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UMWELTLABOR/210: Phtalate - Operation gelungen, Patient vergiftet (SB)


Weichmacher gibt es überall


Bei Kinderspielzeugen wird die Palette von ausgesprochen praktischen, abwaschbaren Kunststoffprodukten immer größer. Von der klassischen Puppe über die Spielzeugküche bis zur Werkbank oder zum Helikopter scheint beinahe jeder Alltagsgegenstand der Erwachsenenwelt aus Kunststoff im Kleinformat bruchsicher, in grellbunten Farben nachgebildet worden, garantiert nicht auf die reale Welt übertragbar und gerade auch für kleine Konsumenten besonders attraktiv zu sein. Doch auch diese scheinbar heile und durch Lebensmittelgesetze und EU- Umweltverordnungen abgesicherte Kinderplastikwelt der Spielzeugabteilungen birgt bisher unerkannte Gefahren für die Gesundheit der kleinen Leute.

So enthalten beispielsweise ausländische Erzeugnisse häufig hohe Konzentrationen des PVC-Weichmachers DEHP. Diese Substanz, die dem Kunststoff beigefügt ist, um ihn besonders anschmiegsam und elastisch werden zu lassen, die ihn weich und gefühlsecht werden läßt, heißt in der Chemikersprache "Di(-2- ethylhexyl)-phthalat" und ist eine bekannte umweltschädliche Substanz.

Weichmacher gehen keine chemische Verbindung mit dem Kunststoff ein und können daher durch Abrieb, Ausgasen oder Auswaschen relativ leicht aus den Produkten entweichen. Über die Haut, die Nahrung und die Atemluft kommen wir so täglich mit Weichmachern in Kontakt. (aus dem Faltblatt SCHADSTOFFFREIES KRANKENHAUS des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND), Health Care Without Harm (HCWH) und Die European Academy for Environmental Medicine (EUROPAEM) 2007).

Im Tierversuch zeigt sie eine Reihe Nebenwirkungen. Besonders anfällig für DEHP sind die sich entwickelnden Fortpflanzungsorgane. Trächtige Ratten, die täglich DEHP-haltiges Wasser trinken mußten, sollen männliche Nachkommen mit abnormal veränderten oder funktionslosen Geschlechtsorganen bekommen haben. In Parallelversuchen fand man die Hormonproduktion der Ratten gestört, an ihren Eierstöcken bildeten sich Zysten. Auch Totgeburten oder schwere Fehlbildungen beobachteten Forscher überdurchschnittlich häufig.

Seit 1999 sind DEHP und seit März 2000 auch einige andere verwandte Phtalate, die sämtlich in Verdacht stehen, Leber, Nieren und Fortpflanzungsorgane zu beeinträchtigen und wie Hormone zu wirken, in Erzeugnissen für Kinder unter drei Jahren europaweit verboten. Doch das hindert die Hersteller nicht, sie in den Produkten für die darüberliegende Altersgruppe ungehindert anzuwenden, beispielsweise in Barbie-Puppen, die für ältere Kinder gedacht sind.

Abgesehen davon findet sich die Substanz überall: in Fußböden, Möbeln, Tapeten oder Küchengeräten, quasi in allem, was so schön "neu" nach Plastik riecht. Über Essen, Getränke und die Außenluft kann der Mensch im heutigen Zeitalter des Plastiks überhaupt nicht verhindern, pro Kilogramm Körpergewicht im Durchschnitt zwischen 0,0038 und 0,03 Milligramm dieses Schadstoffs pro Tag aufzunehmen, und das ein ganzes Leben lang.

Da Kleinkinder gerne an allem nuckeln, was nicht niet- und nagelfest ist und die Chemikalie dabei herauslösen, besteht bei allen Produkten im Haushalt, aber ganz besonders bei Spielzeug, die Gefahr, daß sie von den darin enthaltenen Giften belastet werden. Außerdem binden sich Weichmacher nur sehr schwach an PVC oder einen anderen Kunststoffträger, dunsten daher aus oder werden mit der Luftfeuchtigkeit ausgewaschen und finden sich beispielsweise im Hausstaub wieder, der mit der Atemluft aufgenommen wird.

Während die Spielzeughersteller alles abstreiten und betonen, daß sie sich an die Lebensmittelverordnungen halten und im übrigen nur durch monatelanges, intensives Lutschen toxikologisch bedenkliche Werte erreicht werden könnten, werden neugeborene Säuglinge von den gleichen Schadstoffen von einer Seite her bedroht, von der man es vielleicht am wenigsten vermuten würde, den Säuglingsstationen in den Krankenhäusern.


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Gerade auf den Intensivstationen für Frühgeborene häufen sich alarmierende Laborbefunde über Schadstoffe im Stoffwechsel dieser oft erst 1500 Gramm wiegenden Winzlinge. Lange Zeit war man völlig ahnungslos, woher die plötzlichen Notstände des Leberstoffwechsels kommen, die den Bilirubinspiegel schockartig in bedrohliche Höhen katapultieren und eine Schädigung des Gehirns zur Folge haben können. Im Extremfall droht dabei sogar Organversagen und das spontane Ableben des Kindes.

Da diese Extremzustände besonders dann auftreten, wenn künstlich ernährt wird, vermuteten die Ärzte lange Zeit, daß die noch unentwickelte Leber, die zukünftige Entgiftungszentrale des Körpers, die Zufuhr konzentrierter Nährstoffe über die Vene noch nicht verkraften könne.

Doch dann kam man am Uniklinikum Mannheim darauf, daß die Infusionsleitungen selbst - in der Regel aus PVC hergestellt - die eigentliche Ursache für die plötzlichen Schockzustände sein könnten. Denn auch diesen elastischen Plastikschläuchen ist der flüchtige Weichmacher DEHP beigefügt.

Krankenhäuser sind tatsächlich die mit Abstand größte Quelle für diese Schadstoffgruppe. Fast 60 Prozent aller im Gesundheitswesen verwendeten Plastikprodukte bestehen aus PVC: Infusionsschläuche, Spritzen, Beatmungsmasken, Blutbeutel usw. Je nachdem, wie flexibel die Utensilien sein müssen, schwankt ihr DEHP-Gehalt zwischen 30 und 80 Prozent. Was also im Kinderzimmer zumindest gesetzlich verboten ist, gelangt in der Klinik ungehindert tief in den Körper der zumeist geschwächten Patienten.

Hier erweist es sich als ganz besonders problematisch, daß sich die gefährlichen Weichmacher nicht im Kunststoff fixieren lassen, sondern in die Umgebung ausdampfen.

In der Mannheimer Studie (im "Journal of Pediatric Surgery", Bd. 35, S. 1775, 2000, publiziert) wurde speziell untersucht, wieviel DEHP bei Schläuchen für die künstliche Ernährung am anderen Ende mit der Nahrung herauskommt, d.h. an dem Ende, das unmittelbar in die Venen der Babys führt. Die Meßergebnisse übertrafen schlimmste Befürchtungen: Die DEHP-Konzentrationen lagen um das Tausendfache über der Durchschnittsbelastung Erwachsener.

Da Weichmacher lipophil sind, ist gerade eine fetthaltige Nährlösung besonders geeignet, große Mengen des giftigen Stoffs auszuwaschen und aufzunehmen. So kann es bei der üblichen Tagesdosis einer fettlosen Nährlösung aus Zucker und Aminosäuren für ein zwei Kilogramm schweres Frühgeborenes zu einer Belastung des kindlichen Organismus mit 0,12 Milligramm DEHP pro Tag kommen.

Bei der zweiten Standard-Nährlösung für Frühgeborene, dem sogenannten Fett-Vitamin-Mix, werden sogar zehnfach höhere Belastungen gemessen. Bei 13 Milligramm des Weichmachers nach 24 Stunden glaubten die Mediziner allerdings zunächst an einen Meßfehler.

Später wurde die hohe Fettlöslichkeit des Schadstoffes anhand der Infusionslösung "Propofol", einem gebräuchlichen Beruhigungsmittel, das den Säuglingen in einer Öl-Wasser-Emulsion intravenös verabreicht wird, noch einmal bestätigt. Hier wurde eine Belastung der kleinen Patienten von 6,5 Milligramm DEHP pro Tag gemessen.

Ein Vergleich zu Dialyse-Patienten, die bisher als Haupt-Risikogruppe galten, macht die Dimensionen deutlich. Bezogen auf das Körpergewicht ist die Belastung für intensivmedizinisch betreute Säuglinge etwa zehnmal so hoch. Allerdings dauert eine Dialyse höchstens vier Stunden und dann folgt eine mehrere Tage andauernde Regenerationsphase, während die Frühgeborenen oft wochenlang ununterbrochen mit Weichmachern vollgepumpt werden.

Nach dieser Studie wurden weitere Zahlen bekannt: Demnach können beispielsweise Bluttransfusionen auf Intensivstationen mit PVC- Schläuchen eine Belastung des Organismus mit bis zu 23 Milligramm DEHP pro Kilogramm Körpergewicht zugerechnet werden (zur Erinnerung: Schon 3,5 Milligramm reichten bei Ratten, um ihre Nachkommen bleibend zu schädigen). Die sogenannte "extracorporale Membranoxygenierung" - eine Beatmungstechnik, die bei nicht voll entwickelten Lungen die Atmung des Babys ersetzt -, beruht ebenfalls auf PVC-Plastikteilen, so daß es auch hier zu einem enormen Eintrag von DEHP durch die Atemluft kommt.

Frühgeborenen drohen Konsequenzen aus dieser "intensiv" betreuten Zeit, die von Schäden in den Geschlechtsorganen bis zu denen in Niere, Leber und Herz (zumindest nach Tierversuchen) reichen. Der Wiener Umwelttechniker Manfred Mühlberger ließ schon 2001 gegenüber der Süddeutschen Zeitung verlauten: "Wer weiterhin am status quo festhält, muß sich nach derzeitigem Wissensstand den Vorwurf gefallen lassen, Babys fahrlässig zu vergiften. Das Verbot von DEHP in Babyspielzeug müßte sofort auf die Kliniken ausgedehnt werden."

Die Notwendigkeit, DEHP-haltige Produkte im Klinikalltag zu vermeiden, wird durch die wissenschaftliche Datenlage deutlich. So weist das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in einer Stellungnahme darauf hin, dass Früh- und Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder, Kinder und Jugendliche bis zur Pubertät, schwangere Frauen und stillende Mütter als Risikopatienten in Bezug auf den Einsatz DEHP-haltiger Medizinprodukte eingestuft werden müssen. Darüber hinaus betont das BfArM, dass einige medizinische Verfahren besonders kritisch zu bewerten sind. Ein sehr hoher DEHP-Eintrag kann durch Medizinprodukte erfolgen, die dazu bestimmt sind, dem Organismus fetthaltige Flüssigkeiten zuzuführen. Ein ebenfalls erhöhter DEHP- Eintrag geht von Produkten aus, die auf Grund ihres Verwendungszwecks in Kontakt mit Schleimhaut, Blut, Wunden oder Geweben treten.
(Mitteilung vom BUND-Initiative "Schadstofffreies Krankenhaus" 4. September 2007)

Alternative, weiche Kunststoffe gibt es schon seit längerer Zeit. Doch sind Materialien wie Polyethylen oder Polyolefine vergleichsweise sehr viel teurer und deshalb will das Problem der Weichmacher die entscheidenden Ohren in den Kliniken, der Ärzte wie Gesundheitsbehörden einfach nicht erreichen, wenn man ihnen nicht unterstellen will, daß sie sich diesen Erkenntnissen bewußt verschließen. Erst wenige Kliniken haben tatsächlich Konsequenzen aus den bisherigen Erkenntnissen gezogen:

Die Kinderklinik Glanzing in Wien gilt als weltweit erste "PVC- freie" Klinik. Wegen der beunruhigenden Fakten zur Gesundheitsgefährdung durch DEHP und aufgrund eines Beschlusses der Wiener Stadtverwaltung hatte der Wiener Krankenanstaltenverbund eine spezielle PVC-Vermeidungsstrategie entwickelt. Mit Stand 2003 konnten diverse Kanülen, Sauger, Venenkatheter, Beatmungszubehör, Sonden, Perfusorschläuche und Injektionsspritzen, Verbindungsschläuche, Blutfilter und Infusionsbeutel auf PVC-freie Produkte umgestellt werden.

Die Kinderklinik Glanzing konnte den PVC-Anteil bei invasiven Produkten vom Jahr 2001 bis zum Jahr 2003 von 4,6 Gewichtsprozent auf 3 Gewichtsprozent reduzieren. Eine weitere Verringerung durch laufende Umstellung ist zu erwarten. Abgesehen von den derzeit noch nicht austauschbaren Trachealtuben wird in der Wiener Kinderklinik nur noch bei abführenden Systemen PVC-haltiges Material verwendet. Firmen, die keine Umstellung ihrer Produktion vorgesehen haben, werden künftig nicht mehr in die Liste der Lieferanten aufgenommen.
(Mitteilung vom BUND-Initiative "Schadstofffreies Krankenhaus" 4. September 2007)

Statt schnelle und unkonventionelle Maßnahmen zu unterstützen, müssen sich die entsprechenden Behörden sogar den Vorwurf gefallen lassen, weitere aufklärende Untersuchungen zu behindern.

So strebte die Mannheimer Forschergruppe schon 2001 eine endgültige Beweisführung mit Versuchen an Kaninchen und menschlichen Zellkulturen an, die jenen DEHP-Mengen ausgesetzt werden sollen, mit denen Frühchen heutzutage generell belastet werden. Anschließend sollten die Ergebnisse mit einer Studie über Ersatzmaterialien ohne DEHP verglichen werden. Der Beginn der Experimente wurde jedoch anfangs massiv von der Ethikkommission der Universität hinausgezögert. Vermutlich war das Ergebnis schon aus den Vorversuchen einfach absehbar und die dann offensichtlich notwendigen Konsequenzen wurden noch gescheut. Inzwischen ist die Bewertung jedoch eindeutig:

Der Weichmacher DEHP ist für seine giftige Wirkung auf das Fortpflanzungssystem bekannt. Neben den oben beschriebenen Wirkungen von Phthalaten bewirkt DEHP unter anderem einen ausfallenden oder verspäteten Eisprung, eine verminderte Nierenfunktion, sowie eine verringerte Leberfunktion. In Bezug auf diese Wirkungen erscheinen vor allem Menschen in empfindlichen Entwicklungsphasen besonders gefährdet zu sein. So ist eine DEHP- Belastung für Frühgeborene und Neugeborene aufgrund der Forschungsergebnisse als inakzeptabel einzustufen.
(Mitteilung vom BUND-Initiative "Schadstofffreies Krankenhaus" 4. September 2007)

Das wußte man allerdings schon seit Jahren, wie man an dem folgenden Abschnitt sieht:

Risikobewertung durch öffentliche Stellen

Aufgrund dieser Wirkungen wurde DEHP von der EU bereits 2001 als toxisch und fortpflanzungsgefährdend eingestuft. Alle chemischen Präparate, die über 0,5 % DEHP enthalten, müssen seitdem mit dem Totenkopfsymbol ("giftig") gekennzeichnet werden. Sie müssen die Hinweise "Kann das Kind im Mutterleib schädigen" und "Kann möglicherweise die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen" tragen.
(Mitteilung vom BUND-Initiative "Schadstofffreies Krankenhaus" 4. September 2007)

Laut BUND werden medizinische Produkte jedoch nach wie vor nicht als chemische Präparate im Sinne der EU-Vorschrift eingeschätzt. Daher weisen PVC-Produkte im Krankenhaus, oft mit einem Gehalt von 20 bis 40% DEHP, nicht diese Kennzeichnung auf. Die EU habe zwar aufgrund der Risikobewertung des Europäischen Chemikalienbüros (ECB) eine Risikoreduktionsstrategie für DEHP entworfen. Darin wird empfohlen, daß Schwangere und Kleinkinder unverzüglich vor DEHP-haltigen medizinischen Produkten geschützt werden müssen. Im selben Jahr hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Warnung an Gesundheitsexperten veröffentlicht. Darin wird empfohlen, daß insbesondere in der Intensivversorgung von Früh- und Neugeborenen eine DEHP-Belastung, wenn möglich, vermieden werden soll. Im aktuellen Trend der Gesundheitskostensparpolitik werden solche Empfehlungen jedoch hinfällig und Kliniken bleiben bei den gängigen und giftigen Produkten. Man baut hier offensichtlich nach wie vor auf die Anpassungsfähigkeit des Menschen, auch schon im frühsten Säuglingsalter mit großen Mengen an Giftstoffen fertig zu werden. Früh übt sich ...

21. Januar 2008