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ORNITHOLOGIE/118: Wildgänse auf Kolguyev (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 3/2009

Zwischenbericht aus einem Forschungsprojekt: Wildgänse auf Kolguyev

Von Helmut Kruckenberg und Alexander Kondratyev


Wildgänse verbringen in großen Scharen den Winter bei uns in Nord- und Westdeutschland, in den Niederlanden und Belgien. Doch für die Sommermonate ziehen die meisten von ihnen in den hohen Norden - um dort zu brüten, ihre Jungen aufzuziehen und fernab der menschlichen Siedlungen ihr Großgefieder zu mausern. Seit dem Jahr 2006 erforscht ein deutsch-russisches Gänseforscherteam das vielleicht wichtigste Brutgebiet für Gänse in der westlichen Paläarktis: Kolguyev, eine Insel vor der nordrussischen Küste in der Barentssee. Wie die Wildgänse dort den Sommer verbringen, darüber berichtet das Forscherteam.


Blässgänse sind arktische Brutvögel. Sie brüten nördlich des Polarkreises zwischen der Kanin- und der Taimyr-Halbinsel im nördlichen Russland und Sibirien. Das Brutareal ist viele Hunderttausend Quadratkilometer groß. Im Herbst und im Frühjahr ziehen die Gänse zwischen den Brutrevieren und den Überwinterungsgebieten von Belgien im Westen bis Kasachstan im Südosten. Die Reisestrecke beträgt zwischen 2800 und 5000 Kilometer Luftlinie. Auf dem Weg lauern Gefahren, darunter auch die vielen Jäger, die auf dem gesamten Zugweg auf die Gänsescharen warten. Die Jagdzeiten wandern mit den Gänsen mit, fast nirgends kommen die Vögel wirklich zur Ruhe. Aus diesem Grund schätzen Vogelschützer die arktischen Gänsearten als deutlich gefährdet ein. In vielen Jahren übersteigt die Jagdstrecke den Bruterfolg.


Die Rückkehr der Wildgänse

In den letzten 30 Jahren verbesserten Belgien, die Bundesländer in Westdeutschland und zuletzt auch die Niederlande den Schutz für die Gänse deutlich und schränkten die Jagdzeiten massiv ein. Die Erfolge können sich sehen lassen: Aus bedrohten Arten sind heute stabile, wenn auch noch immer relativ kleine Populationen geworden. Die Rückkehr der Wildgänse ist eine echte Erfolgsstory des Naturschutzes!

Umso bedenklicher stimmt es, wenn überall der Ruf nach einer erneuten Freigabe der Wildgänse für die Freizeitjäger ertönt. In den ostdeutschen Bundesländern wurden schon seit DDR-Zeiten Gänse gejagt, während in den meisten westlichen Bundesländern die Gänsejagd weitgehend ruhte. Seit einigen Jahren konnten sich die Jäger in Schleswig-Holstein nach dem Regierungswechsel durchsetzen und schießen heute sogar die Weißwangengans, die nach europäischem Recht besonders zu schützen wäre. Die Landwirtschaftsminister Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens unternehmen immer wieder Vorstöße, um ihre Klientel mit Lockerungen der Jagdzeiten zufrieden zu stellen. Alljährlich erschallt der Ruf "es werden doch immer mehr Gänse...!" Doch stimmt das wirklich? Gerade für die grauen Gänse wie Bläss- und Saatgans sind wissenschaftlich begründete Aussagen auch heute noch schwierig. Die Größe des Überwinterungsgebietes macht synchrone Erfassungen der gesamten Population fast unmöglich, gleichzeitig sind die Individuen aber so mobil, dass Zählungen mit mehreren Tagen Abstand große Probleme wegen Mehrfachzählungen bieten. Die Zahlen in Westeuropa steigen kaum noch an, die Zahlen in Kasachstan beispielsweise nehmen ab während dort gleichzeitig der Jagddruck steigt. In Bulgarien und Rumänien sieht es nicht besser aus: Gerade gut zahlende Gastjäger aus Italien, Frankreich und Deutschland sind zahlreich vor Ort und machen auch vor den streng geschützten Zwerg- und Rothalsgänsen nicht halt.

Russische Ornithologen halten aufgrund ihrer Erfahrungen in der Tundra die Bestandsentwicklung der Bläss- und Saatgänse eher für leicht abnehmend als gleichbleibend. Verlässliche Daten allerdings fehlen überall. Ein internationales Team von Gänseforschern aus Deutschland, Russland, Belgien und den Niederlanden versucht daher auf anderen Wegen, Licht in die Populationsbiologie der Gänse zu bringen. Ein großes Netz aus freiwilligen "Gänse-Fans" beteiligt sich an diesem Projekt und sammelt Daten markierter Tiere, zählt Jungvogelanteile und ermöglicht es so, Überlebensraten und Bruterfolg zu analysieren. Auf Forschungsexpeditionen wird die Biologie der Gänse in den arktischen Brutgebieten intensiver ergründet: Wo brüten die Gänse und mit welchem Erfolg? Wie hoch sind die Verluste von Gelegen, Küken und Altvögeln? Wohin ziehen die Familien und wie viele der Jungen erreichen im Herbst Westeuropa? Auf einen Teil der Fragen gibt es schon heute Antworten.


Die Heimat der Wildgänse

Blässgänse brüten in einem großen Areal der russischen und sibirischen Tundren. Die Westgrenze des Verbreitungsgebietes ist Kanin, die östliche Begrenzung die Taimyr-Halbinsel. Die Gänse brüten weit verstreut in Einzelpaaren. In der Literatur finden sich für einige Gebiete Sibiriens Angaben zwischen 0,2 und 0,7 Brutpaaren pro km². Einzig auf einer relativ kleinen Insel vor der russischen Küste scheint alles anders: Hier fanden russische Ornithologen Mitte der 1990er Jahre Dichten von bis zu 40 Nestern pro km². Diese Insel heißt Kolguyev, ist 6000 km² groß und liegt 90 km vor der nordrussischen Küste in der Barentssee. Auf Kolguyev brüten Bläss- und Saatgans, Weißwangen- und vielleicht sogar die hoch bedrohte Zwerggans. Im Gegensatz zum sibirischen Festland weist Kolguyev einige bedeutsame Unterschiede auf: Es gibt hier keine Kleinsäuger. Von der Festlandtundra kennen wir Lemmingzyklen, wobei sich Jahre mit vielen und Jahre mit wenigen Lemmingen abwechseln. In Jahren mit vielen Lemmingen sind diese die Hauptbeute aller Beutegreifer, wodurch die Gänse recht ungestört brüten und viele Jungen aufziehen können. Diese markante Wechselwirkung zwischen Lemmingen, Fressfeinden und dem Bruterfolg der Bodenbrüter fehlt auf der Insel. Gleichzeitig ist das Wetter auf Kolguyev gleichbleibend kühl. Die Temperaturen erreichen auch im Hochsommer nur an wenigen Tagen die 20°C-Marke, ebenso kommen aber noch Ende Juli Tage mit 5 bis 8 °C vor. Es weht zumeist ein kräftiger Wind, und der häufige Nieselregen gibt auch den arktischen Mücken kaum eine Chance. Für die Gänse ist zudem der Weg von den Tundren zu den Salzwiesen am Meer nicht weit. Ebenso findet sich aber im zerklüfteten Inneren der Insel eine große Vielfalt verschiedener Lebensräume, die während der Jungenaufzucht der Gänse wechselweise genutzt werden und so eine konstante und qualitativ hochwertige Nahrungsgrundlage sichern.

Die Gegebenheiten auf Kolguyev sind offenbar so herausragend, dass sie einen großen Teil der gesamten Gänsepopulationen zur Brut hierher locken. Auch im Sommer 2006 fanden wir Brutdichten von 32 bis 40 Nestern pro km². Im folgenden kälteren Jahr 2007 lagen die Dichten insgesamt etwas niedriger. Im Gegensatz zu den Berichten aus den 1990er Jahren hingegen war die Zahl der Weißwangengänse eine Sensation. Allein in der Pechanka-Kolonie im Nordosten der Insel konzentrieren sich nach Hochrechnungen basierend auf Transektzählungen etwa 50000 Paare während der Brutzeit! Unsere vorläufigen Schätzungen für die Insel ergeben, dass möglicherweise 20 bis 30 Prozent der europäisch-sibirischen Blässgans- und mehr als 40 Prozent der Weißwangenganspopulation auf Kolguyev brüten. Auch für die Tundrasaatgans ist die Insel ein wichtiges Brutgebiet, welches möglicherweise 10 bis 20 Prozent der Weltpopulation beherbergt.


Keine Lemminge - keine Prädatoren?

Als wir im Sommer 2005 die erste Expedition nach Kolguyev planten, waren wir höchst gespannt auf die ökologischen Verhältnisse dort. Eine Insel ohne Lemminge - das sollte ein Paradies für die Gänse sein, denn Fressfeinde hätten wohl kaum eine Chance, hier das ganze Jahr zu überleben. Doch der Sommer 2006 bot eine faustdicke Überraschung: Zwar gab es wirklich keine Lemminge oder andere Kleinsäuger, doch war die Dichte von Fressfeinden ausgesprochen hoch. Im Osten der Insel fanden wir jeweils im Abstand von knapp zwei Kilometern Baue von Eisfüchsen (mit bis zu zehn Jungen), etwa ebenso häufig waren die Nester des Raufußbussards. An dem Haff am Ostende Kolguyevs bestehen große Brutkolonien der Eismöwe. Sogar die Große Skua brütet erfolgreich in den Salzwiesen der Insel. Sie alle ernähren sich vor allen Dingen von Eiern, Küken und Altvögeln der großen Weißwangenganskolonie, doch lassen sie sich andere Wasservögel auch nicht entgehen. Allerdings bleibt angesichts des großen Nahrungsangebotes der großen Gänsekolonie der Feinddruck relativ gering. Dies gilt besonders für das Zentrum der Kolonie - bis hier dringen die Eisfüchse nur selten vor.

Je weiter man sich auf der Insel von der Küste - und damit den großen Weißwangenganskolonien - entfernt, desto geringer wird die Dichte der Fressfeinde. Auch verschiebt sich das Spektrum etwas. Zum Eisfuchs gesellt sich der Rotfuchs, der auf Kolguyev auch schon Mitte des 19. Jahrhunderts in größerer Anzahl beobachtet wurde. Eismöwen patroullieren zwar im Zentrum der Insel regelmäßig, doch finden sich nur an wenigen Stellen kleinere Brutkolonien. Während Raufußbussarde sowohl an den Steilhängen des Peschanka-Flusses als auch in der offenen Tundra brüten, bevorzugen Wanderfalken die steilen Klippen. Schmarotzerraubmöwen dagegen sind auf der ganzen Insel zu sehen.


Großfamilien - Schlüssel zum Erfolg?

Obwohl sich in der Nähe der Weißwangenganskolonien mehr Fressfeinde finden als irgendwo anders auf der Insel, liegt der Bruterfolg der Weißwangengänse deutlich höher als der von Bläss- oder Saatgans. Dies liegt möglicherweise am besonderen Verhalten der Weißwangengans. Während Bläss- und Saatgans als einzelne Familien durch die Tundra wandern, sammeln sich Weißwangengänse zu größeren Scharen - sie bilden quasi Kindergärten. Im Falle einer Fuchsattacke nehmen die Altvögel die Küken in die Mitte und formen mit ausgebreiteten Schwingen einen Verteidigungsring um den Nachwuchs. So können sie Eisfüchse erfolgreich abwehren. Bläss- und Saatgänse hingegen suchen ihr Heil in der Flucht. Oftmals bleiben dabei die Küken zurück und werden Opfer der Angreifer.

Doch eines ist allen Arten gemein: Kommt es zu Störungen, beispielsweise durch Menschen, Hubschrauber o. ä. rennen auch die Altvögel was die Beine hergeben. So wundert es nicht, dass den Menschen oftmals Eismöwen in gewissem Abstand folgten - immer in der Hoffnung, versprengte Küken zu erbeuten. Was im Falle der Arktisforschung auf wenige Ereignisse begrenzt bleibt, wird angesichts der massiven Ausweitung der Öl- und Gasexploration in den Brutgebieten der russischen Tundra zu einem immer größeren Problem.


Faktor Wetter

Das Sommerwetter in der Arktis ist für uns Menschen meist nicht einladend. Die Gänse sehen das anders: Sie finden hier die Bedingungen vor, die sie auch bei uns im Winter bevorzugen. Dennoch: Die Witterung im Frühjahr hat maßgeblichen Einfluss auf die Anzahl der brütenden Gänse auf Kolguyev. Ist das Frühjahr kalt und schneereich, kommen die Gänse sehr spät an und müssen oftmals noch lange auf der Insel warten, bis ihre Nistplätze schneefrei sind. Die Wartezeit in solchen Jahren zehrt an der Kondition der Gänse: Sie finden nichts zu Fressen und leben von ihren Reserven. Hält diese Phase länger an, müssen mehr und mehr Paare die Brutpläne aufgeben. Dies gilt besonders in den höheren Lagen, wo sich Eis und Schnee länger halten. Ein großer Anteil der Paare zieht nach kurzer Rast dann im Juni weiter zu den traditionellen Mauserplätzen auf Taimyr oder Novoya Zemlya - meist ohne gebrütet zu haben.

Doch selbst wenn sich die Paare zur Brut entschließen, kann ein kaltes Frühjahr den erhofften Erfolg stark gefährden. Während die Gans mit großen Reserven im Brutgebiet ankommt, sind die Ganter zumeist in schlechterer Verfassung. Finden die Männchen in den Tagen vor und während der Eiablage nicht ausreichend Nahrung, müssen sie später die Gans auf dem Nest zeitweise allein lassen, um in der weiteren Umgebung Nahrung zu suchen. Ist die Gans allein, kann sie das Nest aber nicht mehr gegen den Eisfuchs verteidigen und oft geht das Gelege dann verloren.

Anders in Jahren mit einem milden Frühjahr: Die Gänse kommen auf Kolguyev an und finden sogleich reichlich Nahrung. Fast alle Brutplätze sind schneefrei, und nahezu alle Paare brüten in diesen Jahren. So schwankt die Anzahl brütender Blässgänse auf Kolguyev hochgerechnet zwischen 120000 (kaltes Frühjahr 2007) und 180000 (mildes Frühjahr 2006) Brutpaaren.

Doch nicht nur die Anzahl schwankt: Auch variiert das Legedatum - und damit das Schlupfdatum der Jungen abhängig von der Witterung. Für den Bruterfolg hat auch dies deutliche Konsequenzen: Im milden Frühjahr findet der Schlupf der Küken innerhalb weniger Tage auf der gesamten Insel statt, in kälteren dagegen zeitlich stark gestaffelt. Fressfeinde, die sich immer wieder durch Erfahrung auf eine Nahrungsressource einstellen müssen, werden durch das relativ kurze "Massenauftreten" von Küken in milden Frühjahren nahezu überrollt. In anderen Jahren hingegen können sie sich längere Zeit auf Küken als Hauptnahrung konzentrieren. Prädation wirkt in kälteren Frühjahren also intensiver auf die Population als in Jahren mit milderen Wetterbedingungen.


Die Vogelwelt verändert sich

Erst 1894 wurde Kolguyev überhaupt von einem Ornithologen besucht, zuvor hatten Segler die Insel mit ihrer tückischen Küste gemieden. Der Brite Aubyn Trevor-Battye verfasste über seinen Besuch auf der Insel ein umfangreiches Buch, in dem er das Leben der Nenets, der sibirischen Ureinwohner aus der Verwandtschaft der Samojeden, ebenso wie die Vogelwelt der Insel beschrieb. So schildert er, wie bei einer Fangaktion mehr als 3500 mausernde Ringelgänse getötet wurden. Einige Bläss- und Saatgänse waren auch darunter.

In den letzten hundert Jahren gab es nicht einmal zehn Expeditionen nach Kolguyev, allesamt waren nur ein bis zwei Wochen lang. Der letzte Aufenthalt von Ornithologen fand 1994 statt, als russische Forscher erstmals intensive Untersuchungen durchführten. Trotz der geringen Zahl von Expeditionen lassen sich unsere Ergebnisse bereits heute einordnen. Seit dem Besuch von Trevor-Battye ist die Ringelgans als Brutvogel auf Kolguyev ausgestorben und mausert hier auch nicht mehr, die Weißwangengans hingegen hat sich neu angesiedelt. Besonders in den letzten 15 Jahren hat die Brutdichte zahlreicher arktischer Vogelarten auf der Insel stark abgenommen. Dramatische Rückgänge finden sich bei Zwergschwan und Saatgans, Alpenstrandläufer, Kiebitzregenpfeifer und Steinwälzer. Auch im Wattenmeer zwischen Esbjerg und Den Helder nehmen die Zahlen der Rastbestände einiger Watvögel ab. Die Rückgänge beim Zwergschwan wurden auch im Wintergebiet nachgewiesen. Die Gründe für den Rückgang sind bisher jedoch unbekannt: Ist es der Klimawandel, sind es andere Ursachen in den Brut- oder gar in den Überwinterungsgebieten? Bislang gibt es keine plausiblen Erklärungen. Einzig eine Störung des Lemmingzyklus, wie derzeit oftmals in der Fachliteratur diskutiert, kann für Kolguyev als Ursache ausgeschlossen werden. Weitere intensive Freilandforschungen sind daher erforderlich! Die deutschen, russischen und niederländischen Gänseforscher planen auch für den kommenden Sommer 2009 Expeditionen in die russische Arktis.


Die Forschungsarbeiten wurden durch das VsK Vogelschutz-Komitee e. V. (Hamburg) und dessen zahlreichen Spendern finanziell unterstützt. Ohne diese Förderung sowie die Hilfe durch UNEP-Grid Arundal ECORA wären die Gänseforschungen auf Kolguyev nicht möglich gewesen.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 3/2009
56. Jahrgang, März 2009, S. 100-104
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2009