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UMWELTLABOR/249: Sick Building Syndrom (3) Chemische Alternativen ausgeschlossen ... (SB)


Mögliche Alternativen zur Vermeidung gebäudeinduzierter Erkrankungen?


Nach diversen Skandalen wurden schon Mitte der 80er Jahre einige klassische Umweltgifte aus dem Verkehr gezogen. Seit 2008 regelt ein neues europäisches Chemikalienrecht, die sogenannte REACH-Verordnung, die Chemikaliensicherheit. Doch sind Verbote kaum mehr als ein frommer Betrug, denn sie stellen zwangsläufig einen Freibrief für die Verwendung aller alternativen Chemikalien dar, die nicht unter die gesetzliche Regelung fallen, und verhindern bestenfalls die weitere Emission einer begrenzten Anzahl von Stoffen im Rahmen dieses Gesetzes. Dazu hieß es in einer Pressemitteilung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen:

Bisher hat die Chemikalienagentur 10 Prozent der von ihr bewerteten Stoffe als so gefährlich eingestuft, dass Produkte, in denen sie enthalten sind, gekennzeichnet werden müssen. Die Fristen von REACH sind leider nicht geeignet, die Bürger vor den sogenannten SVHC, den besonders besorgniserregenden Stoffen zu schützen. Damit wird REACH in seiner bisherigen Anwendung dem Anliegen, die Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher zu verbessern, nicht gerecht.
(Pressemitteilung Sylvia Kotting-Uhl MdB, Umweltpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, 28. November 2008)

So dürfen beispielsweise Polychlorbenzole (PCB) schon seit 1989 nicht mehr verwendet werden. Wissenschaftler bescheinigen dem Flammschutzmittel chronische Toxizität. Es reichert sich in der Nahrungskette an und verursacht auf der Haut von Menschen, die hohen Dosen ausgesetzt sind, Chlorakne. Während öffentliche Gebäude unter hohen Kosten saniert werden, bleiben jedoch private Wohnungen und Häuser meist weiterhin mit diesen Stoffen kontaminiert, immerhin kostet die Grundsanierung einer einzigen Wohnung schätzungsweise 17.500 Euro.

Formaldehyd, das noch in den 70er Jahren in Isolierschäumen und in Klebstoffen zum Verleimen von Spanplatten eingesetzt wurde, spielt als Wohngift inzwischen eine angeblich untergeordnete Rolle. Nachdem seine krebserregende Wirkung erwiesen wurde, fuhr die Industrie den Einsatz des Reizgases drastisch zurück, so daß es in neuen Möbeln nicht mehr befürchtet werden muß, solange diese innerhalb der EU-Länder produziert wurden.

Auch Lindan und das Holzschutzmittel Pentachlorphenol (PCP) sind inzwischen größtenteils vom Markt verschwunden, letzteres ist nur noch in dem Biozid "Xylamon" enthalten. Nachdem der Hersteller Desowag von einigen "Heimwerkern" verklagt wurde, weil PCP sich als schwache Säure erwiesenermaßen an Plasmaproteine anlagert und Leber, Nieren, Herz und Nervensystem schädigt sowie cancerogen ist, wurde die Verwendung von PCP 1986 verboten. Drei Jahre später untersagten die Behörden sogar die Herstellung.

Als Ersatz für die Holzschutzmittel PCP und Lindan wurde damals die Gruppe der sogenannten Pyrethroide empfohlen. Hierbei handelte es sich um die synthetischen Abkömmlinge des natürlichen Insektizids Pyrethrum, das aus den Blüten der Chrysantheme extrahiert wird. Sie galten lange Zeit als unbedenklich. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts werden sie zur Bekämpfung von Schadinsekten in der Landwirtschaft, aber auch im Haushalt eingesetzt. Sie gehören zu den derzeit am häufigsten verwendeten Insektiziden. Pyrethroide führen bei Kontakt sehr schnell zum Tod von Insekten, indem sie das Nervensystem der Tiere schädigen.

Auch für die erste Lösungsmittelgeneration der leicht flüchtigen aromatischen Kohlenwasserstoffe (Toluol, Xylol) wurden vermeintlich harmlose Alternativen auf den Markt gebracht: Schwer flüchtige Glykolverbindungen ersetzen heute in den Farben und Lacken die als krebserregend verpönten Aromaten, die u.a. auch wegen ihrer narkotisierenden Wirkung in Verruf geraten waren.

Während Toluol und Xylol Farben, Lacke und Klebstoffe nicht nur wesentlich besser streichfähig halten und schneller trocknen lassen, reichern sie sich in Fett, Nervengewebe, Knochenmark und Leber an - Toluol gilt sogar als fruchtschädigend, was allerdings nur im Tierversuch bestätigt wurde. Lacke die mit der Alternativchemie, die maximal 10 Prozent Glykol enthält, auskommen, dürfen sich dagegen mit dem Blauen Umweltengel schmücken.

Tatsächlich erwiesen sich auch die menschenfreundlichen Alternativen nur als kurzfristige Umlastung des Problems. Denn auch die Ersatzstoffe sind nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen. Im Gegenteil, inzwischen bescheinigen Wissenschaftler mit Umweltengel zertifizierten Wohngiften der zweiten Generation, gefährlicher zu sein als die früher üblichen Stoffe.

Daß praktisch jede Chemikalie ab einer gewissen Konzentration auch schädliche oder schädigende Einflüsse besitzt, sollten Chemiker jedoch eigentlich wissen. So wurde bewußt auf Substanzen umgestiegen, gegen die Verbraucher noch nicht sensibilisiert waren und über deren hochdosierte oder akkumulierte Auswirkung auf Lebewesen es einfach noch keine Erfahrungswerte gab, um den Markt zu bedienen und den Rubel am Rollen zu halten. Aber auch das europäische Chemikaliengesetz REACH bietet der Chemieindustrie ausreichend Gesetzeslücken, um schlicht weiterzumachen wie bisher. So erklärte Sylvia Kotting-Uhl, die umweltpolitische Sprecherin anläßlich des Endes der Vorregistrierungszeit für Chemikalien im Rahmen der europäischen Chemikalienverordnung REACH am 1. Dez. 2008:

Die hohe Zahl der Vorregistrierungen bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) zeigt, dass weitaus mehr Altchemikalien im Umlauf sind, als bisher vermutet wurde. Umso schwieriger wird die Überprüfung der einzelnen Stoffdaten mit der notwendigen Sorgfalt, ohne dass es zu weiteren Verzögerungen bei der Registrierung und Bewertung der Chemikalien kommt. Die Anmeldeflut deutet leider auch darauf hin, dass Unternehmen der Chemieindustrie gezielt Lücken in der Chemikalienverordnung ausnützen, weil vorregistrierte Stoffe und daraus hergestellte Produkte zunächst weiter ohne Kennzeichnungsverpflichtung verkauft werden dürfen.
(Pressemitteilung Sylvia Kotting-Uhl MdB, Umweltpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, 28. November 2008)


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Umwelttoxizität definitiv bei einer Substanz festzustellen, ist schon deshalb schwierig, weil jeder Mensch, jeder Organismus anders auf Umweltgifte reagiert, die auch noch miteinander wechselwirken oder sich verstärken können. Vor dem Hintergrund dieses Wissens ist es jedoch reiner Wahnsinn, neue, unausgetestete Substanzen als unbedenklich zu erklären.

Auch die als Richtwert festgelegten Grenzwerte der sogenannten MAK- Liste, in der die für den Menschen gefährlichen Schwellendosen und damit die maximal zulässigen Giftstoffkonzentrationen am Arbeitsplatz festgeschrieben sind (herausgegeben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für gefährliche Arbeitsstoffe), können als reine Augenwischerei gesehen werden.

Fest steht, daß beispielsweise Glykol-Lösungsmittel verdampfen müssen, damit Lacke und Kleber aushärten - und dabei gelangen sie über Haut und Lunge in den menschlichen Körper, wo sie vor allem in hohen Konzentrationen sehr schädlich sein können. Insbesondere die Ethylenglykolether und ihre Acetate dezimieren rote und weiße Blutkörperchen und zersetzen das Knochenmark: Zu diesem Ergebnis kam laut des populärwissenschaftlichen Magazins PM die sogenannte Welch- Cullen-Studie, die im Jahre 1988 das Blutbild amerikanischer Werftarbeiter analysierte. Eine andere Studie ließ vermuten, daß auch die Qualität von Spermien beeinträchtigt wird und Glykolether fruchtschädigend wirken. Aufgrund ihres hohen Siedepunkts von meist über 200 Grad Celsius gasen Glykole aus den Wandfarben und verkleben Teppichböden meist nur sehr langsam. Den Handwerkern wird dadurch zwar ein narkotisierender Rausch erspart, die MAK-Werte bleiben im grünen Bereich, doch die späteren Bewohner der auf diese Weise renovierten Bauten sind in den folgenden Lebensjahren nicht mehr wahrnehmbaren Giftdämpfen und gleichzeitiger gesundheitlicher Schädigung ausgesetzt.

Auch die als natürliche Alternative propagierten Pyrethroide halten keineswegs, was sie versprechen. Zunächst als harmlos und unbedenklich in Insektiziden gegen Motten eingesetzt, stellte sich inzwischen heraus, daß Pyrethroide keinesfalls selektiv nur auf Kaltblüter wie Insekten wirkt. Das Nervengift zerrüttet u.a. auch das menschliche Nervensystem, indem es die Nervenmembranen mit einer Flut von Signalen übermäßig erregen und dadurch die Übertragung anderer, wichtiger Reize blockieren kann. Die Wirkung des Giftes macht sich durch Taubheitsgefühl z.B. beim Rasieren bemerkbar. Auf hohe Dosen reagiert der Körper sogar mit Krämpfen und Lähmungen. Jahrelang dünsten Pyrethroide aus Holzdecken mit Schutzanstrich und Teppichen mit Wollsiegel-Ausrüstung in die Atemluft und reichern sich im Hausstaub an. Auf dem Boden spielende Kleinkinder und Haustiere sind dem Gift schutzlos ausgeliefert. Selbst relativ unempfindliche Menschen reagieren darauf mit Unwohlsein und Befindlichkeitseinschränkungen, deren Ursachen jedoch gemeinhin nicht in der hauseigenen Chemie gesucht werden.

In Zeiten der Fliegen und Mückenplagen kontaminieren die Feinde der ungeliebten Krabbeltiere ihre Häuser und Wohnbereiche freiwillig mit giftigen Sprühnebeln aus der Spraydose, die sich ebenfalls im Hausstaub auf Wänden, Fußböden und Möbeln niederlassen und dort weiter vor sich hin dünsten. Manche Wissenschaftler stufen die Giftigkeit dieser sogenannten Sekundärkontamination stärker ein als die von Lindan oder PCP. Als typische Symptome einer Langzeitwirkung werden Kribbeln, Schwindel und Herzjagen genannt. Zur Sanierung hochgradig mit Insektenspray verseuchter Wohnungen bleibt nur noch das Auswechseln aller Tapeten, Bodenbeläge und Möbel [siehe auch NEWS/692: Pestizidlabor Südspanien - wieviel der Mensch aushält (SB)].

Die moderne Wohnbauweise mit hermetisch abschließenden Fenstern hat für eine weitere "natürliche" Umweltbelastung gesorgt, vor allem dann, wenn die Wohnungsinhaber, um Heizkosten zu sparen, die Fenster nur selten einmal zum Lüften öffnen. Die Feuchtigkeit aus Bad, Küche oder Atemluft schlägt sich an kälteren Wänden nieder und bildet ein ideales Biotop. Werden die Wohnungen nicht ständig gleichmäßig temperiert und häufig gelüftet, verschimmeln sie regelrecht, und zu den chemischen Giften, Dämpfen und Altlasten kommen Schimmelpilztoxine hinzu, die das traute Heim zur Brutstätte von ungreifbaren Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen werden lassen: die klassischen Symptome des Sick Building Syndrom!

Abgesehen von der Building related Illness (BRI) und dem Multiplen Chemikalien Syndrom werden diese Symptome u.a. auch mit denen von Hausstauballergikern verwechselt, was dann meist zu einer Reihe von Maßnahmen führt, die die chemische Gesamtbelastung der Umgebung noch verstärken. So wird Hausstauballergikern - damit sie überhaupt zur Nachtruhe kommen - geraten, ihre Matratzen mit Spezialbezügen abzudichten, spezielle Bettwäsche aus Kunststofffasern, die wöchentlich gewechselt wird und vor allem Hautmilben (auf deren Exkremente der Hausstauballergiker u.a. allergisch reagiert) ihre Nahrungsgrundlage entziehen. Abgesehen davon, daß derartige Betten für das Wohlbefinden ihres Benutzers wenig besser sind, als eine Kunststoffparkbank, da luftundurchlässige Materialien äußerst schweißtreibend sein können, setzt eine solche Behandlung von Bett, Matratze und Bettzeug besonders strapazierfähige Materialien voraus, die selbst möglichst wenig Staub, d.h. Fasern u.ä. Abrieb abgeben können. Zahlreiche verschiedene Kunststoffmaterialien sorgen hier für die geeignete Allergiker- HighTech. Weitere spezielle sogenannte "Encasings" (englisch für Umhüllungen) wie teflonbeschichtete Fasern sollen zusätzlich helfen, die Hausstaubmilben fern zu halten.

Doch das, was eigentlich vor Allergien schützen soll, kann dann selbst und vor allem bei empfindlichen Menschen zu Hautreizungen und Entzündungen führen, enthalten Kunststofffasern doch u.a. als bedenklich einzustufende Weichmacher (Phtalate) und Encasings, zinnorganische Verbindungen (bekannt auch als giftige Antifouling- Anstriche für Schiffsrümpfe) und antimikrobiell wirksame Phenole.

Doch ganz gleich von welchen hausspezifischen Befindlichkeitsstörungen die Symptome herrühren, sie werden selbst heute noch von Vertretern der Chemischen Industrie meist als hypochondrisches Syndrom verharmlost. Selbst in der oben erwähnten Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hieß es an einer Stelle, die Häufung der aufgeführten Symptome könne auch an der Art der Fragestellung liegen. "Menschen jammern eben gern". Bei den ärztlichen Untersuchungen wurden zwar auch deutlich sichtbare Veränderungen wie Hautrötungen, Parästhesien, Ausschläge, Schwellungen, Augenreizungen (tränende wie trockene Augen) bis hin zu Krämpfen und Benommenheit festgestellt, die dann aber generell mit der vagen Formulierung wie

- Zwischen den Werten des Biomonitorings (Pyrethroid-Metabolite im Urin) und der Nennung von Symptomen herrscht kein eindeutiger Zusammenhang.
(Quelle: Pyrethroidexposition in Innenräumen, Bundesministerium für Bildung und Forschung)

kurzerhand unter den Teppich gekehrt wurden. Um zu unserer eingangs gestellten Frage zurückzukehren, gibt es jedoch auch keine wirkliche Alternative, also eine chemie- oder zumindest schadstofffreie Bauweise. Die natürlichen Baustoffe reichen beileibe nicht aus, um allen Menschen "unbelastete" Wohnbereiche zu schaffen. Darüber hinaus sind immer neue Chemikalien notwendig, um die bestehenden Bauten vor der zunehmend korrosiven Atmosphäre zu schützen, die heute schon mit unzähligen, bekannten wie unbekannten neuen Stoffen angereichert ist. Ein Ausstieg aus diesem Teufelskreis wird immer weniger denkbar...

9. März 2009