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GESCHICHTE/060: Vor 100 Jahren eröffnet Bakelit das Kunststoffzeitalter (SB)


100 Jahre Bakelit

Die Wiege des synthetischen Kunststoffs stand in Brandenburg


Wer den schwarzen Griff einer Pfanne oder eines Kochtopfes anfaßt, ist sich wohl kaum noch bewußt, daß er ein Stück chemische Zeitgeschichte in Händen hält. Denn bei dem für seine dunkelbraune, dunkelrot-grün gemaserte oder auch tiefschwarze Farbe und für seine harte, unflexible Konsistenz typischen Material handelt es sich um den ältesten, synthetisch erzeugten Hartkunststoff Bakelit. Noch in den frühen Anfängen unserer Republik wurden daraus sämtliche Elektrogeräte hergestellt. Vor allem die bekannten schwarzen Fernsprecher mit Hörergabel und Wählscheibe wären ohne es undenkbar, ebenfalls Elektrostecker, Steckdosen, Lichtschalter, Sicherungen oder Volksempfänger. Seine besonders guten Isoliereigenschaften haben dem spröden Bakelit bis heute in vielen Produkten eine Existenzberechtigung gelassen, u.a. in den oben erwähnten Pfannenstilen.

Inzwischen werden für nostalgische Zeitgenossen manche Gegenstände wieder im Bakelit-Look hergestellt, ohne es zu sein. Seinerzeit war es allerdings kaum etwas anderes, als ein ziemlich häßliches Zufalls- und Abfallprodukt, das sich einfach nicht in einer anderen Farbe erzeugen ließ.

Als sogenannter "Stoff der 1000 Möglichkeiten" hat es auch die brandenburgische Kleinstadt Erkner bei Berlin geprägt. Dort wird seit dem Jahr 1909 Bakelit in den Rütgerswerken produziert. Diese hatten die Arbeiten des gebürtigen Belgiers Leo Hendrik Baekeland mit Interesse verfolgt und das Potential seiner Erfindung als erste erkannt.

Die Entdeckung des Bakelits geht allerdings wieder einmal auf einen Zufall zurück, der eng mit der Geschichte seines Entdeckers verbunden ist, weshalb man mit diesem beginnen sollte:

Leo Hendrik Baekeland, als Sohn eines Schuhmachers am 14.11.1863 geboren, studierte an der Universität von Gent Chemie und erlangte bereits 1884 den Doktorgrad mit höchster Auszeichnung. Er erhielt ein Auslandsstipendium an die Columbia University in New York, wo er fernerhin blieb und die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm.

Wäre er selbst nicht so sehr an der Photographie interessiert gewesen, weshalb er ein neues Photopapier erfand, das unter dem Namen "VELOX" bekannt wurde, er hätte vielleicht gar nicht die Zeit für weitere Forschungen gefunden. Dieses neue Papier konnte bei Kunstlicht entwickelt werden, ermöglichte somit erst das Photographieren für jedermann und damit einen ganz neuen Zweig des Massenkonsums.

Mit dem Verkauf des Patents für eine Million Dollar an George Eastman, dem Erfinder des Rollfilms und der Kodak-Kamera, hatte Baekeland vorerst ausgesorgt und die nötigen finanziellen Mittel, sich ausschließlich seinen eigenen Interessen in einem extra dafür eingerichteten Privatlabor in Yonkers zu widmen. Es ist daher falsch, wenn in manchen Büchern behauptet wird, er hätte sein Vermögen allein mit Bakelit gemacht.

Ganz im Gegenteil beschäftigte er sich auch mit weniger lukrativen oder erfolgversprechenden Themen. Etwa 1900 verfolgte er beispielsweise die Idee, einen künstlichen Ersatz für Schellack zu finden. Schellack war ein ausgesprochen aufwendig herzustellendes und sehr teueres Produkt. Allein 300.000 indische Lackläuse waren notwendig, um aus ihrem Sekret ein Kilo Schellack zu erhalten, das zur Herstellung von Lackanstrichen und Schellackplatten gebraucht wurde. Zwar wäre eine preiswertere leicht herzustellende Schellack-Alternative ein durchaus wirtschaftlich lohnendes Projekt gewesen, doch es sollte ganz anders kommen:

In einer Gummifabrik fiel immer wieder eine besonders hartnäckige, teerähnliche Substanz als unlöslicher Rückstand, also Abfallprodukt an, für die Baekeland ein geeignetes Lösungsmittel finden wollte. Er analysierte die Masse und fand darin die Grundstoffe Phenol und Formaldehyd.

Nun kam und kommt es bei Experimenten in der organischen Chemie häufig vor, daß wertvolle chemische Geräte durch harte, teerige Rückstände, die sich nicht mehr entfernen lassen, unbrauchbar werden. Daher ist allen Chemikern aus eigenem Interesse (Glas- und Präzisionsgeräte sind bekanntlich sehr teuer) an wirksamen chemischen Lösungsmitteln gelegen. Viele sind bei der Suche nach einem ultimativen Zaubermittel auf die heute geläufigen Putzmittel gestoßen, mit denen man Herde, Backöfen, angebrannte Pfannen und ähnliches reinigt.

Baekeland sah darin eine lohnende Herausforderung und ließ absichtlich Phenol mit Formaldehyd reagieren, wobei ein hartes Polymerisat entstand, das den auftretenden Verschmutzungen sehr nahe kam. Bei der Suche nach einer chemischen Substanz, um die Verharzung wieder rückgängig zu machen bzw. aufzulösen, wurde er allerdings nicht fündig.

Erst da kam ihm der Gedanke, daß ein reaktionsträger, widerstandsfähiger, schnell produzierbarer und preiswerter Stoff, der derart inert gegen alle chemischen Mittel ist, vielleicht selbst einer nützlichen Verwendung zugeführt werden konnte. Also konzentrierte sich Baekeland nun darauf, die harzartigen Abfälle aus der Gummifabrik zu verbessern und noch härter zu machen. Da die Masse beim Erhitzen weich wurde, versuchte er die Substanz unter Druck in eine Form zu pressen. Dabei experimentierte er mit Druck und Temperatur, bis er eine Kombination dieser Parameter gefunden hatte, bei der man eine Flüssigkeit erhielt, die sich nach Erkalten verfestigte und die Form des Gefäßes annahm, in dem sie sich befand.

In festem Zustand war der Stoff hart, nicht wasserlöslich, resistent gegen Lösungsmittel und ein elektrischer Isolator. Dafür ließ er sich auch noch problemlos schneiden und maschinell verarbeiten. Und der Wunderstoff kostete so gut wie nichts.

Phenolharzgetränktes Papier erwies sich zudem als ideales Isoliermittel. Elektrozähler, Transformatorenteile, Hochspannungsisolatoren, Radiogehäuse und Telefonanlagen wurden schon bald aus dem dunklen Plastikmaterial gefertigt. Auch hier schaffte Baekeland die Voraussetzung für den Massenkonsum: Konsumgüter für jedermann zu erschwinglichen Preisen wie Radioapparate mit Bakelitgehäuse. Die bis dahin aus Holz geschreinerten Gehäuse waren für den Durchschnittsverdiener schon damals zu teuer.

Am 18. Februar 1907 meldete Baekeland das Patent an und 1909 präsentierte er sein "Bakelit" der Öffentlichkeit. Da es im Vergleich zu Celluloid zäher und gefahrloser zu handhaben war, konnte es dieses in vielen Bereichen schnell verdrängen. Die Rütgerswerke meldeten ihr Interesse an. Mit einer Minderheitsbeteiligung von Baekeland entstand am 25. Mai 1910 das erste Unternehmen der Welt, das diesen vollsynthetischen Kunststoff Bakelit industriell und in großen Mengen produzierte und verarbeitete. Die Produkte erfreuten sich großer Beliebtheit und machten Baekeland unermeßlich reich.

Die ersten Kunden waren Elektrounternehmen wie Philips, AEG, Siemens und Bosch. Der Siegeszug der Elektrizität wäre ohne Bakelit wohl niemals möglich gewesen.

Schon bald reichte es nicht mehr, den bei der Gummiproduktion anfallenden Phenolharzabfall zu verwenden. Bakelit wurde nun großtechnisch direkt beim Erhitzen einer Mischung von Phenol und Formaldehyd unter Druck hergestellt und ausgehärtet. Später hieß es, daß dabei die einzelnen Molekülketten miteinander vernetzen. Aber anfangs wußte man noch nichts über die Struktur oder daß sich Kunststoffe aus unzähligen kleineren Molekülen (Monomeren) zu einem Makromolekül (Polymer) aufbauen.

Das vollständig vernetzte, ausgehärtete Material wurde bei einem nochmaligen Erwärmen nicht mehr weich, weshalb Bakelit als der erste warmhärtende Kunststoff bzw. Duroplast bezeichnet wurde. Aus linearen Molekülen aufgebaute Kunststoffe wie Polyethylen, die beim Erwärmen wieder erweichen, nannte man Thermoplaste.

Natürlich gab es schon vor dem Bakelit Kunststoffe, aber keine vollsynthetischen und auch keine, die ausschließlich auf Kohlenstoffbasis hergestellt wurden. Es waren in erster Linie Abkömmlinge von Naturstoffen:

- Zellulose aus Holz
- Kunsthorn aus dem Kasein der Milch, ab 1904 unter dem Handelsnamen Galalith bekannt.
- Celluloid aus einem mit Salpetersäure speziell behandelten Papier und dem Kampfer des japanischen Kampferbaumes gewonnen


Das Rohmaterial des vollsynthetischen Kunststoffs Bakelit besteht dagegen aus Phenol und Formaldehyd. Ersteres wird aus Steinkohlenteer gewonnen. Formaldehyd erzeugt man aus Methylalkohol. Aus diesem Rohmaterial, einem bernsteinfarbenen, flüssigen Kunstharz formt man Granulate, Raspel oder spaghettiähnliche Stränge, die spontan abgekühlt werden müssen, um den wiederschmelzbaren Zustand zu konservieren. Diese Rohprodukte können dann leicht gegossen werden. Sie werden dafür in eine Presse gefüllt und unter Druck und Hitze von etwa 150 bis 180 Grad Celsius geformt. Nach wenigen Minuten ist das Pressgut fertig.

Bakelit hat auch Nachteile: So läßt es sich nur in den bekannten, dunklen Farben herstellen und, obwohl ein hervorragender Isolator, eignet es sich nicht für die Ummantelung von elektrischen Leitungen oder Kabeln, denn dafür ist es zu starr und zu spröde. Außerdem zerbrechen Gegenstände aus Bakelit leicht und ließen sich zumindest in seiner Hochzeit nicht wieder kleben, da die geeigneten Lösungsmittel und somit auch Klebstoffe dafür fehlten.

Um dem Bakelitgegenstand ein stabiles, zusammenhängendes Gerüst zu geben, müssen zudem unterschiedliche Füllstoffe beigemengt werden: In erster Linie Holzmehl, Holzfaser aber auch Papierschnitzel, Zellstoff oder Gewebebahnen. Auch Asbest und Gesteinsmehl wurden früher verwendet, wenn das spätere Produkt besonders hohe Temperaturen auszuhalten hatte.

Da das fertige Stück möglichst schnell und problemlos aus der Gießform gelöst werden sollte, verzichtete man bei der Formgebung auf scharfe Kanten und Schnörkel. Sie behinderten den Fluß des Harzes und brachen im ausgehärteten Zustand schnell ab. Klare, abgerundete Formen kamen quasi durch das neue Material in Mode, die bis heute für Kunststoffmaterialien geradezu kennzeichnend geblieben ist. In schlichter Sachlichkeit kam also auch der erste Deutsche Volksempfänger aus Bakelit 1933 auf den Markt - im Volksmund "Goebbelsschnauze". 100.000 Stück wurden am ersten Tag verkauft.

Bakelit blieb bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg der Massenkunststoff schlechthin, obwohl die sogenannten "Unzerbrechlichen" schon in den 30er Jahren entdeckt worden waren. Er ebnete damit den Weg für alle Kunststoffe. Nachdem allerdings "schöne" Kunststoffe wie Acrylglas, Plexi, PVC in den 50er Jahren den Markt eroberten, bekam Bakelit zunehmend das Image einer Billigware. Leo Hendrik Baekeland mußte den Niedergang seines Kunststoffs jedoch nicht miterleben, er starb als wohlhabender Mann 1944. Über 400 Patente tragen seinen Namen. Bis heute hat dieser alte Stoff trotz zunehmender Konkurrenz von modernen Polymeren viele nützliche Anwendungen gefunden.

Doch darf man auch nicht darüber hinwegsehen, daß seine eher zufällige Entdeckung letztlich wohl als der entscheidende Auslöser für die Entwicklung moderner Kunststoffe verstanden werden muß, damit aber auch für das Entstehen gigantischer Berge an chemisch unangreifbarem, unverrottbarem, organischen Mülls und das Problem ihrer Entsorgung, das uns noch heute in Atem hält.

20. November 2009