprechen. Ihre Vorfahren bleiben auf der Strecke: In 10.000 Jahren Zucht, sagt Börner, habe der Mensch die Nutzpflanzen von sich abhängig gemacht. Sie seien darauf angewiesen, bewässert, beschnitten und geerntet zu werden. "Alleine können sie meist nicht überleben."


Ganze Ernten in Gefahr

Die Monotonie auf den Feldern ist für den Menschen ein Problem. Sie bedroht die Ernährungssicherheit von morgen. Wenn Krankheiten oder Schädlinge ganze Ernten gefährden, durchleuchten Forscher und Züchter die Genome alter Sorten auf rettende Resistenzen. Auch in Anbetracht des Klimawandels ist die Arbeit von Genbanken elementar. "In 50 Jahren wachsen die Sorten von heute hier nicht mehr", sagt Börner. Alternativen aus von Hitze geprägten Ländern wie Marokko könnten helfen. "Sterben sie aus, haben wir ein Problem."

Schon Nikolai Vavilov, nach dem sie in Gatersleben das Gebäude der Genbank benannt haben, sammelte deshalb auf allen fünf Kontinenten Samen. In Leningrad, dem heutigen St. Petersberg, hortete er sie in der ersten Saatgutbibliothek überhaupt. Heute stehen weltweit 1.750 staatlich kontrollierte Genbanken: in China, den USA, Mexiko - und sogar in Syrien. Die Anlage ist dem Bürgerkrieg zum Trotz weiter in Betrieb. Weder das Regime noch die Rebellen wollen auf die Samen verzichten, wenn die Kämpfe eines Tages beendet sind.


Supergenbank im Permafrost

Und dann ist da noch der "Svalbard Global Seed Vault", eine Art Supergenbank in der norwegischen Arktis. Alle Genbanken der Welt, so der Plan, sollen Dubletten ihrer Proben in der 120 Meter tiefen Anlage einfrieren, fernab von Kriegsgebieten, geschützt vor dem Abschmelzen der Polkappen. Eine Sicherungskopie im Permafrost Spitzbergens.

Die Gänsehaut auf Börners Unterarm hat sich inzwischen geglättet. In Polohemd und Jeans schreitet er durch die Gänge der Genbank. Mit 150.000 Proben zählt sie zu den zehn größten Sammlungen ihrer Art. 3.212 Arten und 776 Gattungen machen sie zur artenreichsten Genbank überhaupt. Auf Expeditionen haben die Mitarbeiter des Instituts und seiner Vorgängereinrichtungen sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Ländern wie Usbekistan, China und Jordanien zusammengetragen.

Heute wären solche Sammelreisen nicht mehr möglich, sagt Börner. Regierungen betrachten ihr Saatgut als Ressourcen von nationaler Bedeutung. Besonders ehemalige Kolonien werfen den westlichen Industriestaaten und Saatgutkonzernen vor, ihre Flora lange genug ausgebeutet zu haben. Indien etwa lehnt es deshalb ab, Saatgut in der internationalen Genbank in Spitzbergen zu verwahren.


Saatgut-Versand in alle Welt

Andreas Börner hat Verständnis für das Misstrauen, auch wenn es zur Folge hat, dass er harte Verhandlungen führen muss, um neue Proben fürs IPK zu gewinnen. "Andererseits", gibt er zu bedenken, "wären noch weit mehr Pflanzen ausgestorben, hätte die Wissenschaft sie nicht gesammelt." Gerade machen zwei Mitarbeiterinnen der Genbank die Samen eines äthiopischen Weizens versandfertig. Der Adressat: Äthiopien - wo die Sorte inzwischen ausgestorben ist.

Im Internet kann jeder die Muster aus der Sammlung des IPK bestellen, Staaten, Forscher, Züchter. Auch Privatpersonen melden sich. "Es kommt schon vor, dass sich einer nach der Kartoffel seiner Jugend erkundet, die er in keinem Supermarkt mehr kriegt", sagt Börner. Das Institut stelle das Material allen Menschen zur Verfügung, egal ob sie aus Amerika oder dem Iran kommen. "Schließlich geht es um Grundnahrungsmittel."


"Echte Liebe zu den Pflanzen"

Auch deshalb ist es Börner wichtig, dass seine Mitarbeiter ihre Arbeit jeden Tag von Neuem mit Sorgfalt verrichten. Dass sie "echte Liebe zu den Pflanzen" mitbringen. In Börner ist sie früh gereift. Er ist auf einem Bauernhof groß geworden, den seine Familie seit Ende des 18. Jahrhunderts betreibt. Als kleiner Junge lernt er von seiner Großmutter Salat, Möhren und Zwiebeln zu ziehen. Später studiert er Agrarwissenschaften mit dem Schwerpunkt Pflanzenzüchtung in Halle. "Einen anderen Plan als die Pflanzen hat es nie gegeben." 1985 kommt Börner als Doktorand nach Gatersleben. Hier durchlebt er auch die Wendewirren. "Alles stand damals in Frage", erinnert er sich. Im wiedervereinigten Deutschland gibt es plötzlich zwei Genbanken - von denen eine geschlossen werden soll. "In ähnlich gelagerten Fällen hat es meist die Einrichtung im Osten getroffen", sagt Börner. Das IPK wird eine der wenigen Ausnahmen: Die Proben der ehemaligen BRD-Genbank wandern aus Braunschweig nach Sachsen-Anhalt.

Börner ist all die Jahre geblieben. Gleich links vom Institutseingang wohnt er. "Ich bin der Mitarbeiter mit dem kürzesten Weg zur Arbeit", sagt er und lacht.


Ewiges Leben in flüssigem Stickstoff

Inzwischen leitet Andreas Börner am IPK die Arbeitsgruppe "Ressourcengenetik und Reproduktion". Ihre Mitarbeiter verwahren die Samen nicht einfach. Sie wachen darüber, dass die Proben nicht verunreinigt werden und erforschen, wie ihre Lagerung weiter verbessert werden kann. Die meisten Proben lagern als Samen in fünf Kühlhäusern. Andere werden als fertige Pflanzen in in-vitro-Kulturen konserviert oder mithilfe des sogenannten Cryoverfahrens: In -190 Grad kaltem Flüssigstickstoff kommt ihr Stoffwechsel vollkommen zum Erliegen. Theoretisch können Börners Schützlinge so ewig überdauern.

Wenn er von all den Gurken, Leinsamen und Kürbissen spricht, die da schlummern, klingt Börner wie ein besorgter Vater: "So eine Genbank ist kein Museum - die Samen leben. Wir müssen sie pflegen und darüber wachen, wie es um sie steht." Eine Erbse könne schon mal 20 Jahre unter dem Küchentisch überleben. Mit einem Salatsamen könne man so nicht umspringen. "Nach spätestens vier Jahren ist der mausetot."

Schwungvoll betritt Börner ein Labor, in dem eine Studentin vor einem Dutzend Petrischalen sitzt, in denen sie Tomatensaat auf Filterpapier drapiert hat. Regelmäßig holen die Forscher Samen für sogenannte Keimproben aus dem Kühlhaus, um zu testen, ob sie noch lebensfähig sind. Keimen von 100 Samen einer Sorte weniger als 70, wird sie in den Gewächshäusern und auf den Feldern des Instituts ausgesät, um gesunden Ersatz für die Genbank zu gewinnen.

Aus der Ferne sehen sie aus wie eine Vorstadtsiedlung aus Glas. Wer das Vavilov-Haus verlässt, passiert bald symmetrisch angeordnete Gewächshäuser, in deren Innern sich grün die Silhouetten von Pflanzen abzeichnen. Wassermelonen wachsen in ihnen, grüne Auberginen und fast schwarze Paprikas. Ein Gewächshaus weiter gedeiht Tabak neben einem vier Meter hohen Hanf. "Auch eine Nutzpflanze", sagt Börner.


Bestäubung per Staubwedel

Dann erklärt er, dass aus den aufgeschnittenen Tetrapaks, die in den Ecken einiger Gewächshäuser hängen, Bienen schlüpfen. Summend bestäuben sie die Pflanzen. Kommen sie einmal nicht hinterher, helfen Gärtner mit Staubwedeln aus.

Auf Fahrrädern überholt eine Gruppe Frauen Börner, der über einen schmalen Weg in Richtung Felder spaziert. "Wohin geht's, Frau Schmidt?" ruft Börner. "Zu den Tomaten", ruft Frau Schmidt. Man würde halbe Tage verlieren, wenn man zig Mal zwischen Feld und Institut hin und her laufen würde. Bewerbungsgespräche beginnt Börner deshalb stets mit derselben Frage: "Können Sie Rad fahren?"

Zehn Minuten später stapft er vorbei an Möhren, Bohnen und Schlafmohn ("Unsere zweite Droge.") über einen Acker. Ein Stück weiter stehen Sonnenblumen, deren riesige Blüten mit Stoff verhüllt wurden, um sie vor ungewünschter Bestäubung und hungrigen Vögeln zu schützen. Wie eine Gruppe Außerirdischer mit weißen Schädeln wirken sie im Gegenlicht.

Ein engmaschiger Zaun schützt den Acker vor Hasen und Rehen, die die Arbeit eines ganzen Sommers zunichtemachen können. Wenn ihn doch mal eines der Tiere überwindet, treiben die Mitarbeiter es in einer langen Reihe vom Feld. Der viele Regen habe es ihnen dieses Jahr schon schwer genug gemacht, sagt Börner. "Einige Sorten werden wir kommendes Jahr wohl erneut aussäen müssen, um gesunde Samen zu gewinnen."

Auf der anderen Seite der Anbaufläche fotografiert Frau Schmidt mit einer Spiegelreflexkamera die über 300 Tomatensorten der Genbank, die in diesem Jahr im Anbau sind. Kleine Tomaten, eierförmige Tomaten. Und eine dicke gelbe Tomate namens "Golden King of Siberia". Die Dokumentation ist ein wichtiger Teil der Arbeit der Genbank: Wie sehen die Pflanzen aus, die den Samen entwachsen? Und steckt tatsächlich die Sorte in ihnen, die auf dem Glas im Kühlhaus vermerkt ist? Erst nachdem sie beschrieben wurden, werden die Pflanzen geerntet. Die letzte Frucht, ein Kürbis, verlässt im November das Feld.


Cherrytomate oder "Golden King of Siberia"?

Zurück im Vavilov-Haus wandert das frisch gewonnene Saatgut von Hand zu Hand. In einem Labor kratzen zwei Mitarbeiterinnen und ein Azubi an weißen Tischen Samen aus roten Paprikaschoten und gelben Tomaten. Eine dritte Kollegin wäscht die Kerne, bevor sie ein paar Räume weiter bei 20 Grad Raumtemperatur und zehn Prozent Luftfeuchtigkeit getrocknet werden.

Einige Getreide werden zu Forschungszwecken in ganzen Ähren getrocknet. Börners Lieblingspflanze Weizen beispielsweise, der er sich schon im Studium verschrieben hat. Konzentriert vermisst ein Doktorand die Ähren an einem Holztisch. Zwei Tische weiter trennt eine Kollegin kranke Gerstensamen von gesunden Gerstensamen. Aus einem Kofferradio schallt Musik.

Erst wenn das Saatgut gereinigt, getrocknet und geprüft wurde, füllen Börner und seine Kollegen es in Gläser und verstauen es ein weiteres Mal im Kühlhaus.

"Im Allerheiligsten", sagt Börner. Der Kreislauf schließt sich fürs erste.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- In Gewächshäusern und auf den Feldern des Instituts gewinnen Andreas Börner und seine Mitarbeiter gesunden Nachwuchs für die Genbank. Schlafmohn-Samen beispielsweise.

- Im Vavilov-Haus: Ein Doktorand vermisst die Ähren Andreas Börners Lieblingspflanze: des Weizens.

- Auf dem Feld: Stoffsäcke schützen Sonnenblumenblüten vor Vögeln und Bestäubung.

"Können Sie Rad fahren?" Mitarbeiterinnen der Genbank auf dem Rückweg ins Vavilov-Haus.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2014, Seite 20-25
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2015

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