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RATGEBER/335: Auch die Milch hat Tücken ... (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT,

daß Milch gesund und "gegen Maroditis" ist



Schwedische Studie zur schädlichen Wirkung von Milch

Allein in Deutschland leiden laut einer vor kurzem veröffentlichten BEST-Studie 6,3 Millionen Menschen an Osteoporose. [1] Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) rät zu einfachen Mitteln, die schon seit Jahren propagiert und auch vielfach beherzigt werden. Neben Bewegung, um den Knochenstoffwechsel anzukurbeln, sind das vor allem eine kalziumreiche Ernährung in allen Lebensphasen - verschiedene Gemüsesorten, Nüsse, Joghurt, Quark, Käse und ganz viel gesunde Milch!

Daß Milch nicht nur, wie es dem Konsumenten vor etwa 40 Jahren mit aggressiver Fernsehwerbung eingebimst wurde, "gegen Maroditis" ist, sondern einfach von vorn bis hinten total gesund sein soll, läßt sich heutzutage sehr schnell "ergoogeln". Neben der Vorbeugung von Osteoporose gelten Milch, Milchprodukte und Käse als hervorragende Nährstofflieferanten insbesondere für hochwertiges Eiweiß, Kohlehydrate, eine Reihe von wichtigen Fettsäuren, Mineralstoffen wie Kalium, Magnesium, Zink und Jod sowie für Vitamine der Gruppe A und B (zum Beispiel: B2, B12 und Riboflavin). Milch enthält außerdem 18 von 22 essenziellen Nährstoffen, die für das Skelett wichtig sind, darunter Calcium, Phosphor und Vitamin D. Auch eine vor kurzem veröffentlichte allergologische Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) [2] komplettiert dieses Bild vom rundum gesunden Lebensmittel, obwohl sie ein aus ernährungsphysiologischen und gesundheitlichen Gründen im normalen Handel nicht erhältliches Milchprodukt untersucht: Rohmilch.

In der europaweiten Studie von Professor Erika von Mutius, Professorin für Pädiatrische Allergologie an der LMU und Leiterin der Asthma- und Allergieambulanz am Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU, über die aktuell in der Fachzeitschrift Journal of Allergy and Clinical Immunology berichtet wird, geht es allerdings nicht um die Milch, die man im Supermarkt erhält, sondern um Rohmilch, d.h. rohe Kuhmilch. In der Langzeitstudie PASTURE hatten Mütter freiwillig Ernährungsweise und Gesundheitszustand ihrer Säuglinge dezidiert dokumentiert. Danach sollen Kinder, die unbehandelte Kuhmilch tranken, ein deutlich niedrigeres Risiko für Schnupfen, Atemwegsinfekte, Fieber und Mittelohrentzündungen haben, als Kinder, die kommerziell hocherhitzte Milch tranken. Abgesehen davon fand man bei Säuglingen, die Rohmilch tranken, niedrigere Normalwerte des Entzündungsparameters CRP (C-reaktives Protein), der Ärzten Auskunft über Entzündungen im Körper gibt und sie zu der Hypothese veranlaßt, daß der Konsum von Rohmilch das Risiko verringern könnte, an Asthma zu erkranken.

Da Rohmilch jedoch auch bakteriell belastet sein und verschiedene Krankheiten wie Listeriose, Tuberkulose und EHEC (enterohämorrhagische Escherichia coli) basierte Durchfallerkrankungen und schwere Niereninsuffizienz auslösen kann, ihr Verzehr daher ein hohes gesundheitliches Risiko birgt, während es neue, schonendere industrielle Verfahren für die Pasteurisierung von Milch, bei denen die schützenden Inhaltsstoffe der unbehandelten Milch erhalten bleiben, noch gar nicht gibt, läßt sich die verbreitete positive Bewertung von Milch durch diese Studie eigentlich nicht bestätigen. Auch wenn man versucht dem Vorurteil, ein gesundheitsrelevanter Bestandteil der Ernährung zu sein, auf den Grund zu gehen sucht, findet man wenig über Milch.

Viele Ernährungswissenschaftler lehnen Milch als Lebensmittel für ältere Kinder oder Erwachsene grundsätzlich ab. Argumente sind, daß Erwachsene Milch nicht verdauen können, weil ihnen Enzyme dafür fehlen und ihr Genuß zu Unverträglichkeiten führt, da z.B. Milchrückstände zu einer Verschleimung im Magen-Darm-Trakt führen und die Resorption von Nährstoffen behindern, daß ein Großteil der Erwachsenen zu wenig Laktase bildet, und daher Milchzucker nicht ausreichend verwerten kann (Laktoseintoleranz) und daß der Milchverzehr die Entstehung von Nierensteinen oder die "Verkalkung" der Gefäße fördert. [3] Darüber hinaus wird auch immer wieder der vermeintliche Zusammenhang zwischen Milchverzehr und Osteoporoserisiko in Frage gestellt.

Beispielsweise gibt es eine Theorie, nach der sich Calcium aus pasteurisierter Milch vom Menschen gar nicht verwerten läßt. [4] Danach ist das Calcium in der Milch überwiegend an Casein gebunden, der geringere Anteil liegt in ionisierter oder komplexierter Form vor. Durch Wärmebehandlung steigt der Anteil der Calciumphosphatkomplexe, die in neutraler Umgebung nur schwer löslich sind. Deshalb vermuten einige Ernährungswissenschaftler, das darin gebundene Calcium könne im Körper gar nicht resorbiert werden. Allerdings kann Calcium auch im sauren Magenmilieu aus seinen Bindungen freigesetzt werden, so daß die Calciumresorptionsrate letztlich unabhängig von einer Wärmebehandlung der Milch sein müßte. Sie liegt beim Erwachsenen zwischen 25 bis 40 Prozent und bei 75 Prozent beim Säugling.

Auch eine neue schwedische Studie, die unlängst im Fachmagazin "British Medical Journal" veröffentlicht wurde, soll vor allem mit dem Gerücht aufräumen, ein Viertel Liter Milch oder drei bis vier Gläser am Tag, wie sie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, könnten die durch Osteoporose entstehenden Gesundheitskosten um 20 Prozent vermindern.

Sie wirft kein gutes Licht auf das Getränk, das - die Werbung einmal ernst genommen - eher Maroditis, also irgendeine Marodität erzeugende Entzündung, hervorruft, denn verhindert: Laut Karl Michaëlsson von der Universität Uppsala und Mitarbeiter hatten in der mit 100.000 Teilnehmern bisher größten Kohortenstudie zum Thema Personen, die 20 Jahre lang viel Milch tranken, keine gesünderen Knochen als Wenigtrinker. Gleichzeitig war ihr Risiko, früher zu sterben sogar leicht erhöht, wenn man der Statistik glaubt.

Ein möglicher Grund für diese überraschend negative Wirkung: Die in Milch enthaltene Laktose (Milchzucker) wird im Körper zu D-Galactose umgewandelt - pro Glas Milch in ungefähr fünf Milligramm dieses Zuckers. Experimente zeigen, daß Mäuse, Ratten und Taufliegen, die D-Galactose erhalten, vorzeitig altern und früher sterben - verursacht durch erhöhten, oxidativen Streß und Entzündungreaktionen. Im Tierexperiment hatte bereits die subkutane Gabe von 100 mg/kg Galaktose bei Mäusen Alterungsprozesse beschleunigt. Eine dem menschlichen Körpergewicht entsprechende Menge Galaktose wäre bereits in ein bis zwei Gläsern Milch enthalten, wenn man die Tatsache vernachlässigt, daß sich wohl die wenigsten Menschen diese Menge Milch unter die Haut spritzen würden.

Die möglicherweise nicht ganz vorurteilsfreie Auswertung der oben erwähnten Kohortenstudie, um die These von einer schädlichen Wirkung der Milch zu untermauern, tut ihr übriges, um auch die in der Studie von Dr. Michaëlsson nahegelegte ursächliche Beziehung zwischen der erhöhten Mortalität und dem Milchkonsum in Frage zu stellen. Allerdings räumen die Forscher selbst ein, daß weitere Studien nötig wären, um die Ergebnisse zu verifizieren.

Genaugenommen hatten die Wissenschaftler um Dr. Michaëlsson Daten aus zwei schwedischen Langzeituntersuchungen analysiert, in denen auch Einzelheiten zur Ernährung dokumentiert worden waren. Die "Schwedische Mammographie Kohorte" umfaßt 61.433 Frauen im Alter von 39 bis 74 Jahren aus den Bezirken Uppsala und Västmanland, die zur Einladung zum Mammographie-Screening auch Ernährungsfragebögen beantwortet haben. In der "Kohorte schwedischer Männer" hatten sich 45.339 männliche Einwohner von Örebro und Västmanland im Alter von 45 bis 79 Jahren zu ihren Ernährungsgewohnheiten geäußert. In beiden Kohorten wurde zwischen Milch und vergärten Milchprodukten unterschieden, was von Bedeutung ist, da Joghurt und Käse nur einen geringen Anteil an Laktose und damit D-Galaktose enthalten.

Das Ergebnis überraschte allerdings doch: Die Frauen, die pro Tag drei Becher Milch und mehr getrunken hatten, hatten sogar ein höheres Risiko, sich die Hüfte zu brechen, als diejenigen, die weniger als ein Glas Milch pro Tag konsumierten. Auch die Todesrate war bei milchtrinkenden Frauen und Männern erhöht. "Wir haben eine dosisabhängige Beziehung von Milchkonsum mit Mortalität und Frakturen bei Frauen und von Mortalität bei Männern festgestellt", so die Forscher.

In der Schwedischen Mammographie Kohorte waren in durchschnittlich 20 Jahren 15.541 Frauen gestorben, 17.252 hatten eine Fraktur erlitten, darunter waren 4.259 Hüftfrakturen, die in der Regel Folge einer Osteoporose sind. Frauen, die drei oder mehr Gläser Milch am Tag (durchschnittlich 680 ml) tranken, hatten nach den Berechnungen von Michaëlsson ein um 93 Prozent erhöhtes Sterberisiko (Hazard Ratio HR 1,93; 95-Prozent-Konfidenzintervall 1,80-2,06). Das Frakturrisiko war bei den Frauen ebenfalls erhöht: Für jedes tägliche Glas Milch nahm es um 2 Prozent zu (HR 1,02; 1,00-1,04), bei den Hüftfrakturen betrug der Anstieg 9 Prozent (HR 1,09; 1,05-1,13). Bei den Männern, die bekanntlich seltener an einer Osteoporose erkranken, war das Knochenbruchrisiko nicht signifikant erhöht. Für die Gesamtsterblichkeit ermittelte Michaëlsson einen Anstieg um 3 Prozent pro Glas Milch (HR 1,03; 1,01-1,04). Der Verzehr von fermentierten Milchprodukten mit einem geringen Laktosegehalt (einschließlich Joghurt und Käse) war dagegen bei den Frauen mit einer reduzierten Sterblichkeit und Knochenbrüchen assoziiert.
(rme/aerzteblatt.de [5])

Auch Hinweise auf oxidativen Streß ließen sich in den Kohortenstudien abbilden. Laut Ärzteblatt konnte Michaëlsson bei 5.022 Frauen der schwedischen Mammographie Kohorte und bei 1.138 Männern aus einer weiteren Kohorte, der Uppsala Longitudinal Study of Adult Men, Harnproben auf den 8-iso-PGF2 untersuchen, einen Metaboliten des Prostaglandinstoffwechsels, der als Biomarker für oxidativen Streß gilt. Für beide Geschlechter war der Nachweis positiv. Bei den Männern konnte zusätzlich noch eine Korrelation mit dem Entzündungsmarker Interleukin 6 im Blut nachgewiesen werden.

All das seien nur Hinweise, die derzeitigen Empfehlungen eines hohen Milchkonsums zur Vorbeugung von osteoporotischen Frakturen infrage zu stellen, die Ergebnisse sollten allerdings an weiteren Kohorten überprüft werden, meint auch Michaëlsson. Die schwedische Studie zeige aber auch, daß, abgesehen von der reinen Milch, Joghurt und Käse nach wie vor wertvolle Nährstoff- und Calciumlieferanten bleiben, wenn man die nachgewiesene gesundheitsschädigende Wirkung ausschließlich auf den Milchzucker zurückführt, der in diesen Milchprodukten nur reduziert vorhanden ist.

Mit Blick auf die derzeitige Welternährungslage und Theorien, die eine Reduktion der Viehwirtschaft als einen Beitrag zu einer positiveren Klimaentwicklung betrachten, erhält die plötzliche Abkehr von der Milch auch eine politische Komponente. Derzeit wird vor allem die Erzeugung von Milch, Fleisch und Eiern wegen der dazu erforderlichen Futtermittel, die ein Vielfaches der für den Anbau von Getreide oder Hülsenfrüchten benötigten Fläche einnehmen, kontrovers diskutiert. Denn sie benötigen Fläche, die auch zum Anbau nachwachsender Rohstoffe und für die energetische Verwertung von Biomasse verwendet werden könnte. Allerdings sind auch die Konsequenzen einer solchen Umstellung weder für die menschliche Gesundheit noch für die Agrarwirtschaft und ihre weiteren Folgen für Boden und Wasserressourcen erforscht.

Somit kann die Empfehlung, weniger Milch zu trinken, heute nur nach letzten Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung gegeben werden, ohne Gewißheit darüber, ob nicht entgegengesetze Erkenntnisse bereits morgen auf der Tagesordnung sind.


Anmerkungen:

[1] http://www.iges.de/e1871/e1899/e11487/e11508/index_ger.html
[2] siehe auch:
https://www.idw-online.de/de/news608946
Originalarbeit: Loss et al: "Consumption of unprocessed cow's milk protects infants from common respiratory infections"
In: Journal of Allergy and Clinical Immunology
http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0091674914012743
[3] weitere Argumente siehe hier:
http://www.ernaehrungsberatung.rlp.de/Internet/global/themen.nsf/0/21B3C9C7685C523EC1256FAC002B09E0?OpenDocument
http://www.helles-koepfchen.de/artikel/2966.html
[4] siehe auch:
British Medical Journal, 2014; doi: 10.1136/bmj.g6015
[5] http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/60658/Milch-koennte-Fraktur-und-Sterberisiko-im-Alter-erhoehen

31. Oktober 2014