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ORNITHOLOGIE/326: Leben außerhalb der Voliere - Wilde Vögel im Zoo (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2015

Leben außerhalb der Voliere: Wilde Vögel im Zoo

von Hans-Heiner Bergmann


Der Zoo ist vor allem für Menschen gemacht. Hier haben sie die Chance, Wildtieren zu begegnen, die sie sonst in ihren natürlichen Lebensräumen nicht so leicht zu Gesicht bekommen: Löwe, Tiger, Elefant. Aber ein Zoo, ein Tierpark, ein Vogelpark ist nicht nach außen hermetisch verschlossen. Er bietet auch reichlich Anziehung für Wildtiere, die nicht in Käfig und Voliere oder im Gehege leben, sondern von außen kommen. Am auffälligsten sind hier große Vogelarten wie Rabenvögel, Graureiher, Störche und Kormorane.

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Berliner Zoo, inmitten der Großstadt. An einem der Spazierwege zwischen den Anlagen hat sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. Der Gegenstand ihres Interesses sitzt über ihnen auf einem dicken Ast im Baum und starrt nach unten: ein Mäusebussard. Ihn fesseln nicht die Menschen, die auf dem Weg stehen, denn er stürzt sich abwärts und greift im Efeubewuchs gleich am Wegrand zu. Mit einer erbeuteten langschwänzigen Maus fliegt er davon und landet auf einem künstlichen Felsen neben dem nächsten Gehege. Hier tötet er seine zappelnde Beute und verzehrt sie.

Der Bussard ist kein Zoovogel. Er ist auch nicht als biologischer Schädlingsbekämpfer eingestellt, um die Mäuseplage einzudämmen. Er hat sich einfach als Wildvogel hier niedergelassen. Da die Menschen ihm nichts tun, er aber genügend Nahrung zur Verfügung hat, leistet er sich auch die geringe Fluchtdistanz von nur wenigen Metern. Für die Besucher aber ist er eine kleine Sensation. Sie sind anfangs verunsichert, ob der Vogel vielleicht doch aus einer Voliere entflohen ist. Aber die vorbeikommenden Zooleute wissen es besser. Er ist ein Wildvogel. Wo sonst kann man schon einen frei lebenden Greifvogel auf eine Entfernung von wenigen Metern beim Nahrungserwerb beobachten? Dem Zoo soll es recht sein: eine zusätzliche Attraktion, frei Haus geliefert, bei kostenfreier Haltung, keine Fütterung, kein Personalbedarf, keine Tierpflege.

Es gibt auch die andere Seite der Medaille: Im Tierpark, dem zweiten Berliner Zoo mit sehr viel mehr freiem Gelände, ist der Zugriff der Natur schon manchmal unerwünscht. Der Habicht dezimiert die Wasservögel im Freigelände, der Fuchs holt sich den Schwarzstorch aus dem Gehege.

Wildtiere und wilde Vögel

Ein Zoo legt Wert darauf, nicht etwa Haustiere (mit Ausnahmen), sondern Wildtiere zu halten, die genetisch möglichst unverändert sind - so gut, dass man sie züchten und unter Umständen den Nachwuchs wieder in die Freiheit entlassen kann. Diese Wildtiere leben in Käfigen, Volieren, umzäunten Freianlagen, sie leben in "Gefangenschaft" oder besser: in menschlicher Obhut. Sie sind in ihrer Ernährung, ihrem Schutz und ihrer Gesundheit vom Menschen abhängig. Die wilden Vögel dagegen, von denen hier die Rede ist, sind wirklich frei lebend und haben sich aus freien Stücken dem Menschen angeschlossen. Die Hauptattraktion für solche Vögel ist das Nahrungsangebot, für manche aber auch ein vermuteter Partner. In der Gehegezone des Nationalparks Bayerischer Wald beispielsweise findet sich bei der Voliere der Habichtskäuze ein frei lebender Wildvogel ein. Er verständigt sich über Rufe und Gesang mit den Käfigvögeln. In Rheine und Münster brüten frei lebende Weißstörche im Zoo. Im Vogelpark Eekholt, Schleswig-Holstein, finden sich wilde Löffler bei der Großvoliere ihrer Artgenossen als Gäste ein. Auch Uhus sind draußen regelmäßige Gäste, wo Artgenossen in der Voliere rufen.

Der Kormoran steht am Teichrand mitten im Zoo. Er weist an seinen Beinen keinerlei Beringung auf, keinen Farbring, keinen Metallring. Als er jetzt beide Flügel weit zur Seite streckt - das, was man landläufig Flügeltrocknen nennt -, kann man sicher sein: Der Vogel hat auf beiden Seiten unversehrte Flügel. Er ist nie kupiert worden, wie man es früher bei vielen Zoovögeln getan hat. Beim Kupieren wurde ein Flügel im Handgelenk beschnitten, sodass der Vogel nicht mehr fliegen konnte. Dieser Kormoran aber ist voll flugfähig. Ein Blick in die winterlich kahlen Bäume ringsum bestätigt den Verdacht. Es gibt hier wild lebende Kormorane, die sogar eine Brutkolonie gegründet haben: große Reisignester in den Baumkronen. Kormorane sind Opportunisten. Dort, wo es Fisch und große Bäume gibt, lassen sie sich nieder - gleich kolonieweise.

Ganz ähnlich ist es mit den Graureihern. Sie stehen überall am Wasser, sie finden sich auch mit Vorliebe in denjenigen Gehegen ein, wo Fisch gefüttert wird. Hier beteiligen sie sich kräftig an der Fischmahlzeit von Seehund, Pinguin und Pelikan. In Küstennähe treten an ihre Stelle die anpassungsfähigen Silbermöwen. Auf Texel im Ecomare schnappen sie den Seehunden bei der öffentlichen Fütterung im schnellen Zustoß die Fische weg - das Publikum klatscht Beifall.

Lärm am Wolfsgehege

In den Baumkronen beim Wolfsgehege im Zoo von Arnheim in den Niederlanden sitzen Elstern und schreien Alarm. Unten kaut ein Wolf auf den Resten eines ihrer Artgenossen. Eine Elster hat offenbar versucht, bei den Wölfen mitzufressen. Das bedeutet Risiko für die Elster, genauso wie es in der freien Natur Kolkraben und andere Rabenvögel eingehen, wenn sie am Aas beim Seeadler oder beim Wolf mitfressen. Hier ist es einmal schiefgegangen. Der Wolf war schneller als die Elster. Die übrigen Artgenossen werden wohl im Wolfsgehege fürs Erste eine vergrößerte Fluchtdistanz einhalten.

Nicht wirklich mit der Gefahr hat ein Teichhuhn rechnen können, als es plötzlich von einem Lannerfalken mitten im Münchner Tierpark Hellabrunn geschlagen wurde. Der handzahme Greifvogel wurde vor Publikum vom Falkner fliegen gelassen, um seine Flugkünste zu demonstrieren, als das frei lebende Teichhuhn über die Wiese lief. Der Falke mantelt, das heißt er schützt mit beiden Flügeln die geschlagene Beute und beginnt gleich zu fressen, noch bevor ihn der Falkner erreicht. Im Normalfall soll vermieden werden, dass der Falke hier wilde Vögel schlägt. Er könnte sich falsches Verhalten angewöhnen und nicht zurückkommen, wenn er sich "draußen" satt gefressen hat. Teichhühner gehören zu den regelmäßigen Mitbewohnern an Gewässern von Zoo und Tierpark.

Scheuheit und Gewöhnung

Graureiher sind gewöhnlich draußen in der Natur scheue Tiere. Es kommt dort nicht vor, dass sie 15 Meter neben einem Menschen stehen bleiben oder 10 Meter an ihm vorbeifliegen und dann auf dem nächsten Hausdach oder Felsen landen oder sich gar mit einem Artgenossen auf dem Gehweg prügeln. Kein Bussard wird wenige Meter über einem viel begangenen Spazierweg am Waldrand auf einem Baum sitzen bleiben, wenn sich Menschen nähern, und dann noch in Anwesenheit der Beobachter eine Maus erjagen. Diese Vögel werden draußen auf große Fluchtdistanz von 50, 100 oder mehreren Hundert Metern davonfliegen, wenn Menschen näher kommen. Hier aber im Zoo sind die Fluchtdistanzen stark geschrumpft. Bestehende Hemmungen im Verhalten sind abgebaut. Aber sie verschwinden nicht ins Nichts. Der Reiher fliegt immer noch ein Stück weit davon, wenn ein Mensch fünf Meter neben ihm auftaucht. Die Veränderungen, die stattgefunden haben, sind also quantitativer Art.

Wir kennen einen Lernprozess, der ein Verhalten (Flucht) reduziert, wenn eine erwartete Konsequenz (Angriff) nicht eintritt. Man nennt das Habituation oder Gewöhnung. Es würde also für dieses Lernen genügen, wenn es viele auf demselben Weg vorbeigehende Menschen gibt, die sich um den Bussard oder den Reiher nicht kümmern. Selbst wenn sie stehen bleiben und ihn anstarren, würde der Vogel doch allmählich seine Fluchtbereitschaft vermindern. Die Hauptbedingung ist, dass ihm der Mensch nichts antut, keinen Stein auf ihn wirft, nicht auf ihn schießt. Doch bedarf es einer zweiten Bedingung, die diese Vögel an den Platz bindet. Sie müssen für ihr Hiersein belohnt werden. Im Zoo geschieht das durch Futter. Das wird zwar nicht eigens für sie ausgelegt, steht ihnen aber ungewollt zur Verfügung, wenn die eigentlichen Zootiere gefüttert werden. Die Gäste werden für das Dableiben belohnt, selbst unter Bedingungen, unter denen sie normalerweise flüchten würden. Es ist also nicht allein Gewöhnung, die hier wirkt, sondern ein belohntes Lernen, ein Lernen am Erfolg. Die Belohnung wirkt umso besser, je bessere Qualität sie hat, je leichter sie zugänglich ist und je weniger davon anderswo zu finden ist. Also wirkt Futter umso besser, wenn im Winter die Nahrung draußen knapp wird.

Ärger für die Zooleute

So sehr die menschlichen Besucher die wilden Vögel im Zoo akzeptieren und bewundern, so stellen die gefiederten Gäste doch in mancher Hinsicht ein Ärgernis für den Zoo dar. Zum einen könnten diese Vögel Parasiten und Infektionen mitbringen, ein Thema, das kürzlich vielfach im Zusammenhang mit der Vogelgrippe diskutiert worden war. Als Ergebnis war hier festzuhalten, dass die Wildtiere eher Opfer von Infektion waren als Ursachen. Das andere Problem ist aber, dass die wilden Vögel im Zoo sich großzügig an dem Futter bedienen, das eigentlich für die Zootiere allein gedacht ist. Und das bringt vor allem Kosten mit sich. Wo die Mitesser von außen sich in größerer Zahl einfinden, hat man schon Maßnahmen gegen Reiher und Kormoran unternommen. Die Fische oder die Hühnerküken werden unter einem Gitter angeboten, sodass sie nicht ohne Weiteres für Wildvögel zugänglich sind.

Für den interessierten Besucher bedeuten die wilden Tiere im Zoo eine willkommene kostenfreie Zugabe. Sie sind nicht eingesperrt, sie verhalten sich nach den Regeln der Ökologie und sie lassen sich auf geringe Entfernung beobachten, oft viel besser als draußen in der freien Natur. Für die Vogelfotografen ist der Zoo ein Eldorado. Für das Monitoring von Wasservögeln heißt es, unbedingt auch die im Zoo und Tierpark neu entstehenden Brutkolonien und Rastbestände zu erfassen.


Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann war Hochschullehrer für Verhaltensbiologie und Biologiedidaktik. Sei seiner Pensionierung befasst er sich mit Vogelstimmen, Vogelfedern und Vogelschutz.


Literatur zum Thema:

Buchholz C 1973: Das Lernen bei Tieren. Fischer, Stuttgart

Immelmann K, Pröve E, Sossinka R 1996: Einführung in die Verhaltensforschung, 4. Aufl. Blackwell, Berlin

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2015
62. Jahrgang, Februar 2015, S. 32-35
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141, Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de
Internet: www.falke-journal.de
 
Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,95 Euro
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2015

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