Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

UMWELTLABOR/251: Fliegen macht krank (2) Der Duft von alten Socken (SB)


Was ist eigentlich Tricresylphosphat?

Organische Phosphorsäureester sind überall...


In der ARD-Sendung "plusminus" im Februar wurde deutlich ausgesprochen, worauf auch die britische Organisation "Aerotoxic Association" schon seit Jahren aufmerksam zu machen sucht: "Spuren einer als Nervengift eingestuften Chemikalie", so hieß es, wären "in Flugzeugkabinen gefunden" worden.

In Zusammenarbeit mit der Redaktion "Kassensturz" vom Schweizer Fernsehen wurden in den vergangenen Monaten bei Stichproben über 30 Abstriche in Verkehrsflugzeugen namhafter Fluggesellschaften gemacht. 28 Proben weisen zum Teil sehr hohe Anteile von Trikresylphosphat, kurz TCP, auf. Dabei handelt es sich um eine ausschließlich dem Triebwerksöl beigefügte Chemikalie, aus der Gruppe der organischen Phosphate, die als Nervengift bekannt ist.
(ARD-Wirtschaftsmagazin "plusminus", 2. Februar 2009, 15:09 Uhr)

Die Stichproben wurden durch den weltweit anerkannten Toxikologen, Professor Christiaan van Netten von der Universität in British Columbia, Kanada ausgewertet. Professor van Netten ist nicht nur durch zahlreiche Fachpublikationen ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, er hat auch im Auftrag der Federal Aviation Administration (FAA) die Belastung der Kabinenluft in Flugzeugen erforscht.

Wie schon in der ersten Folge (UMWELTLABOR/250) geschildert, wird die Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen in der Regel nicht gefiltert, so daß bei Störfällen die Verbrennungsrückstände des Öls über die Klimaanlage in die Kabinenluft gelangen und dort von Besatzung und Passagieren eingeatmet werden können. Darüber hinaus muß man davon ausgehen, daß der künstlich verringerte Luftdruck, die Verteilung dieser Stoffe in der Luft begünstigt und auch die sich in den filterartig wirkenden Sitzpolstern, Textilvorhängen, Teppichen, Wänden absetzenden und dort akkumulierenden Verbindungen in der verdünnten Luft leichter wieder ausdünsten können.

In diesem Zusammenhang sind seit 1983 weltweit zahlreiche Fälle bekannt geworden, bei denen vermutet werden muß, daß Besatzungsmitglieder und Passagiere in Folge solcher Kabinenluft-Kontamination erkrankt sind. Man kann allerdings von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgehen, weil zwischen dem Ereignis und den sofort bzw. auch noch nach einigen Wochen auftretenden Symptomen nicht immer ein direkter Zusammenhang hergestellt werden kann.

Um zu verstehen, daß es sich dabei um eine ernstzunehmende Vergiftung handelt, muß man den Stoff einmal selbst unter der Lupe betrachten:

Es handelt sich dabei eindeutig um ein Organophosphat bzw. Phosphorsäureester, von denen es zahlreiche unterschiedliche giftige Varianten gibt, die in der Vergangenheit vor allem als Insektengifte (Pestizide, Insektizide) von sich Reden machten.

Eines der bekanntesten Stoffe dieser Reihe und ein langjähriger Insektenvernichter erster Wahl ist das sogenannte Parathion (besser bekannt als E 605). Deutschland war eines der letzten Länder, das dieses traditionelle deutsche Bayer-Mittel vom Agrochemie-Markt nahm. Seit Anfang 2002 ist seine Anwendung verboten. E 605 schaffte es trotz starker Lobby nicht mehr, in die "Liste zulässiger Wirkstoffe" der EU-Richtlinie über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln aufgenommen zu werden, da es zu "gefährlich für Anwender und Umwelt" war, wie die zuständige Kommission der Europäischen Union schon im Juli 2001 befand. Die Ähnlichkeit zu Tricresylphosphat ist im Vergleich der chemischen Strukturformeln auch für den Laien unverkennbar. Dennoch geht man mit beiden Giftstoffen nach wie vor recht verantwortungslos um:

So war die Gefährlichkeit des vermeintlich biologisch leicht abbaubaren Insektizids, das wegen seiner geringeren Verweildauer in der Umwelt das extrem langlebige DDT (Di-(p-chlorphenyl)-ß-trichlor-ethan) in der Landwirtschaft abgelöst hatte, schon lange bekannt und wurde beim Einsatz von E 605 bewußt in Kauf genommen. In anderen Ländern wie etwa Dänemark, Finnland, Irland und Schweden wurde das von der Weltgesundheitsorganisation als "extrem gefährlich" eingestufte Insektizid wesentlich früher vom Markt genommen.

Parathion, dem von Fachleuten eine "hohe Warmblütertoxizität" bescheinigt wird, wirkt schon beim Einatmen und wird sogar über die Haut aufgenommen. So führte E 605 auch unbeabsichtigt immer wieder zu Todesfällen, vor allem bei Landarbeitern.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete von einem Vorfall vor zwei Jahren, bei dem in Peru 24 Kinder durch E 605-haltige Schulmilch vergiftet worden waren. Das Mittel "Folidol" war dort ohne ausreichende Warnhinweise als weißes Pulver verkauft und offenbar mit Milchpulver verwechselt worden. Die Kinder starben an Atemlähmung - ebenso wie jene zwölf Japaner, die 1995 in Tokio einem Anschlag mit dem Kampfstoff Sarin in der U-Bahn zum Opfer fielen.

Die Ähnlichkeit der Fälle hat System: Chemiewaffen wie Tabun und Sarin und das Pflanzenschutzmittel Parathion wurden in demselben Labor und sogar von demselben Chemiker Gerhard Schrader entwickelt, der seinerzeit als Laborleiter für IG-Farben arbeitete. Während er Phosphorverbindungen auf insektizide Eigenschaften hin untersuchte, entdeckte er 1936 das Nervengas Tabun, 1937 Sarin.

Beide Verbindungen waren schon vorher bekannt, entsprechende Publikationen in der Fachpresse datieren von 1902, doch Schrader war der erste, dem die tödliche Wirkung der Gase auffiel. Er verbesserte daraufhin den Syntheseweg, für den IG Farben 1938 das Patent anmeldete. Die Nationalsozialistische Partei ordnete sofort strengste Geheimhaltung über diese Entdeckung an und gab ihr den Tarnnamen N-Stoff. N-Stoff wurde nicht nur an Meerschweinchen getestet, sondern auch an Affen und schließlich an Insassen von Konzentrationslagern.

Die in "plusminus" verbreitete Aussage "Tricresylphosphat gehöre "zu der Gruppe der organischen Phosphate wie beispielsweise auch das Nervengift Sarin" ist allerdings falsch.

Sarin und Tabun gehören zur Gruppe der phosphororganischen Verbindungen, die wegen der Phosphorestergruppe (P - O - CH...) eine gewisse Ähnlichkeit zu Phosphorsäureestern wie Parathion oder Tricresylphosphat aufweisen und daher auch oft damit verwechselt werden. Es gibt jedoch Unterschiede, so daß diese chemischen Kampfstoffe einer anderen chemischen Kategorie zugeordnet werden müssen.

Der äußerlich kleine Unterschied ist bei Sarin der Methylrest, der direkt über das Kohlenstoffatom an das für alle Verbindungen zentrale Phophoratom gebunden ist (bei Tabun ist es entsprechend die "-CðN"-Verbindung - d.h. die sogenannte Nitrilgruppe). Durch diese Abwandlung geht die Phosphorsäurestruktur (s.o.) verloren und das macht die Nervengase zu sogenannten phosphororganischen Verbindungen.

Organophosphate, die sich direkt von der Phosphorsäure (H3PO4) ableiten, fehlt eine solche P-C-Bindung, weshalb sie für Säugetiere etwas ungefährlicher, aber immer noch für Insekten und bei entsprechenden Mengen auch für Menschen tödlich sind. Da sich auch Organophosphate in der Nahrungskette und im Fettgewebe anreichern können und sich wegen ihres Anwendungsmonopols in der Umwelt weltweit ausgebreitet und konzentriert haben, wurden sie immer schon als extrem umwelttoxisch eingestuft. Das gleiche gilt auch für jenes Tricresylphosphat (TCP) das in Flugzeugkabinen eingeatmet wird. Zwar hieß es hierzu recht ausweichend in der Sendung "plusminus":

Über die Auswirkungen auf den menschlichen Organismus gibt es bislang nur wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse in Bezug auf die Einnahme, beispielsweise über die Nahrung, nicht jedoch über die Inhalation in einer Druckkabine, wie im Flugzeug.
(ARD-Wirtschaftsmagazin "plusminus", 2. Februar 2009, 15:09 Uhr)

Die Akkumulation im Fettgewebe sorgt jedoch letztlich dafür, daß die Wirkung bei geringerer Belastung nur ein wenig verzögert eintritt. Das läßt sich auch ohne wissenschaftliche Studien schon voraussagen. Zudem zeigt sich an den Erfahrungsberichten und medizinischen Bulletins verschiedener Piloten, daß die Konzentration der Nervengifte in der Kabinenluft durchaus zeitweilig Werte erreichen kann, die akkute Vergiftungssymptome hervorrufen.

Trotz des geringen Unterschieds zwischen Kampfgasen und Pestiziden ist der Ansatzpunkt der Nervengifte im Enzym- und Nervensystem exakt derselbe: Die hier abgebildeten Substanzen (und somit auch Tricresylphosphat) greifen ein bestimmtes Enzym an, das für die Funktionsfähigkeit des Nervensystems in den Synapsen unverzichtbar ist, die Acetylcholinesterase. Diese ist durch eine Glykolipidgruppe an die postsynaptische Membran gebunden und sorgt aufgrund ihrer hohen katalytischen Aktivität (Wechselzahl) dafür, daß der Botenstoff des Nervensystems, das Acetylcholin, gespalten und außer Kraft gesetzt wird, nachdem dieser seine Funktion als Überträger eines Nervenimpulses oder -Signals über den synaptischen Spalt hinweg erfüllt hat. Die Acetylcholinesterase hat somit eine zentrale Schlüsselfunktion, um Aktionspotentiale (bzw. Impulse) sehr schnell weiterzuleiten.

Wird nun dieses Enzym durch ein Nervengas, Pestizid oder die in Flugzeugkabinen gefundenen toxischen Substanzen an diesen "Aufräumarbeiten" gehindert, bleibt die Botschaft gewissermaßen im Briefkasten stecken. Die weitere Nachrichtenübermittlung bricht nicht nur vollständig zusammen, sondern das Nervenende wird (durch den steckenden "Brief") unkontrolliert weiter stimuliert, was zu Zuckungen, Krämpfen und - falls Herz oder Lunge betroffen sind - schließlich zum Tod führen kann. Nervengiftgase können die Acetylcholinesterase so effektiv blockieren, daß bereits geringste Mengen tödlich wirken.

An die Beeinträchtigung von Phophorsäureester als unterschwelliges Gift ist der Mensch zwangläufig durch die weltweite Anwendung gewöhnt worden. Es gibt eigentlich keinen Lebensraum, der nicht mit E 605 kontaminiert ist. Und es ist schon recht erstaunlich, wieviel Gift der Mensch, der schließlich auch noch andere Schadstoffe mit Hilfe seines Stoffwechsels verarbeiten muß, zumindest äußerlich betrachtet, gut vertragen kann. Möglicherweise ist es nur dieser ubiquitären Daueranpassung zu verdanken, daß heutige Wissenschaftler ungestraft behaupten dürfen: "Die trockene und dünne Kabinenluft in Flugzeugen führt nicht zu Gesundheitsschäden!" (siehe UMWELTLABOR/250) oder anders gesagt, daß ein Flugreisender den Langstreckenflug mit wenig mehr als Befindlichkeitsstörungen übersteht. Es gibt jedoch auch Grenzen, die nicht mehr durch körpereigene Anpassung überschritten werden können und die sind gerade bei einer unkontrollierbaren weiten Verbreitung in Haus- und Agrarchemie schnell erreicht.

Wie seine Karriere in Gerichtsakten und Kriminalromanen beweist, beschränkt sich die Wirkung von Parathion, beispielhaft für alle organischen Phosphorsäureester, nicht nur auf Schildläuse oder Spinnmilben. Nur fünf Tausendstel Gramm Gift pro Kilogramm Körpergewicht reichten beispielsweise schon zum Ehegatten- oder Schwiegermuttermord.

So soll laut Süddeutscher Zeitung in den 50er Jahren der Prozeß gegen eine Frau Aufsehen erregt haben, die nicht nur zwei Angehörige mit einer bitter schmeckenden und lauchartig riechenden Flüssigkeit umbrachte, sondern auch noch eine Freundin samt Hund. Die Häufung der Todesfälle erregte Verdacht, die Dame wurde verurteilt.

E 605 gehörte lange Zeit zu den wenigen, jedermann zugänglichen Giften, die als Tatwaffe für eine Vielzahl von Kriminalfällen wie die Erpressung von Lebensmittelherstellern, Selbstmord, aber auch zur Beseitigung von Haustieren eingesetzt wurde. Durch sein Verbot ist weder die Gefahr der Umwelttoxizität noch die Gefahr der Vergiftung ganz aus der Welt geschafft. Zum einen läßt sich bei entsprechendem kriminellen Interesse die Phosphorsäureveresterung recht einfach aus den entsprechenden Alkoholen und Phosphoroxychlorid (POCl3) (bzw. im Fall von Parathion Phosphorsulfochlorid (PSCl3)) im Kochtopf improvisieren.

Zum anderen werden Ester der Phosphorsäure (ob Thiophosphorsäure-Dithiophosphorsäureester oder Verbindungen ohne Schwefel) weltweit für viele andere Zwecke eingesetzt und gelangen auf subtilen Wegen ebenfalls in die Umwelt und in die Verbraucher. Ein Beispiel solcher Anwendung stellt das Tricresylphosphat als Additiv im Flugzeugtreibstoff dar.

Tricresylphosphat und andere organische Phosphorsäureester werden zudem als Weichmacher für Kunststoffe (Thermoplaste) verwendet. Entsprechende Kunststoffe, aus denen diese Weichmacher austreten, finden sich in jedem Haushalt.

Neben Tricresylphosphat weist auch der Weichmacher Tributylphosphat eine frappante Ähnlichkeit zum Parathion auf, mit entsprechenden parallelen Nebenwirkungen auf den Nervenstoffwechsel von Warmblütern:

Darüber hinaus muß die nun durch das Verbot von Parathion geschlagene Versorgungslücke mit neuen Insektiziden geschlossen werden, um die wachsende Weltbevölkerung mit Agrarprodukten zu versorgen. Entsprechende Ersatzstoffe stehen schon bereit, um, wie seinerzeit E 605 das DDT, nun anstelle von Parathion ihren Marktvorteil zu sichern, entsprechende Nebenwirkungen sind garantiert:

"Mehr als zwei Drittel aller weltweit eingesetzten Insektizide setzen am Nervensystem an", erläutert der Gartenbau-Ingenieur Thomas Lohrer von der Fachhochschule Weihenstephan. "Doch in Deutschland tragen jetzt von den rund 240 zugelassenen Insektiziden nur noch fünf das Gefahrensymbol für "sehr giftig". Lediglich eines davon wird als Spritzmittel in Gartenbau und Landwirtschaft verwendet, die anderen für die Begasung im Vorratsschutz".«
(Süddeutsche Zeitung, 2002)

Und dafür, daß sich nur wirklich wirksame (sprich: giftige) Pestizide mit entsprechend hoher Warmblütertoxizität durchsetzen werden, wird die chemische Industrie gemeinsam mit der neuen gesetzlich geregelten sogenannten Indikationszulassung schon sorgen. Danach wird die Lizenz zum Töten nur noch für den jeweils genehmigten Zweck erteilt, d.h. eine Substanz muß auf ihre Eignung für bestimmte Kulturen und Schädlinge untersucht werden und wird dann auch nur für diese spezielle Anwendung zugelassen.

Die generelle Verseuchung der Welt mit Phosphorsäureestern aller Art entschuldigt jedoch nicht, daß Fluggesellschaften ihre Passagiere in der Regel nicht über die Gefahren unterrichten, die von diesen Stoffen ausgehen und schon seit 1999 als gesundheitliche Schädigungen unter der Bezeichnung "Aerotoxisches Syndrom" bekannt sind und das von den untersuchenden Ärzten wie den Flugzeugbetreibern gemeinhin heruntergespielt wird. Selbst wenn Vergiftungen reversibel sind, d.h. sich der Körper anschließend davon wieder erholen kann: Der Duft nach alten Socken oder Staubsaugerbeuteln sollte jeden Passagier alarmieren, daß sich sein Organismus mit Chemikalien auseinandersetzen muß, die keineswegs "natürlich" und höchst schädlich sind.

Fortsetzung folgt...

17. März 2009