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ASTRO/115: Das Pierre-Auger-Observatorium - Den höchsten Energien auf der Spur (lookit - KIT)


lookit - Ausgabe 1/2009
Das Magazin für Forschung, Lehre und Innovation
KIT - Karlsruher Institut für Technologie

Den höchsten Energien auf der Spur
Das Pierre-Auger-Observatorium: In der argentinischen Pampa sind KIT-Forscher in einem internationalen Team der kosmischen Strahlung auf der Spur.

Von Mahnas Rassapur


Richtung Süden fahren wir: Über 400 Kilometer von Mendoza nach Malargüe. Die Routa Nationale 40 ist die längste Nationalstraße Argentiniens und eine der berühmtesten Fernstraßen auf dem südamerikanischen Kontinent. Sie durchquert den gesamten Westen des Landes von Nord nach Süd. Quer durch die Pampa geht die Reise, entlang an den Ausläufern der Anden, eine weite, endlose Strecke erwartet uns.


Von Zeit zu Zeit stehen einsame Ölpumpen in der Wildnis. Eine kahle Landschaft mit nur wenigen Orten. Weideland, Pampagras und ab und an wilde Gewächse ziehen an uns vorbei. Widerstandsfähig muss jede Pflanze sein, wenn sie hier überleben will. Fährt man über das wilde Gestrüpp, so erklärt unser Fahrer, lässt das die Reifen platzen, da ist Vorsicht angesagt, will man keine unfreiwillige Pause im Nirgendwo einlegen. Sechs Stunden dauert die Tour im Kleinbus. Eine unendliche Weite, durch die wir fahren, eine schnurgerade Piste, rechts und links nur Steppe. Kein Mensch, kein Auto ist über weite Strecken zu sehen.

14 Stunden Flug und rund 12.000 Kilometer von Frankfurt bis Buenos Aires liegen bereits hinter uns, gefolgt von zwei Flugstunden, um weitere mehr als 1000 Kilometer nach Mendoza, eine Provinzmetropole am Fuß der Anden, zurückzulegen. Eine kleine Weltreise, um teilzuhaben an einem der interessantesten Forschungsprojekte der Astronomie heute. In der argentinischen Pampa Amarilla liegt das Pierre-Auger Observatorium, das größte Messfeld der Welt zur Untersuchung der kosmischen Strahlung. Am 17. März 1999 wurde der Grundstein gelegt - inzwischen wollen mehr als 400 Wissenschaftler aus 18 Ländern einem Geheimnis auf die Spur kommen - unter ihnen Forscher vom Zentrum für Elementarteilchen- und Astroteilchenphysik (KCETA) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie suchen nach den Ursprüngen der hochenergetischen Strahlung, deren Energie bis zu 100 Millionen Mal höher ist als die erzielte Strahlenergie des modernsten Teilchenbeschleunigers LHC am CERN in Genf. Mit 1600 Wassertank-Detektoren, präzise in einem Dreiecksgitter mit einer Kantenlänge von 1,5 Kilometern angeordnet, wollen sie die rätselhaften und extrem seltenen Teilchen registrieren und ihre Zusammensetzung, Herkunft und Energien untersuchen.

Zusätzlich helfen 24 Fluoreszenz-Teleskope in klaren, dunklen Nächten, die hochenergetischen Teilchen über ihre UV-Emissionen in der Luft zu beobachten. Die Messinstrumente sind auf einer Fläche von mehr als 3000 Quadratkilomtern installiert. Eine riesige Anlage, einem Halmabrett gleich und das größer als Luxemburg. Mit dem bloßen Auge lässt sich die Dimension kaum überblicken. Vereinzelt kann man in der Ferne einen der mit 12.000 Litern hochreinem Wasser gefüllten Tanks am Fuß der Anden entdecken. Das Observatorium soll ein Fenster zum Kosmos aufstoßen und neue Einblicke ermöglichen. Denn über die Quellen der bereits vor fast 100 Jahren entdeckten kosmischen Strahlung rätseln die Wissenschaftler bis heute.


Die Entdeckung der kosmischen Strahlung

Am Morgen des 7. August 1912 bestieg der österreichische Physiker Victor Hess die Gondel seines Forschungsballons. Es war bereits sein siebter Versuch, ein bis dahin weitgehend unverstandenes Phänomen zu ergründen: die Aufspaltung der Luft in positiv und negativ geladene Teilchen, die sogenannte Luftionisation. Einige Forscher dieser Zeit sahen als Ursache die erst wenige Jahre zuvor entdeckte natürliche Radioaktivität und vermuteten, dass mit zunehmender Höhe die Luftionisation und auch die Konzentration radioaktiver Stoffe abnehmen müssen. Andere Physiker vermuteten, dass aus dem Kosmos kommende Strahlung die Ursache für die Luftionisation sei. Hess schloss daraus, dass die elektrische Leitfähigkeit in große Höhe ansteigen müsse. Beweise gab es keine.

Seine ersten Ballonexperimente brachten Hess in eine Höhe von etwa 2000 bis 3000 Metern. Er fand erste Anzeichen für einen Anstieg der elektrischen Leitfähigkeit der Luft mit zunehmender Höhe. Bei seinem siebten und entscheidenden Aufstieg in eine Höhe von 5000 Metern erbrachte er den Beweis. Er maß einen so hohen Wert, der sich nur mit einer Strahlungsquelle außerhalb der Erdatmosphäre erklären ließ. Für seine Entdeckung erhielt Hess 1936 den Nobelpreis für Physik. Den heute üblichen Begriff kosmische Strahlung schlug 1924 der amerikanische Physiker Robert Millikan vor.


Die Natur der kosmischen Strahlung

Bereits 1938 gelang dem französischen Physiker Pierre Auger ein weiterer entscheidender Schritt bei der Erforschung der kosmischen Strahlung. Auf dem Jungfraujoch im Berner Oberland stellte er in einer Höhe von 3500 Metern mehrere Messgeräte in Abständen von bis zu 300 Metern auf. Mit diesen Detektoren wies er in den Alpen erstmalig gleichzeitige Signale nach. Er vermutete einen gemeinsamen Ursprung dieser Signale. Auger schloss, dass die kosmischen Teilchen in großer Höhe mit den Atomkernen der Luft kollidieren und (nach Einsteins Formel E=mc2) Milliarden von neuen Teilchen erzeugen. Diese Sekundärteilchen treffen dann wie ein kurzzeitiger Schauer mit Lichtgeschwindigkeit auf den Erdboden und können so eine große Fläche überdecken und viele Detektoren gleichzeitig ansprechen lassen. Mit diesem Nachweis der ausgedehnten Luftschauer und seiner ungewöhnlichen Messmethode ebnete der dem größten Observatorium der Welt zur Untersuchung der kosmischen Strahlung den Weg: dem Pierre Auger-Observatorium.

Heute wissen es die Forscher genauer: Wenn ein hochenergetisches Teilchen in die Atmosphäre eindringt, so stößt es in zehn bis 30 Kilometern Höhe mit einem Atomkern zusammen. Die beiden Teilchen zerplatzen, neue Teilchen werden frei, die weiter in Richtung Erdboden rasen. Diese treffen erneut auf Atomkerne und lösen weitere Teilchen aus. In der Folge prasseln Sekundärteilchen - Elektronen, Positronen, Pionen, Myonen, Gammateilchen und Neutrinos - in einer trichterförmigen Kaskade zu Boden, wobei die Gesamtzahl der Teilchen proportional zur Primärenergie ist. Erst wenn die Energie der Sekundärteilchen in dieser Kaskade soweit abgesunken ist, dass keine weiteren neuen Teilchen erzeugt werden können, kommt der Prozess zum Erliegen. Auf der Erde kommt ein so genannter Luftschauer an. Das bedeutet, dass die Primärteilchen selbst gar nicht auf der Erde ankommen. Wie lassen sie sich dann studieren? Ein weiteres Problem: Die meisten Teilchen werden bereits vor dem Eintritt in unsere Atmosphäre durch das Magnetfeld abgelenkt, das unser Milchstraßensystem und auch den intergalaktischen Raum durchdringt. Die Teilchen bewegen sich nicht auf geraden Bahnen zu uns, wie kann man also auf ihre Quellen schließen?


Im Reich der 1600 Wassertanks

Unsere Abenteuerreise durch die argentinische Pampa geht am nächsten Tag morgens um 8.30 Uhr morgens weiter. Das lang ersehnte Ziel ist nah: das sich über 3000 Quadratmeter erstreckende Gelände des Pierre Auger Observatoriums.

In einem Konvoi von rund 15 Kleinbussen durchqueren über 150 neugierige Wissenschaftler, Politiker und Journalisten aus aller Welt die Pampa Amarilla. Immer wieder eingehüllt in den Staubwolken der vorausfahrenden Fahrzeuge rumpeln wir viele Stunden durch die baumlose Steppe. Rund 200 Kilometer Fahrtstrecke umfasst die geplante Route. In knapp 1500 Metern Höhe über dem Meer befindet sich die Anlage. Eine einsame Hochebene, fern von Städten und anderen Störquellen für die Messungen. Kein Streulicht, keine Funksignale, keine Discolaser sind hier zu befürchten. Auf den ersten Blick sieht das Gebiet so gar nicht wie das größte physikalische Messinstrument der Welt aus.

Trockenes Grasland, so weit das Auge reicht. Nur Schotterpisten führen durch das riesige Forschungsgebiet. Am Rand der Piste ragen vereinzelt etwa schulterhohe und drei Meter breite gelbliche Kunststoffbehälter in Form flacher Zylinder aus der Ebene. Die Wassertank-Detektoren fügen sich fast unbemerkt in die ockerbraune Landschaft ein. 1600 lichtdichte Tscherenkow-Tanks sind nötig, denn die kosmischen Teilchen sind extrem selten. Nur einmal in 100 Jahren schlägt eines auf einem Quadratkilometer Erde ein. "Schießt die kosmische Strahlung durch das Wasser in einem der Tanks, leuchtet es schwach auf. Lichtsensoren registrieren das bläuliche Leuchten, das so genannte Tscherenkow-Licht, das die Teilchen beim Durchqueren des Wassers aussenden und schicken die Signale zu einem Computer. Der errechnet dann, aus welcher Himmelsrichtung das Teilchen kam und wie energiereich es war", erklärt Hartmut Gemmeke vom KCETA. Jeder Tank arbeitet autonom: besitzt eine eigene Solarstromversorgung, der GPS-Empfänger ermöglicht, den Zeitpunkt des Auftreffens der Teilchen auf dem Detektor exakt zu bestimmen und per Datenfunk zur Zentralstation zu senden. Die 400 am Auger-Observatorium beteiligten Physiker und Ingeniere analysieren kontinuierlich die Daten, die das Detektorsystem schon seit fünf Jahren, also bereits während der Aufbauphase, liefert.

In vier Gebäuden an den Rändern des Detektorfelds liefern je sechs Fluoreszenz-Teleskope weitere Daten. In den Teleskop-Containern ist alles schwarz abgedunkelt. Kein Streulicht darf hier eindringen. Im Brennpunkt eines wandgroßen Hohlspiegels registriert eine Digitalkamera mit 440 wabenförmigen Photomultipliern die Fluoreszenzstrahlung im UV-Licht. Denn der Teilchenschauer bringt die Luft zum Leuchten, wenn er mit den Luftmolekülen kollidiert. Das Licht leuchtet allerdings so schwach wie eine 40 Watt-Birne, die in 30 Kilometern Entfernung mit Lichtgeschwindigkeit durch die Atmosphäre fliegt.

Doch der Kamera entgeht in klaren, mondlosen Nächten nichts. Jede Sekunde nimmt sie zehn Millionen Bilder auf. Sie registriert das ferne Leuchten und je heller die Spur, desto mehr Energie hatte das Teilchen, das sie ausgelöst hat. Beide Messmethoden zusammen, Fluoreszenz-Teleskope und Tscherenkow-Tanks, ermöglichen weltweit einmalige Erkenntnisse. Die Koinzidenzbeobachtungen erlauben zusammen mit dem Neigungswinkel des Luftschauers Rückschlüsse auf die Energie der Primärteilchen und versetzen die Wissenschaftler in die Lage, die Himmelsrichtungen zu bestimmen, aus denen die hochenergetischen Teilchen kommen.


Schwarze Löcher als Beschleuniger

Im Pierre Auger-Observatorium werden die energiereichsten Teilchen untersucht, die im Universum zu finden sind. Aber woher stammen sie? Und welcher Mechanismus verschafft ihnen Energien von 1020 Elektronenvolt?

Ergebnisse von 27 hochenergetischen Teilchen konnten die Physiker im Observatorium bisher analysieren und veröffentlichen, also etwa eines pro Monat. 24 davon stammen aus Himmelsregionen, in denen auch ein aktiver Galaxienkern zu finden ist. Die durch das Auger-Observatorium gemessene Himmelskarte lässt also vermuten, dass die Strahlung nicht gleichmäßig aus allen Richtungen kommt. "Die Quelle der kosmischen Strahlung sind mit hoher Wahrscheinlichkeit aktive Galaxienkerne", vermutet Professor Johannes Blümer vom KCETA.

Möglicherweise sind schwarze Löcher in den Galaxienkernen die gesuchten Beschleuniger. Man könnte sich vorstellen, dass riesige Materiemengen in das zentrale Schwarze Loch stürzen, wobei ein Teil der frei werdenden Energie in einen Strahl von Gas, Teilchen und Strahlung umgesetzt wird, der sich teilweise über Millionen von Lichtjahren entlang der Rotationsachse der Galaxie ausbreitet. "Wir haben einen großen Schritt gemacht, um das Rätsel der energiereichsten kosmischen Strahlung zu lösen", sagt Nobelpreisträger James Cronin aus Chicago, der das Auger-Projekt mit dem Engländer Alan Watson Anfang der neunziger Jahre maßgeblich konzipierte. Und vielleicht wird in den nächsten Jahren das Pierre Auger Observatorium genügend Daten liefern, um den Ursprung der kosmischen Strahlung bei höchsten Energien zu finden.

Allerdings - bislang können die Forscher aus 18 Ländern nur mit einem Auge sehen - auf die südliche Hemisphäre. Um den ganzen Himmel zu beobachten, soll es nun ein zweites Observatorium auf der Nordhalbkugel geben. Das 20.000 Quadratkilometer große Observatorium soll in Colorado entstehen und in den kommenden Jahren das Rätsel der Beschleuniger kosmischer Strahlung endgültig lösen.


Ein Blick ins Universum

Der letzte Abend im 18000 Seelen Städtchen Malargüe, ein letzter Blick in den faszinierenden argentinischen Sternenhimmel. Schon seit Jahrtausenden blicken die Menschen ins Universum. Meistens suchen sie nach größeren Zusammenhängen. Wo kommen wir her und wo gehen wir hin? Davon zeugen astronomische Monumente, wie das 4000 Jahre alte Stonehenge. Die Astronomie feiert in diesem Jahr gleich mehrere Jubiläen: Vor 400 Jahren setzte Galileo Galilei erstmals ein Linsenfernrohr für astronomische Beobachtungen ein. 1609 veröffentlichte Johannes Kepler seine "Astronomia nova" mit Bahn brechenden Erkenntnissen über das Sonnensystem und vor 40 Jahren betraten Menschen erstmals den Mond. Die Astronomie, eine der ältesten Wissenschaften, blickt auf einen langen Zeitraum der Erforschung des Universums zurück. Die Faszination des Weltalls ist bis heute erhalten geblieben. Welche Bedeutung hat die kosmische Strahlung für die Entwicklung des Weltalls? In ihr steckt ebensoviel Energie wie im gesamten Sternenlicht oder in allen kosmischen Magnetfeldern des Universums zusammen. "Wenn ich weiter sah, so weil ich auf den Schultern von Giganten stand", zitiert Johannes Blümer vom KCETA aus einem Brief Isaac Newtons an Robert Hooke und drückt damit seine Bewunderung für die Leistungen der Vorgänger der Auger-Projekts aus. Riesen wie Victor Hess, Pierre Auger und Albert Einstein konnten bereits viele Rätsel lösen. Vielleicht wird das Geheimnis um die Beschleuniger der kosmischen Strahlung nicht mehr allzu lange eines bleiben.


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Quelle:
lookit - Ausgabe 1/2009, S. 20-25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2010