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LAIRE/061: Kaffeesatzlesen in der Hirnforschung (SB)


Hirnforscher reproduzieren ihre Weltsicht ...

und wollen einen Zusammenhang zwischen riskanten Finanztransaktionen und Sex festgestellt haben


Diese Anmerkungen hätten auch mit folgendem Satz beginnen können: Hirnforscher haben einen Zusammenhang zwischen der Art, wie jemand mit dem Fahrrad um die Ecke biegt, und seiner Liebe zu kaltem Pfefferminztee entdeckt.

In dem Fall, auf den hier Bezug genommen werden soll, hat sich jedoch kein Verkehrsexperte mit einem Teeverkäufer zusammengetan, sondern eine Finanzprofessorin mit einem Psychologen, und sie fanden natürlich etwas anderes heraus, das ihrem jeweiligen Berufszweig näherlag: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Neigung, riskante Finanztransaktionen zu tätigen, und Sex.

In beiden Fällen werde die gleiche Hirnregion angeregt, berichtete AP (5. April 2008) unter Berufung auf eine Kleinstudie, die in der jüngsten Ausgabe des Journals "NeuroReport" erschienen ist. An der Untersuchung, die unter anderem von Prof. Camelia Kuhnen von der Northwestern University und Brian Knutson, Psychologe an der Universität Stanford, durchgeführt wurde, waren 15 heterosexuelle junge Männer der Stanford Universität beteiligt. Ihnen wurden verschiedene Bilder gezeigt, zum einen mit erotischen, zum anderen mit beängstigenden oder harmlosen Motiven. Dabei wurde die jeweilige Reaktion in der Hirnaktivität mittels eines Magnetresonanztomographen aufgezeichnet. Während die Probanden die Bilder betrachteten, sollten sie Wetteinsätze in einem Spiel, das nach dem Zufallsprinzip Gewinne auswarf, festlegen. Jeder Proband hat mehr als 50 Spiele absolviert.

Das Ergebnis: Wenn die Versuchspersonen erotische Bilder betrachteten, zeigten sie eine Bereitschaft zu höheren Wetten als beim Betrachten anderer Bilder. Abgelesen wurde dies an der Aktivität des V-förmigen Nucleus accumbens, der nahe der Hirnbasis sitzt und laut der Topographie der Neurowissenschaftler eine zentrale Rolle bei der Erfahrung von Vergnügen spielen soll. Wenn dieser Bereich durch die erotischen Bilder angeregt wurde, waren die Männer wesentlich bereitwilliger, höhere Wetteinsätze zu riskieren.

Dieses Experiment ist von vornherein zielführend angelegt. Das bedeutet, daß die Forscher von vornherein wußten, was sie herausfinden wollten, und haben ihre Ansicht - man könnte auch von einem Weltbild sprechen - durch den Versuchsaufbau bestätigt. Die von den Hirnforschern mit "Vergnügen" assoziierte Hirnregion würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch beim Anblick einer Flasche kalten Pfefferminztees aktiviert, sofern 15 ausgewählte Probanden damit Abkühlung und Erleichterung verknüpfen - beispielsweise in Verbindung mit einem Radrennen und dem berauschenden Gefühl, eine Kurve besonders schnittig genommen zu haben.

Nun wäre vermutlich keine Universität der Welt auf Dauer bereit, Forscher dafür zu bezahlen, daß sie einen Zusammenhang zwischen der Art, wie jemand mit dem Fahrrad um die Ecke biegt, und seiner Liebe zu kaltem Pfefferminztee nachweisen. Wohingegen "Sex bei Börsenpekulanten" mehr als einmal selbst in Hollywood-Filmen thematisiert wurde und in der Psychologie Konsens darüber herrscht, daß sich die Erotik der Bilder auf die Wunschvorstellung oder Erwartung stützt, etwas in Besitz nehmen zu können. Ähnlich perspektivisch ist auch die Erwartung bei Wetteinsätzen angelegt, wie sie an der Börse getätigt werden ... oder beim Anblick erfrischenden Pfefferminztees. Die Verknüpfungsmöglichkeiten sind Legion und können nach Belieben auf das gewünschte Ergebnis zusammengestellt werden.

Inzwischen wurde innerhalb der Hirnforschung die neue Fachrichtung Neuroeconomics (Neuroökonomie) etabliert. Sie befaßt sich unter anderem mit der Frage, warum Menschen unter welchen Umständen finanzielle Entscheidungen treffen. Im obigen Beispiel hatten die Forscher zwei Faktoren "Wetten" und "Erotik" korreliert und dadurch einen inneren Zusammenhang unterstellt - es wäre jedoch ein fundamentaler Irrtum, aus der statistischen Häufung des "Aufleuchtens" des Nucleus accumbens Kausalitäten ableiten zu wollen. Das Differenzierungsvermögen dieses Organs hinsichtlich der zahllosen Faktoren, die den Menschen Vergnügen bereiten können, ist gering. Vereinfacht gesagt: Egal welche Freude, das Resultat ist immer das gleiche, die Hirnregion leuchtet auf. Sieht man von gewissen Intensitätsunterschieden ab, beinahe wie ein Signallicht, das per Knopfdruck ausgelöst wird.

Selbstverständlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Wetten und Sex - der Mensch ist das verbindende Element. Und was sagt uns das jetzt? Die aktuelle Untersuchung trägt weder zur Aufklärung über die Intentionen beim Anblick erotischer Bilder bei noch beleuchtet sie in irgendeiner Weise die systemischen Voraussetzungen, durch die einzelne Personen oder Personengruppen in die Lage versetzt werden, mittels Finanztransaktionen sich selbst oder auch ganze Volkswirtschaften in den Ruin und viele Millionen Menschen in Armut und Not zu treiben - geschweige denn, daß dieses System kritisch hinterfragt und eine Gegenposition eingenommen würde.

Darüber hinaus ignoriert die Studie schon im Ansatz jegliche Bemühung einer Emanzipation von des - in diesem Fall - männlichen Getriebenseins und setzt es statt dessen als vermeintlich naturgegeben voraus. Vorherrschende Bedingungen werden unkritisch kolportiert. Es handelt sich somit um eine entwickelte Form von herrschaftskonformer Forschung, angefangen von der Wahl des Instrumentariums - Magnetresonanztomographen sind teuer und erfordern eine Infrastruktur, zu der die lückenlose Stromversorgung ebenso gehört wie das Fachpersonal, das das Gerät zu bedienen versteht - über die Methodik bis zu den Schlußfolgerungen, die von den Forschern gezogen werden.

7. April 2008