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FORSCHUNG/309: Das Gedächtnis des Klimas (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - I.2012
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Das Gedächtnis des Klimas

von Nicola Wettmarshausen



Im Atlantischen Ozean arbeitet eine gigantische Wärmepumpe: Tropische Wassermassen strömen gen Norden und versorgen Europa mit einem angenehm warmen Klima. Jochem Marotzke, Direktor am Hamburger Max-Plank-Institut für Meteorologie, hat diese Strömung berechnet und damit die Basis für ein verbessertes Klimamodell geschaffen.


Wenn vom Ozean die Rede ist, denken wohl die meisten Menschen ans Tauchen oder Segeln, an Strände und unendliche Weiten. Jochem Marotzke hat ein anderes Bild vor Augen: ein riesiges Strömungsband aus Wasser. Es beginnt am Äquator; von hier wälzen sich warme Wassermassen bis in den hohen Norden, dort kühlen sie ab, versinken und fließen als kaltes Tiefenwasser langsam wieder nach Süden.

Die atlantische meridionale Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation - AMOC), wie Forscher sie nennen, ist Teil eines riesigen Strömungsbandes, das alle Weltmeere durchzieht. Dabei befördert die Meeresströmung gewaltige Mengen Wärme von einem Erdteil in den anderen und beeinflusst so entscheidend das Klima.

Um diese Meeresströmungen kreist die Forschung Jochem Marotzkes. Seit Jahren arbeitet der Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg an einer Vorhersage für die AMOC, um letztlich das Klima perfekt zu modellieren.

"Wenn wir die Prozesse im Ozean nicht verstehen, wird uns die Klimamodellierung nicht gelingen", sagt er und sieht die Atmosphäre als ein "flüchtiges Etwas" an, das Zustände nicht über einen längeren Zeitraum konservieren kann. Temperatur- oder Druckwerte können sich im Medium Luft rasend schnell ändern. Weil Wasser aber eine hohe Wärmekapazität hat, kann es Wärme länger speichern. Dadurch reagiert der Ozean insgesamt viel träger auf Veränderungen als die Atmosphäre. Physiker Jochem Marotzke hält ihn deshalb für "das Gedächtnis des Klimas".


Strömungsschwankungen wirken sich aufs Klima aus

Die AMOC ist ein gigantisches Phänomen: Durchschnittlich 18 Millionen Kubikmeter Wasser wälzen sich pro Sekunde durch das 7000 Kilometer weite atlantische Becken. Doch im Lauf eines Jahres kann die Stärke der AMOC extrem schwanken: Mal transportiert sie mehr als 30 Millionen Kubikmeter Wasser, mal nur zehn Millionen. Ursache sind saisonale Winde, die sich mit einer Zeitverzögerung von mehreren Monaten auf die trägen Ozeanströmungen auswirken. Aber auch innerhalb eines Monats oder sogar eines Tages variiert der Strom erheblich. Wegen ihrer starken Schwankungen gilt die AMOC daher als schwer berechenbar.

Forscher versuchen schon lange, die Veränderungen der AMOC und damit das Klima über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren vorherzusagen. Doch alle Versuche hatten bisher wenig Erfolg. Das Team um Jochem Marotzke möchte das ändern. Denn die AMOC spielt nicht nur für Europa eine Rolle, ihre Schwankungen wirken sich - mehr als bisher gedacht - auch auf Dürren im Sahel und auf die Hurrikan-Aktivität im Nordatlantik aus.

Für wissenschaftlich fundierte Voraussagen brauchten die Forscher zunächst Messdaten. Anhand der Werte können sie prüfen, ob ihr Modell die Realität richtig simuliert.

Doch wie kann man die Strömung eines Ozeans messen, der 7000 Kilometer breit ist? Jochem Marotzke hat dafür eine Lösung: "Wir zerlegen die AMOC bei 26,5 Grad Nord einfach in drei verschiedene Komponenten."


Alte Telefonkabel messen Strömungen

Dazu betrachten die Forscher zunächst den Golfstrom, der über eine Breite von 100 Kilometern durch die Straße von Florida nach Norden verläuft. Er ist die am schnellsten fließende Strömung. Die zweite Komponente ist die durch Wind und Corioliskraft beherrschte Ekmanströmung, die in den oberen 100 Metern des Ozeans verläuft. Das Wichtigste aber ist die mittelatlantische Strömung, die in 100 bis 1000 Meter Tiefe quasi unter der Ekmanströmung liegt und sich über die gesamte Breite des atlantischen Beckens erstreckt. "Wir messen zunächst alle drei Komponenten separat, und später addieren wir dann die Werte", sagt Marotzke.

Der Breitengrad 26,5 Nord ist nicht zufällig gewählt: Bestimmte Messreihen sind hier schon vorhanden. Die Veränderungen der windgetriebenen Ekmanströmung etwa werden seit den 1990er-Jahren direkt über QuikSCAT erfasst - ein Satellit, der die Meeresoberfläche mithilfe von Mikrowellen scannt und Auskunft über Oberflächenwellen und Windstärke gibt.

Auch für den Florida-Golfstrom existieren Daten. Er wird mithilfe alter Telefonkabel gemessen, die am Grund des Meeresbeckens liegen. "Eine pfiffige Methode", findet Danie la Matei, die in Marotzkes Abteilung forscht. "Das Verfahren basiert auf der Tatsache, dass die im Wasser vorhandenen Salzionen stromabwärts fließen, sich dabei durch das Magnetfeld der Erde bewegen und so ein elektrisches Feld erzeugen. Dieses Feld induziert in den Unterseekabeln eine Spannung, die regelmäßig aufgezeichnet wird." Schon seit dem Jahr 1982 sammeln amerikanische Forscher diese Daten und stellen sie ihren Kollegen auf der ganzen Welt zur Verfügung.

So weit wäre alles relativ einfach, gäbe es nicht ein kleines Problem: Für die große mittelatlantische Strömung existieren bislang keine längeren Messreihen, sondern lediglich sporadische Einzelmessungen, die von Schiffen aus gemacht wurden. "Die Schiffe haben sechs Wochen gebraucht, um einmal über den Atlantik zu fahren", sagt Jochem Marotzke. "Während der Fahrt hat die Crew zwar mehrmals täglich gemessen, aber für den Zeitraum davor oder danach gibt es natürlich keinerlei Daten." Außerdem seien solche Forschungsausfahrten extrem teuer und würden deswegen nicht regelmäßig unternommen.


Tiefenströmungen durch Dichteunterschiede

Dem Klimamodellierer und Theoretiker Marotzke blieb damals nichts anderes übrig, als die benötigten Daten selbst zu sammeln. Dazu startete er 2003, als er am National Oceanography Centre, Southampton (NOCS) arbeitete, gemeinsam mit englischen und amerikanischen Kollegen das RAPID/MOCHA-Projekt. "Ich wollte nicht nur kontinuierlich Daten sammeln, sondern den Prototyp eines neuen Monitoringsystems entwickeln", erklärt Marotzke. "Nur so können wir die AMOC in den nächsten zehn Jahren genau unter die Lupe nehmen."

Schon 2004 stach der Forscher in See. Auf der ersten Ausfahrt verankerten er und seine Kollegen 19 Messsonden im atlantischen Becken entlang der Linie von 26,5 Grad nördlicher Breite. Bis in 5000 Meter Tiefe registrierten die Sonden Temperatur, Salzgehalt, Strömungsgeschwindigkeit und -richtung. Über die gesamte Meerestiefe hinweg zeichnen diese ein vertikales Dichteprofil auf; eine Kampagne, die vier Jahre dauerte.

"Jetzt hatten wir eine gute Datenbasis", sagt Johanna Baehr, die mit Jochem Marotzke und Daniela Matei seit 2008 an der Auswertung arbeitet. Aus den Dichtemessungen kalkulierte das Team die Stärke der AMOC: "Meerwasser hat unterschiedliche Dichtewerte. Die hängen von der Temperatur und vom Salzgehalt des Wassers ab", so Baehr. Dadurch entsteht im Ozean ein Dichte- und somit ein Druckgefälle. Weil das Wasser immer zum Punkt geringerer Dichte fließen möchte, erzeugt das Druckgefälle eine Strömung. Die Geschwindigkeit dieser Strömung konnte das Team mithilfe der Messungen über die gesamte Tiefe und Breite des Atlantiks berechnen, von den Bahamas bis zur afrikanischen Küste entlang von 26,5 Grad nördlicher Breite. Auf diese Weise erhielten die Forscher ein genaues Bild davon, wie stark die Atlantikzirkulation zwischen den Jahren 2004 und 2008 schwankte.

Als Nächstes rechneten sie die Schwankungen der AMOC für den gleichen Beobachtungszeitraum in einer Computersimulation und verglichen diese Ergebnisse mit den gemessenen Daten. So entstand ein "Hindcast" - eine retrospektive Vorhersage, mit der sich die Qualität eines Modells testen lässt.

Für die Simulation verwendeten die Forscher das gekoppelte Atmosphären-Ozean-Klima-Modell ECHAM5-MPIOM. Dieses wurde am Max-Planck-Institut für Meteorologie entwickelt und für die Klimaszenarien des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verwendet. Mit ECHAM5 simulieren die Wissenschaftler Vorgänge in der Atmosphäre, mit MPI-OM jene im Ozean. Beide Modelle werden normalerweise miteinander gekoppelt. So beeinflusst die simulierte Atmosphäre das Verhalten des Ozeanmodells - und umgekehrt.


Messdaten machen das Modell präziser

Doch Daniela Matei änderte das Programm und fütterte die Ozeansimulation laufend mit echten atmosphärischen Daten, mit Wind- und Luftdruckwerten, die die National Centers for Environmental Prediction (NCEP) über einen Zeitraum von 50 Jahren gesammelt haben. Und in der Tat: Die eingebauten Windmesswerte machen die Ozeansimulation viel realitätsnäher. Doch ist das neu programmierte Modell wirklich so gut, dass es auch in die Zukunft schauen kann?

Wochen- und monatelang arbeiteten die Prozessoren im Deutschen Klimarechenzentrum. Dann zeigte sich: Das verbesserte Ozean-Klima-Modell ist gut und hält, was es verspricht. "Die gemessenen und gerechneten Daten stimmen recht passabel überein, der Hindcast-Vergleich sieht gut aus", sagt Jochem Marotzke stolz. "Mit diesen aktuellen Klima-Modellrechnungen ist es uns erstmals gelungen, die nordatlantische Meeresströmung genau vorauszuberechnen - und zwar für kurze Zeitskalen, bis zu vier Jahre in die Zukunft." Und das ist viel schwieriger, als Prognosen bis ins Jahr 2100 zu treffen.

Denn bei langfristigen Prognosen werden die Daten gemittelt und Kurven dadurch geglättet. So lassen sich langjährige Trends wie die vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) beschriebene Schwächung der AMOC erkennen. Betrachten die Forscher hingegen einen Zeitraum von nur wenigen Jahren und zoomen in die Kurve hinein, zeigen sich große natürliche Schwankungen immer deutlicher - und diese überlagern mögliche Trends.

Aber wie lautet die Vorhersage für die AMOC? "Die Stärke der atlantischen Umwälzbewegung bleibt, allen Zweiflern zum Trotz, stabil", sagt Marotzke. "Wir können jetzt auch mit Zuversicht sagen, dass es sich bei der Abschwächung der Atlantikzirkulation im März 2010 nur um ein kurzzeitiges Phänomen handelte."

Darin sahen manche bereits Anzeichen einer dauerhaften Abschwächung, die immer wieder als mögliche Folge des Klimawandels diskutiert wird. Ein Szenario wie in Roland Emmerichs Film The Day After Tomorrow, bei dem die AMOC ganz versiegt und die Nordhalbkugel unter einer dicken Eisschicht erfriert, wird es nicht geben, da ist sich der Ozeanforscher sicher - "auf jeden Fall nicht vor 2014".


KASTEN

KLIMAMODELLE IM STRESSTEST

Welches Klimamodell das bessere ist, lässt sich nur durch den Vergleich herausfinden. Darum hat die internationale Klimaforschungsgemeinde ein Vergleichs projekt für koordinierte Experimente gestartet. Das Coupled Modelling Intercomparison Project 5 (CMIP5) soll das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) unterstützen. Damit wollen die Fachleute aktuelle Fragen zu den Mechanismen und den Charakteristiken der Klimaänderung erforschen: sie erstellen Klimaprojektionen für den Zeitraum bis 2300, untersuchen die Rolle des Kohlenstoffkreislaufs für Klimaänderungen oder entwickeln dekadische Vorhersagen. Zu diesen Themen arbeiten weltweit etwa 20 Forschergruppen - auch Wissenschaftler aus dem Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie - an standardisierten Experimenten.


KASTEN

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

• Die atlantische meridionale Umwälzbewegung (AMOC) befördert gewaltige Mengen Wärme von einem Erdteil in den anderen und beeinflusst so entscheidend das Klima in Europa.
• Das Verständnis der AMOC ist essenziell für eine zuverlässige Klimamodellierung.
• Max-Planck-Forscher haben die nordatlantische Meeresströmung genau vorausberechnet. Ergebnis: Sie bleibt mindestens bis zum Jahr 2014 stabil.


GLOSSAR

Corioliskraft: In der physikalischen Ozeanografie spielt die Corioliskraft eine wichtige Rolle: Durch die Erdrotation befinden sich die Wassermassen in einem rotierenden Bezugssystem. Dadurch werden sie auf der Nordhalbkugel nach rechts, auf der Südhalbkugel nach links abgelenkt. Durch den Einfluss der Corioliskraft entstehen auch in der Atmosphäre Hoch- und Tiefdruckgebiete.

Deutsches Klimarechenzentrum (DKRZ): Das DKRZ ist praktisch das Labor aller deutschen Klimaforscher, die ihre Ergebnisse auf der Basis der Modellierung des Klimas erzielen. Dabei hängt die Genauigkeit eines Klimamodells von der Leistungsfähigkeit des Supercomputers ab, ist aber auch durch sie limitiert. Das liegt an der Komplexität und Dynamik des Klimas sowie an der enormen Datenmenge, die berechnet und ausgewertet werden muss. Das DKRZ ist eines der weltweit wichtigsten Rechenzentren für Klimasimulationen. Sein Datenarchiv hat ein momentanes Volumen von 20 Petabyte, das sich bei jeder neuen Rechnergeneration vervielfacht.

RAPID/MOCHA-Projekt: Nach seiner ersten Phase von 2004 bis 2008 wird die AMOC bis zum Jahr 2014 im Rahmen des RAPID-WATCH-Projekts beobachtet. Die kontinuierliche Messung von Daten über einen Zeitraum von zehn Jahren ist wichtig für eine permanente Angleichung und Verbesserung des MPI-Ozeanmodells.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Die Momentaufnahme zeigt das Strömungsfeld des Ozeans in 75 Meter Tiefe, wie es von dem globalen Ozeanmodell MPI-OM TP6M simuliert wird. Durch die sehr hohe Auflösung mit einem Gitterpunktabstand von zehn Kilometern lassen sich die Verwirbelungen des Golfstroms als wichtiger Teil der atlantischen Umwälzbewegung gut erkennen. Die Simulation wurde im Rahmen des STORM-Projekts berechnet.

Entlang der Linie von 26,5 Grad nördlicher Breite werden Messsonden über den Atlantik platziert (RAPID/MOCHA-Projekt). Einige der Sonden messen das gesamte vertikale Profil bis in 6000 Meter Tiefe, andere nur die tieferen Strömungsschichten.

Ein Messgerät wird ins Meer hinabgelassen und schickt Leitfähigkeits-, Temperatur- und Druckdaten über das Kabel nach oben. Die grauen Flaschen sammeln Wasserproben, mit denen der Salzgehalt bestimmt wird.

Auch das kommt vor: Diese Sonde muss geborgen werden, weil sie durch den enormen Druck in der Tiefsee implodiert ist. Normalerweise wird die Sonde von den gelben Auftriebskörpern gehalten und an einem Seil auf und ab bewegt, um ein kontinuierliches Profil aufzunehmen.

Wissenschaftler an Bord des Forschungsschiffes legen eine eineinhalb Tonnen schwere Verankerung am Meeresboden aus. Der gelbe Auftriebskörper hält das Seil mit den Messsonden senkrecht.

Die rote Kurve zeigt das gemessene Strömungsvolumen der atlantischen meridionalen U wälzbewegung (AMOC). Die Vorhersage (blau mit Fehlerintervall) zeigt, dass AMOC bis ins Jahr 2014 stabil bleiben wird (hellblau: Ensemble aus mehreren Rechnungen, dunkelblau: Mittelwert).

Durch die Erderwärmung wird sich die AMOC langfristig abschwächen. Die orangeroten Graphen geben die Entwicklung für einen mittelstarken menschlichen Einfluss auf das Klima wieder, die blauen Kurven beschreiben einen starken Einfluss. Die schwarze Linie sagt voraus, wie sich die AMOC ohne menschliche Eingriffe ins Klima entwickeln würde.

Die nähere Zukunft im Blick: Johanna Baehr, Jochem Marotzke und Daniela Matei interessieren sich dafür, wie sich das Klima in den nächsten zehn Jahren verändern wird.

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, I.2012, S. 73-77
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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Internet: www.mpg.de/mpforschung


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2012