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RATGEBER/255: Melamin - It's a kind of "black" magic (SB)


Melamin ist überall und mehr als "Chinas Milchskandal"

Vom Bestandteil "magischer" Haushaltshelfer



Wenn etwas geradezu "magisch"-gut funktioniert, vermutet man gewöhnlich irgendeinen fiesen Trick dahinter. Daher waren wir angenehm beruhigt, als uns im Hinblick auf die neuerdings in Mode gekommenen sogenannten "Schmutzradierer", die unter Handelsbezeichnungen wie "Magic Pads" oder "Fleckenradierer" verschiedener Hersteller in Supermärkten und Drogerien feilgeboten werden, von allen Seiten versichert wurde, daß sich keine Nanochemie darin verbirgt.

Dennoch lassen einige Hinweise eine stark wirkende Chemie hinter dem vermeintlich harmlosen Haushaltsprodukt vermuten.

So rät die Drogerie auf der Verpackung, man solle die Pads zunächst an einer unauffälligen Stelle ausprobieren, um zu prüfen, ob es die Oberfläche nicht verkratzt. Nicht empfohlenen werden die magischen Kissen für den Gebrauch auf polierten, bemalten, lackierten oder dunklen Oberflächen. Das wird mit der glasharten Struktur begründet, die der Grundstoff des Pads ursprünglich besitzt, wenn er nicht durch einen weiteren mechanisch-chemischen Trick zu einem feinen, badeschaumähnlichen Hartschaum aufgeschwemmt und somit etwas elastischer würde.

Man solle den Schmutzradierer auch nicht mit Chlorbleiche verwenden. Und bei Benutzung zur Reinigung von Geschirr, sollte man dieses anschließend gründlich abspülen...

Und auch der alarmierende Hinweis: "Außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahren!" läßt einen die Harmlosigkeit in Frage stellen.

Weitere Recherchen ergaben, daß es sich um einen sogenannten Melaminharzschaumstoff handelt, der angeblich selbst nicht giftig ist, lediglich das Verschlucken des Schwamms oder Teile des Schwamms erweisen sich für Kinder und Erwachsene als gesundheitsschädlich.

Ab welcher Größenordnung der Abrieb des Schwammes als gesundheitsschädigendes Teilchen angesehen werden muß, und ob schon eine Gefahr von dem feinen Abriebstaub, der sich erfahrungsgemäß beim Behandeln eines verschmutzen Teils unangenehm auf den Fingern absetzt, ausgeht, weiß man nicht.

Bei der Anwendung des Melaminharzschaumstoff-Schwammes braucht man kaum Druck aufzuwenden. Glatte Flächen lassen sich meistens schon durch leichtes darüber reiben von der Verschmutzung befreien. Doch selbst dann ist die Fläche schnell von einem geruchlosen, feinen, weißen, händeaustrocknenden Staub bedeckt, der sich nicht vermeiden läßt. Und laut Angaben des Herstellers beruht der eigentlich gewünschte Reinigungseffekt gerade auf diesen "abrasiven", harten Melaminpartikeln, die beim Reiben entstehen. Diese Teilchen werden, zusammen mit den Schmutzpartikeln, anschließend vom Schwamm aufgenommen. Der Schwamm verbraucht sich somit beim Reinigen.

Magic im Magen

Nun, vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in China bekommt das Ganze einen etwas anderen Stellenwert. Denn könnte der feine, weiße Abrieb, der aus dem Schwamm austritt, nicht möglicherweise das gleiche sein, das in der chinesischen Babynahrung zu Nierensteinen und Todesfällen bei Säuglingen geführt hat?

Tatsächlich ist Melamin (2,4,6-Triamino-s-triazin), ein weißes Pulver, genauer eine heterocyclische aromatische Verbindung. Justus von Liebig stellte diese Substanz 1834 erstmals aus Kaliumthiocyanat und Ammoniumchlorid her. Der synthetisierte Stoff besteht etwa zu 60% aus Stickstoff, weshalb nur wenig davon in Lebensmitteln die Anwesenheit von Proteinen bei der sogenannten Weender Analyse vortäuscht, was in der Vergangenheit zu einigen Lebensmittelskandalen geführt hat. (siehe auch: KOMMENTAR/079: Putzmittel im Hundefutter (SB)).

Allerdings entsteht aus diesen Molekülen erst durch Polykondensation mit Formaldehyd oder Phenol das Aminoplast bzw. ein unflexibler, fester Kunststoff, der ebenfalls im alltäglichen Sprachgebrauch und im Handel als "Melamin" bezeichnet wird, genau genommen aber ein Produkt aus miteinander vernetzten Melaminmolekülen ist. Und das ist das einzige Argument, mit dem Hersteller behaupten können, es handele sich hierbei nicht um den gleichen Stoff. Das ist in etwa so, als würde man behaupten, Kandis, Würfelzucker und Puderzucker hätten im menschlichen Organismus oder im aufgelösten Zustand nicht die gleiche physiologische Wirkung.

Was von dem festen Harz abgerieben wird, ist - ähnlich wie beim Zertrümmern von Kandiszucker - selbst in Staubkorngröße tatsächlich noch das gleiche vernetzte Harz. Tritt hingegen reines, molekulares Melamin aus, was ebenfalls denkbar wäre, da sich das Harz daraus zusammensetzt, würde man das nicht unbedingt wahrnehmen.

Doch was geschieht nun beim magischen Reinigen von braunverfärbten Teetassenrändern oder Kochgeschirr, wenn etwaig verbliebene Reste des Kunstharzes oder Melamins nicht mit dem Spülwasser fortgeschwemmt werden? Welchen Preis zahlt man für das makellos reine Weiß der Tee- oder Kaffeetasse?

Melamin ist in heißem Wasser, d.h. in heißen Getränken gut löslich und gelangt ebenso wie aus den Milchprodukten, in die es ebensowenig hineingehört, in den menschlichen Körper.

Da Melamin drei reaktive Aminosäuren besitzt und außerdem immer mit einem Teil Cyanursäure vergesellschaftet vorkommt (Cyanursäure ist ein Bei- oder Nebenprodukt, das während seiner synthetischen Darstellung entsteht), mit der zusammen es leicht auskristallisiert, läßt sich im Grunde auch bei geringen Spuren die Möglichkeit nicht ausschließen, daß es zu feinen Kristallbildungen der Substanz z.B. in den Nieren kommen kann, wo es sich gewissermaßen wieder zu einem Harz verfestigt.

Auf www.chemikalien.de stand dazu folgendes:

"Beim Aushärten wird Melaminharz fast so hart wie Glas", erklärt Dr. Christof Möck, der bei BASF das globale Business Management dieses Spezialschaumstoffes verantwortet. "In dieser Härte des Materials liegt ein Geheimnis seines Putztalents: Wie ein extrem feines Schmirgelpapier reibt der Schwammradierer die Schmutzpartikel von der Oberfläche." Dass der Schmutzradierer trotzdem weich und geschmeidig ist, liegt an der Feinstruktur des Schaumstoffes, die beim Aufschäumen des Harzes entsteht. [...] Was unter dem Elektronenmikroskop aussieht wie der Schaum auf dem Badewasser, ist in Wirklichkeit ein filigranes, räumliches Netz, das aus extrem schlanken und dadurch flexiblen Kunststoffstegen gebildet wird. Die große, fast frei zugängliche Oberfläche, die durch diese luftige Struktur entsteht, bindet die abgeriebenen Schmutzteilchen und trägt zum wundersamen Dreck-weg-Effekt des Schmutzradierers bei.
(Website, www.chemikalien.de)

Der gleiche Effekt, der dem Anwender ein strahlendes, makelloses Schneeweiß beschert, ist letztlich wohl auch dafür verantwortlich, daß in China derzeit zehntausende von kleinen Kinder erkrankten und bisher sogar vier starben.

Der Ort des Geschehens kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um ein ursprünglich "deutsches Produkt" handelt, das wir in unzähligen Verarbeitungsmöglichkeiten im Alltag vorfinden: etwa in Holzwerkstoffleimen und sogenannten Tränkharzen (Spanplatten im Möbelbau und Dekor, Arbeitsplatten in Küchen).

Daneben existieren noch eine Vielzahl anderer, mengenmäßig weniger bedeutende Anwendungen:

Melaminschaum wird als nichtbrennbares Polstermaterial in Flugzeug- und Kinositzen, als akustischer Absorber für (Heim-)Kinos, Tonstudios und schalltote Räume verwendet. Auch in der Bautechnik findet es in Form von Blöcken Verwendung, wie etwa in Gaststätten, wo es die Sprachverständlichkeit verbessern kann und für eine akustisch "wärmere", behagliche Atmosphäre sorgt. Darüber hinaus kommt es in Flammschutzmitteln vor.

Kurzum: Melamin ist überall!! Und es kann durchaus auf unterschiedlichen Wegen in Lebensmittel oder ins Trinkwasser gelangen. Warum es bisher noch nie als toxischer Umweltschadstoff in die Diskussion geraten ist, hat vermutlich nur etwas damit zu tun, daß es sich seit seiner Einführung 1930 in der Kunststoffindustrie und in der Alltagschemie unentbehrlich gemacht hat.

23. September 2008