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UMWELTLABOR/194: Ukraine - Phoshor-byl mit unvorhersagbaren Folgen (SB)


Brennender Phosphor bedrohte Tausende Ukrainer

Größte Umweltkatastrophe seit Tschernobyl


Es sei die größte Umweltkatastrophe seit der Explosion im Kernreaktor Tschernobyl 1986, sagte der ukrainische Vize-Ministerpräsident Alexander Kusmuk nach Angaben der Agentur Interfax.

Nach einem Zugunglück in der Ukraine nahe der Stadt Lwiw (ehemals: Lemberg) hat eine Giftgaswolke, die von brennendem Phosphor gespeist wurde, Tausende von Menschen bedroht. Nach Wortlaut der Presseagentur AGF waren sechs Kesselwaggons eines verunglückten Zuges, die gelben (genauer gesagt: weißen) Phosphor transportierten, in Brand geraten, woraufhin "eine bedeutende Menge Rauch und giftiger Gase" austrat, wie ein Vertreter der Regionalverwaltung in Lwiw bekannt gab. Anfangs wurde von 20 Verletzten gesprochen, inzwischen mußte die Zahl von der russischen Presse auf 69 Vergiftete korrigiert werden, darunter sieben Sanitäter und zwei Polizisten, die den Angaben zufolge ins Krankenhaus eingeliefert wurden; einer von ihnen schwebe in Lebensgefahr.

In sämtlichen Medien wird in diesem Zusammenhang von sogenanntem gelbem Phosphor gesprochen. Den gibt es im deutschen Sprachgebrauch eigentlich gar nicht. Vermutlich wurde das angelsächsische "yellow phosphorus" einfach direkt übersetzt. Denn das klingt letztlich doch nicht ganz so schlimm wie der hierzulande berüchtigte weiße Phosphor, der das Unglück verursachte und den vielleicht noch so manche als den verheerenden Inhalt jener britischer Brand- und Phosphorbomben Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland in Erinnerung haben, die allein durch die britische Operation Gomorrah in den letzten Julitagen in Hamburg 1943 37.000 Todesopfer forderten.

Vermutlich deshalb und um vielleicht doch von der eigentlichen Brisanz der aktuellen Katastrophe abzulenken, wird in den aktuellen Nachrichten der Begriff "gelber Phosphor" nicht korrigiert, was den chemisch unbeleckten Verbraucher angesichts der Fülle an Phosphormodifikationen (es gibt die weiße, rote, schwarze und violette (Hittorfsche) Modifikation, die sich in ihren Eigenschaften stark unterscheiden und allein 12 verschiedene Kristallformen des schwarzen Phosphors, deren Aussehen von kristallklar über alle Schattierungen von Orange, Rot, Purpur, Braun und Grau bis zu Tiefschwarz variiert), nicht einmal als beiläufiger Verschleierungsversuch auffallen mag.

Tatsächlich ist aber gerade der weiße Phosphor, der unmittelbar bei der Reduktion von Phosphaten mit Kohlenstoff entsteht und sich aus kleinen, beweglichen Einheiten aus je vier Atomen (P4-Tetraedern) zusammensetzt, die giftigste und gefährlichste aller Phosphormodifikationen. In rotem Phosphor sind diese Einheiten miteinander zu einem komplizierten Netzwerk verknüpft, wodurch das Element wesentlich stabiler, weder giftig noch selbstentzündlich und deshalb sicherer wird.

Und mit dieser besonders brisanten Form des weißen Phosphors war der in Lwiw entgleiste Zug beladen, was auch den Vergleich mit Tschernobyl und die Äußerung Kusmuks, der u.a. von einer "wahren Bedrohung für die Bevölkerung" sprach, rechtfertigt.

"A disaster has happened. After the Chernobyl catastrophe we are dealing with a case that can pose a real threat for our people," Kuzmuk said. "It is an extraordinary event, the consequences of which cannot be predicted."
(The Moscow Times online, 18. Juli 2007)

Auch der weitere Hergang des Unglücks spricht dafür, daß es sich um weißen Phosphor gehandelt hat, der wegen seiner leichten Oxidierbarkeit (die schon bei geringen Temperaturen zur Selbstentzündung führt) in seiner reinen Form unter Wasser aufbewahrt werden muß:

The freight train, carrying yellow phosphorus, derailed in western Ukraine late Monday. Rescuers extinguished a fire that broke out in the highly toxic substance, which can catch fire spontaneously on contact with air at temperatures higher than 40 degrees Celsius. It can cause liver damage if consumed.
(The Moscow Times online, 18. Juli 2007)

Bei den hohen Außentemperaturen entzündete sich die empfindliche Substanz in den Waggons, die schon bei Kontakt mit Sauerstoff und Temperaturen über 40 °C zu brennen beginnt. Ob es nun diese Explosion war, welche die 15 Waggons zum Entgleisen brachte, d.h. die Behälter mit der leichtentzündlichen Chemikalie nicht ausreichend gesichert waren, oder ob das Feuer erst ausbrach, weil Phosphorbehälter während des Unglücks beschädigt wurden, so daß der selbstentzündliche Stoff austreten konnte, sind bisher noch offene Fragen.

Die akute wie dauerhafte Gefährdung der Bevölkerung hingegen ist durch das ausgetretene Material unfraglich vorhanden.

Die hochgiftige Substanz habe sich durch den Brand in einer weißen Wolke über eine 86 Quadratkilometer große Fläche in der Nähe des Dorfes Oschydiw rund 500 Kilometer westlich von Kiew ausgebreitet, sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums der Nachrichtenagentur AFP, das entspricht einem Gebiet von der Größe der Insel Sylt.

Bei dem Nebel bzw. weißem Rauch, der bei dem Brand aufstieg, handelt es sich zum größten Teil um Phosphor(V)-oxid (P4O10) (sprich Phosphorpentoxid) und möglicherweise einem kleineren Teil Phosphor (III)-oxid (P4O6), die bei einer Oxidation und bei der Verbrennung von weißem Phosphor entstehen. Phosphor(III)-oxid bildet sich dann, wenn nicht ausreichend Sauerstoff für die vollständige Oxidation vorhanden ist. Beide Phosphoroxide sind bekannt dafür, im Dunkeln ein unheimliches, fahles Leuchten zu verursachen und haben seiner Zeit bei der Entdeckung des Phosphor in den Höfen und Herrscherhäusern als einer der ersten "Partyknüller" Furore gemacht, wenn diese Reaktion von Alchimisten oder vermeintlichen Zauberern vorgeführt wurde.

Während Phosphor(III)-oxid in der Luft im wesentlichen nur sauren Regen verursacht, wenn es in die Umwelt gelangt, da es das Anhydrid der phosphorigen Säure ist, die sich mit Wasser (Luftfeuchtigkeit) zu eben dieser verbindet, ist das hochoxidierte Phosphor(V)-oxid in der freien Natur ein ganz besonders unangenehmer Schadstoff. Es ist eines der wirksamsten bekannten Trockenmittel und vermag selbst anderen Verbindungen das Wasser zu entziehen. Dabei reagiert es selbst explosionsartig heftig mit dem "gestohlenen" Wasser, wobei verschiedene Phosphorsäuren jeweils mit der Oxidationsstufe (+V) entstehen.

Wenn nun Umweltexperten öffentlich davon sprechen, daß es in der Region zu sauren Niederschlägen kommen könnte, ist das eine recht harmlose Untertreibung der Möglichkeiten dieser potenten Reagenz in der Atmosphäre, die Mensch und Natur gefährdet. Die sehr giftigen Phosphordämpfe können darüber hinaus über die Atemluft zu Kollaps, Koma und tödlicher Atemlähmung führen. Auf der Haut kann die Mischung aus Phosphorsäuren und Phosphoroxiden starke Verätzungen und schlecht heilenden Verbrennungen verursachen.

In dem betroffenen Gebiet wohnen 11.000 Menschen. Rund 900 wurden auf eigenen Wunsch in Sicherheit gebracht. Unter der Bevölkerung brach Panik aus. Die Menschen wurden aufgefordert, Gasmasken zu tragen und ihre Häuser nicht zu verlassen. Der verunglückte Zug war auf dem Weg von Kasachstan nach Polen. Der Grund für den Unfall war zunächst nicht bekannt.
(AFP, 18. Juli 2007)

Die Giftwolke aus Phosphor und Phosphoroxiden wurde außerdem noch durch die Verbrennungsprodukte der Kunststoffe, Metalle, Reifenteile u.a. ergänzt, die bei dem Unglück ebenfalls in Brand gerieten. Dazu gehörten auch 15 umgestürzte Pkws, die bei der Entgleisung Feuer fingen:

The train, which was traveling from Kazakhstan to Poland, derailed near Lviv on the Polish border. Of the train's 58 cars, 15 overturned and six caught fire, said Ihor Krol, spokesman for the Emergency Situations Ministry.
(The Moscow Times online, 18. Juli 2007)

Auf diese Weise hat man es in der Ukraine neben Phosphor noch mit weiteren bekannten Umweltgiften, u.a. mit Dioxinen, freigesetzten Flammenschutzmittel u. dgl. in der Luft zu tun, die ein hochtoxisches, hochreaktives, äußerst reizendes Gemisch ergeben, dessen genaue Zusammensetzung sich ebensowenig voraussagen läßt, wie die möglichen Reaktionen und Produkte die aus den einzelnen Bestandteilen des "Rauchs" noch entstehen. Darüber hinaus läßt sich nicht ausschließen, daß sich die einzelnen Komponenten des giftigen Cocktails gegenseitig synergistisch beeinflussen, d.h. sich gegenseitig in ihrer Toxizität verstärken. Die von der Moscow Times beschriebenen Sicherheitsanweisungen können die Bevölkerung daher vor den Gefahren aus der Luft kaum schützen:

Local residents were advised to stay inside, not to use water from wells, eat vegetables from their gardens or drink the milk produced by their cows.
(The Moscow Times online, 18. Juli 2007)

Daß allerdings, wie in dem lokalen Fernsehsender "Kanal 5" berichtet wurde, einige kleine Ortschaften in der kontaminierten Region nicht einmal von diesen Vorsichtsmaßnahmen unterrichtet wurden, ist eine schwere Unterlassungssünde:

Channel 5 television reported that in several villages located in the contaminated area, residents were not informed of the safety rules after the accident.
(The Moscow Times online, 18. Juli 2007)

In der weiteren Nachbarschaft der Ukraine waren die Hilfskräfte in Alarmbereitschaft. Rumänien, Ungarn und Polen verständigten sich darauf, Informationen über den Vorfall auszutauschen. Polen war nach eigenen Angaben nicht unmittelbar in Gefahr, da die Giftgaswolke in nordöstlicher Richtung unterwegs gewesen sei. Auch Rumänien sah sich für mindestens 36 Stunden außerhalb der Gefahrenzone.

Die EU-Kommission erklärte am 17. Juli, den ihr vorliegenden Informationen zufolge sei die Situation unter Kontrolle und erscheine nicht beunruhigend. Eine Bitte um internationale Hilfe sei nicht eingegangen. Bleibt nur zu hoffen, daß die Aufräumarbeiten zügig voranschreiten und den Hilfskräften weitere Kontaminationen mit dem elementaren Phosphor erspart bleiben. Von seiner Explosivität einmal abgesehen haben Arbeitskräfte bei der industriellen Verwendung des Elements (z.B. in den Streichholzfabriken Großbritanniens oder die Leuchtzahlenhersteller in Schweizer Uhrenfabriken) schon schwere Verletzungen davongetragen, die man dem harmlosen weißen Pulver zunächst gar nicht zutraut. Im 19. Jahrhundert mußten noch zahlreiche Arbeiter, laut dem Autor des Buches "Phosphor - ein Element auf Leben und Tod", John Emsley, sogenannte "weißen Sklaven in London", den Fortschritt der industriellen Revolution mit schlimmsten Schmerzen und letztlich mit dem Leben bezahlen:

Einen typischen Fall der Phosphornekrose beschreibt 1865 Dr. T. Smith in der ersten Ausgabe des St. Bartholomew's Hospital Report. Dieses Krankenhaus war damals die führende Heilstätte der britischen Hauptstadt. Hier war ein Patient eingetroffen, dessen Gesicht stark geschwollen war und der keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen konnte; infolge dessen war er deutlich unterernährt. Über den 35 Jahre alten Lucifer-Macher lesen wir:

Von einem Ohr zum anderen, über den Kieferknochen hinweg zog sich eine Linie aus offenen Geschwüren, aus denen ein übelriechender Eiter floß und unter welchen mit einer Sonde totes Knochengewebe getastet werden konnte. Im Mund waren die Knochen unter den Weichteilen freigelegt, sie erschienen rauh und braunschwarz. Das Zahnfleisch klaffte vom toten Kieferknochen und war weiter zurückgegangen, als es dem natürlichen Stand entspricht. Eine Sonde konnte mühelos an beiden Seiten von vorne und hinter den Knochen bis zu den Sinus im Nacken geführt werden.
(Emsley, Phosphor - ein Element auf Leben und Tod, S.103 Wiley-VCH Verlag GmbH, Weinheim, 2001)

Bisher nicht erwähnt wurde in sämtlichen Medien die akute Giftigkeit des reinen weißen Phosphors, von dem durchschnittlich hundert Milligramm, d.h. ein Zehntel Gramm völlig ausreichen, um einen Menschen umzubringen. Entsprechend zahlreich waren in der Vergangenheit auch tödliche Unfälle mit dem Stoff, wenn das früher frei zugänglichen Mittel z.B. in Pastenform als Rattengift oder in Streichholzköpfen nicht seinem Zweck entsprechend angewendet wurde. Kontaminationen mit Phosphorteilchen müssen daher so schnell wie möglich mit einer Kupfersulfatlösung gespült werden, damit der reine Phosphor nicht durch die Verbrennungswunde in das Blut gelangen kann. Kupfersulfat reagiert mit Phosphor zu ungefährlichen Verbindungen, die sich auswaschen lassen. Entsprechend versucht man beim Verschlucken den Magen zu spülen und zu entleeren.

Gelangt mit Phosphor verunreinigtes Blut in die Leber, wird diese von dem Element angegriffen und schon nach wenigen Stunden komplett zerstört. Der Betroffene hat dann keine Überlebenschance mehr.

Die Gefährlichkeit des Stoffes erklärt aber auch, warum das Unglück sowohl von Regierung wie Opposition der Ukraine als Politikum ausgeschlachtet wird, während ungeschminkte Information und sofortige Maßnahmen zum Schutz der Umwelt eher angebracht wären:

Präsident Viktor Juschtschenko unterzeichnete laut einer Meldung der dpa ein Dekret mit dem Ziel, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, die Ursachen des Unglücks untersuchen zu lassen und die Folgen der Katastrophe zu beseitigen. Die von Julia Timoschenko geführte Opposition forderte eine rasche Aufklärung des Unglücks. "Diese Regierung spricht immer über Erfolge und trotzdem gibt es immer wieder Züge, die entgleisen, Munitionslager, die explodieren und eine Wirtschaft die zusammenbricht", sagte Timoschenko in Kiew.
(Dittmarscher Landeszeitung, 18. Juli 2007)

19. Juli 2007