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ASTRO/177: Das Rätsel der Antimaterie (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 10/11 - Oktober 2011
Zeitschrift für Astronomie

Das Rätsel der Antimaterie
Unsere Welt verdankt ihre Existenz einem Symmetriebruch der Naturgesetze

Von Peter Fierlinger


Der Überschuss der Materie im Vergleich zur Antimaterie im Kosmos - und damit eine Grundvoraussetzung für unsere Existenz - stellt ein zentrales Problem der Physik und der Kosmologie dar. Zahlreiche Wissenschaftler in aller Welt suchen nach der Ursache dieser fundamentalen Asymmetrie.


In Kürze
• Es ist eine begründete Annahme, dass im Urknall Materie und Antimaterie in gleichen Mengen entstanden sind. Dennoch besteht unser Universum - soweit wir das erkennen können - fast nur aus Materie.
• Alle bisherigen Versuche, diesen Symmetriebruch zu erklären, sind entweder gescheitert oder lassen sich wegen der hohen Energien der dazu erforderlichen Experimente nur schwer überprüfen.
• Mit Präzisionsmessungen bei niedrigsten Energien ist es aber möglich, Szenarien des frühen Universums zu untersuchen, die sich mit den Mitteln der Hochenergiephysik nicht überprüfen lassen. Die Forschung mit ultrakalten Neutronen liefert dafür ein aktuelles Beispiel.


Die Idee der Antimaterie geht auf den britischen Physiker Paul Dirac (1902-1984) zurück. Als er 1928 versuchte, die Bewegung relativistischer Elektronen zu berechnen, trat in seiner Gleichung eine Quadratwurzel auf - sie führte scheinbar auf Lösungen mit negativer Energie. Diese zunächst verwunderliche Tatsache interpretierte Dirac als reale Physik und sagte damit die Existenz von Antiteilchen zu den Elektronen voraus - Teilchen mit gleicher Masse, aber mit entgegengesetzter, positiver Ladung.

Bereits 1932 konnte Carl D. Anderson am California Institute of Technology in Pasadena, USA, diese »Positronen« in einer Nebelkammer nachweisen. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte gelangen mit der Entdeckung des Antiprotons und des Antineutrons weitere spektakuläre Nachweise für die Existenz der Antimaterie. Heute kennt man Antiteilchen zu allen bekannten Teilchen, und 1995 gelang es dem deutschen Physiker Walter Oelert und seiner Arbeitsgruppe am CERN sogar, neutrale AntiwasserstoffAtome herzustellen. Auch in unserem Alltag spielt Antimaterie eine Rolle, etwa in der Medizin bei dem bildgebenden Verfahren der Positronen-Emissions-Tomografie (PET).


Antimaterie in unserer kosmischen Umgebung

Obwohl Antimaterie für einige Physiker schon fast ein Alltagsphänomen ist, findet sich im Kosmos doch erstaunlich wenig davon. Vom Erdboden aus ist ein direkter Nachweis von Antiteilchen kosmischen Ursprungs nicht möglich, weil sie die Atmosphäre nicht durchdringen können - beim Auftreffen auf ihre Antipartner zerstrahlen sie sofort. Wenn aber hochenergetische Teilchen aus dem Weltall auf die obersten Schichten der Atmosphäre treffen, erzeugen sie dort eine Reihe neuer hochenergetischer Teilchen, die am Boden in unmittelbarer Nachbarschaft der Messapparatur nachweisbare Teilchenschauer auslösen können. In deren Zerfallsprodukten sind zahlreiche Antiteilchen vorhanden, jedoch lässt sich daraus kein Bezug zu den primären Teilchen aus dem Kosmos mehr herstellen. Carl D. Anderson nutzte genau diese Höhenstrahlung für seinen ersten Nachweis des Positrons.

Ein direkter Hinweis auf größere Mengen Antimaterie im Universum wäre die Entdeckung von Antikernen schwererer Elemente als Wasserstoff außerhalb der Atmosphäre. Denn während bei Kollisionen im interstellaren Medium, das hauptsächlich aus Wasserstoff besteht, Antiprotonen durchaus entstehen können, ist die Wahrscheinlichkeit der Erzeugung schwererer Antikerne durch die gleichzeitige Kollision von drei oder mehreren Teilchen praktisch gleich null. Demnach müsste zum Beispiel ein Antikohlenstoffkern in einem Stern aus Antimaterie erzeugt worden sein - ein solcher Fund hätte enormen Einfluss auf unser physikalisches Weltbild. Eine Suche nach Antikernen wird mit den an Bord des Spaceshuttles und neuerdings der Internationalen Raumstation betriebenen Alpha-Magnet-Spektrometern AMS-01 und AMS-02 durchgeführt (siehe Bild). Es haben sich allerdings noch keinerlei Hinweise auf Kerne des Antiheliums oder schwererer Antiatome ergeben.

Eine andere natürliche Quelle von Antimaterie sind Sonneneruptionen, bei denen Antiteilchen, die bei Fusionsreaktionen im Inneren der Sonne entstanden sind, beschleunigt und ausgeworfen werden. Wenn solche Antiteilchen im Sonnenplasma auf ihre entsprechenden Teilchen treffen, zerstrahlen sie beide - solche Prozesse lassen sich etwa mit dem Röntgen- und Gammaspektrometer des NASA-Satelliten RHESSI nachweisen. Wenn speziell Elektronen und Positronen aufeinandertreffen, verwandeln sie sich in je zwei Photonen mit der charakteristischen Energie von 511 Kiloelektronvolt, dem einsteinschen Äquivalent der Ruhemasse eines Elektrons oder Positrons. Bei den Sonneneruptionen wird Antimaterie in Mengen der Größenordnung Kilogramm aus dem Sonneninneren ausgeworfen - für Teilchenphysiker unglaublich viel, kosmologisch gesehen jedoch vernachlässigbar wenig.


Materie im frühen Universum

Wir nehmen heute an, dass sich unser Universum mitsamt Raum und Zeit und aller Materie beziehungsweise Energie vor knapp 14 Milliarden Jahren in einem heißen Urknall gebildet hat. Nach dem Urknall kühlte das Universum durch die Ausdehnung des Raums schnell ab. Im extrem heißen Universum, eine Mikrosekunde nach dem Urknall und bei Temperaturen von mehr als 1013 Kelvin, existierten verschiedenste Teilchen und ihre Antiteilchen im Gleichgewicht mit Photonen. Entsprechend der einsteinschen Beziehung zwischen Energie und Masse, E = mc² wurden sie paarweise erzeugt und vernichtet.

Die Prozesse zur Erzeugung und Vernichtung von Materie und Antimaterie verliefen symmetrisch - sie fanden stets paarweise statt. Sie endeten schließlich, als auf Grund der Ausdehnung des Universums die Dichte der Teilchen so stark abfiel, dass Stöße selten wurden und sich einige wenige Teilchen und ihre Antiteilchen nicht mehr gegenseitig auslöschten.

Und genau hier liegt das Problem: Wären die fundamentalen Naturkräfte streng symmetrisch, so hätte nur eine winzige Menge sowohl von Materie als auch von Antimaterie die dichte Phase nach dem Urknall überlebt. Gemäß dieser Vorstellung wäre zu erwarten, dass pro 1018 Photonen (eine Milliarde Milliarden) nur jeweils ein Materie- und ein Antimaterie-Teilchen übrig sein sollte.

Hätten sich Materie und Antimaterie in räumlich getrennte Bereiche des Kosmos aufgeteilt, so würde an deren Grenzflächen interstellares Gas zerstrahlen und Teilchen (π-Mesonen) erzeugen, die umgehend in nachweisbare hochenergetische Photonen zerfallen. Die Tatsache, dass solche Zerfälle bisher nicht beobachtet wurden, schränkt diese einfache Möglichkeit stark ein. Einen eindeutigen Nachweis, dass unser Mond und unsere Nachbarplaneten nicht aus Antimaterie bestehen, lieferten die Landungen von Apollo 11 am 21. Juli 1969 auf dem Mond und der russischen Sonde Mars 2 am 19. Mai 1971 auf dem Roten Planeten.


Anzahl und Dichte der Baryonen

Wenn man von der Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie spricht, bezieht man sich meist auf die sichtbare Materie. Aus ihr bestehen im Wesentlichen die Sterne und das interstellare Gas, sie macht etwa 4,5 Prozent des gesamten kosmischen Energieäquivalents aus - also der Summe aller Masse und Energie in jeglicher Form. Die Grundbausteine dieser »normalen« Materie, die Protonen und Neutronen, werden als Baryonen bezeichnet (aus dem griechischen Wort barys für schwer). Die Zahl der Baryonen ändert sich seit ihrer Entstehung im ganz frühen Universum nicht mehr: Teilchen werden zwar in andere Teilchen umgewandelt, Protonen und Neutronen können etwa bei der Bildung der Elemente durch Fusionsreaktionen im Innern der Sterne ineinander übergehen - ihre Gesamtzahl, die Baryonenzahl, bleibt jedoch erhalten. Baryonen machen einen Großteil der Masse des sichtbaren Universums aus - deshalb ist die Materie-Antimaterie-Asymmetrie im Wesentlichen ein Überschuss der Baryonen im Vergleich zu den Antibaryonen.

Die Zahl der Baryonen lässt sich aus der Häufigkeit der ersten chemischen Elemente im Kosmos wie folgt abschätzen. Während der so genannten primordialen Nukleosynthese in den ersten Minuten nach dem Urknall verschmolzen die bereits entstandenen Protonen und Neutronen bei hohen Temperaturen zu den leichten Elementen Deuterium, Helium, Lithium und Beryllium. Diese Fusionsprozesse standen in einem thermischen Gleichgewicht mit Spaltungsreaktionen, bei denen die entstandenen Atomkerne durch Zusammenstöße mit hochenergetischen Photonen gleich wieder zerbrachen. Wegen der Ausdehnung des Universums nahm die Teilchendichte - und damit die Zahl der Stöße zwischen den Teilchen - schnell ab: Das thermische Gleichgewicht wurde aufgehoben, und es blieben neben dem Wasserstoff charakteristische Anteile an Deuterium, Helium, Lithium und Beryllium zurück.

Die Häufigkeit dieser Elemente hängt direkt von der Dichte der Baryonen, von ihrem Verhältnis zu den Photonen, aber auch vom Verhältnis der Protonen zu den Neutronen ab. Freie, nicht in Atomkernen gebundene Neutronen zerfallen mit einer Halbwertszeit von 614 Sekunden in je ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino (nach dieser Zeit hat sich die Zahl der Neutronen jeweils halbiert). Die Zeitskala für die Entstehung der ersten Elemente ist ähnlich groß wie diejenige des freien Neutronenzerfalls - dementsprechend hängt die Häufigkeit der schwereren Kerne relativ zu jener des Wasserstoffs vom Verhältnis der Neutronen zu den Protonen ab (siehe die Grafik).

Andererseits lässt sich die mittlere Materiedichte im Kosmos aus der beobachteten großräumigen Verteilung der Galaxien zu etwa einem Teilchen pro fünf Kubikmeter abschätzen (im Wesentlichen sind das die Baryonen). Und aus der mit Hilfe von Weltraumobservatorien - etwa WMAP oder gegenwärtig Planck - kartierten Verteilung der Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung, deren Ursprung letztendlich die Auslöschung von Materie und Antimaterie ist, lässt sich die mittlere Zahl der Photonen im Universum zu 420 Photonen pro Kubikzentimeter bestimmen.

Schließlich kann aus den minimalen Fluktuationen der Verteilung der Hintergrundstrahlung ebenfalls auf die Baryonendichte geschlossen werden, da die Fluktuationen mit der Verteilung der Materie zusammenhängen: Solange alle Materie im Universum ionisiert ist, koppeln Photonen an das Plasma, dessen Verteilung wiederum durch Gravitation bestimmt ist.

Auf allen drei Wegen ergibt sich ein konsistentes Verhältnis der Baryonen zu Photonen von etwa 6·10-10, was in grobem Widerspruch zur Annahme des symmetrischen Urknallmodells steht - nach der, wie oben beschrieben, für jedes Photon nur 10-18 Baryonen, also hundert Millionen mal weniger, zu erwarten sind. Daraus folgt, dass irgendwann in der ersten Mikrosekunde nach dem Urknall für 100.000.000 Antibaryonen 100.000.001 Baryonen erzeugt wurden (siehe das Bild).


Symmetrien in der Physik

In der Physik haben Symmetrien eine zentrale Bedeutung. Die Tatsache, dass es ursprünglich offenbar nicht gleich viel Materie und Antimaterie gab, ist das Resultat der Brechung einer Symmetrie. Das Phänomen der Symmetriebrechung tritt auch im Alltag auf, etwa bei rechtsdrehenden Milchsäuren oder bei Hopfenpflanzen, deren Wachstumsverhalten eine Vorzugsdrehrichtung zeigt. Während es für den Ursprung bevorzugter Drehrichtungen organischer Moleküle Erklärungsversuche gibt, lässt sich die Brechung der Symmetrie in der Teilchenphysik bis heute nur beschreiben, aber nicht erklären.

Paritätsverletzung: Während drei der vier fundamentalen Naturkräfte, Elektromagnetismus, starke Wechselwirkung und Gravitation, gegenüber einer Punktspiegelung (bei der die Vorzeichen aller drei Koordinaten vertauscht werden) invariant sind, ist dies für die vierte Kraft, die schwache Wechselwirkung, nicht so. Diese Kraft regiert den Betazerfall - zum Beispiel die Umwandlung eines Neutrons in einem Atomkern in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Das Elektron und das Antineutrino verlassen den Kern, dabei lässt sich das Elektron direkt nachweisen. Die Ordnungszahl des Atomkerns (das ist die Zahl seiner Protonen) erhöht sich um eins, das zerfallende Element wird somit in ein anderes umgewandelt.

Im Jahr 1957 führte die chinesisch-amerikanische Physikerin Chien-Shiung Wu ein berühmtes Experiment durch. Sie untersuchte den Betazerfall eines Kobaltisotops zu Nickel bei sehr tiefer Temperatur in einem Magnetfeld. Unter diesen Bedingungen werden alle Kobaltkerne wie kleine Stabmagnete ausgerichtet - ihr Kernspin oder innerer Drehsinn liegt dann parallel zum Magnetfeld. In dieser Situation ergibt sich erstaunlicherweise, dass die Elektronen des Betazerfalls bevorzugt entgegen der Ausrichtung des Kernspins emittiert werden. Die Vorzugsrichtung lässt sich durch das Betrachten der Finger der linken Hand veranschaulichen, mit dem Daumen in Flugrichtung der Elektronen und dem Drehsinn entlang der Finger.

Dieses Experiment bedeutet: Die für den Betazerfall verantwortliche schwache Wechselwirkung kennt offenbar eine Vorzugsrichtung und verletzt damit die Invarianz unter Spiegelung aller Raumkoordinaten in einem Punkt (diese Symmetrie wird »Parität« genannt). Die Natur hat sich also - im Sinn der im Bild unten rechts gewählten Veranschaulichung - für die Linkshändigkeit der gewöhnlichen Teilchen entschieden.

CP-Symmetrie und CP-Verletzung: Nun stellt sich heraus, dass Antimaterie beim Betazerfall genau das entgegengesetzte Verhalten zeigt - sie ist »rechtshändig«. Vertauscht man also Materie mit Antimaterie, so vertauscht man sowohl die Ladung (Charge, C) als auch die Vorzeichen aller Raumkoordinaten (Parität, P), und die Symmetrie ist insgesamt wieder hergestellt - sie wird als CP-Symmetrie bezeichnet. Eine Analogie zu diesem Prozess ist im Bild auf S. 42 oben anhand einer Illustration von Maurits Cornelis Escher dargestellt: Die Anwendung einer Spiegelung und einer Farbinversion in Folge überführt ein Bild in ein zweites identisches Bild.

Aber auch die CP-Symmetrie gilt nicht wirklich streng. James Cronin und Val Fitch beobachteten 1964 bei der Untersuchung des Zerfalls neutraler K-Mesonen (oder Kaonen) am Beschleuniger in Brookhaven, USA, ein bemerkenswertes Phänomen: K-Mesonen und ihre Antipartner sind instabile Teilchen. Die möglichen Abläufe ihres Zerfalls lassen sich auf Grund der CP-Symmetrie vorhersagen, jedoch wurden bei einem von etwa 500 Zerfällen kleine Abweichungen von dieser Vorhersage festgestellt - offenbar ist auch die CP-Symmetrie keine strenge Erhaltungsgröße.

Durch einen solchen Symmetriebruch (bezeichnet als CP-Verletzung) lassen sich Materie und Antimaterie absolut definieren. Ein K-Meson kann sowohl in ein positives π-Meson und zwei Leptonen, als auch in ein negatives π-Meson (das Antiteilchen des positiven π-Mesons) und zwei Leptonen zerfallen. Die Halbwertszeit des positiven π-Mesons ist länger. Wir können also sagen: Das π-Meson mit der gleichen Ladung wie Atomkerne normaler Materie hat eine längere Lebensdauer als sein Anti-Teilchen. Damit sind sowohl »Materie« als auch »positive Ladung« über die Halbwertszeit eines Zerfalls eindeutig definiert.

Die Erklärung des Phänomens der CP-Verletzung im Rahmen des Standardmodells der Teilchenphysik machte - an Stelle der damals bekannten drei Quarks - die Annahme der Existenz von insgesamt sechs Quarks erforderlich, die sich inein ander umwandeln (»mischen«) können. Die zunächst theoretisch vorhergesagten Quarks und deren Antiteilchen wurden später auch gefunden (siehe SuW 10/2010, S. 46).

In Experimenten der letzten Jahre wurden an den Beschleunigern in Stanford, USA, (SLAC) und in Tsukuba, Japan (KEK) bei sehr hohen Energien Zerfälle von B-Mesonen untersucht. Aus der Rekonstruktion der Flugstrecke instabiler B-Mesonen und deren Antiteilchen bis zum Zerfall ergab sich ebenfalls eine CP-Verletzung. Auch diese Symmetriebrechung passt zum Standardmodell der Teilchenphysik - für diese Entdeckung erhielten die japanischen Physiker Makoto Kobayashi und Toshihide Masukawa 2008 den Nobelpreis für Physik. Am Fermilab in Illinois, USA, wurden kürzlich ebenfalls Hinweise auf Symmetriebrechung entdeckt. Und am CERN in Genf wurde das Experiment LHCb am Large Hadron Collider (LHC) speziell zur Erforschung dieser Fragestellung gebaut.

Symmetrie bezüglich Zeitumkehr: Neben der Symmetrie bezüglich Punktspiegelung (P) und Ladungsumkehr (C) gibt es als Drittes die Symmetrie bezüglich der Zeitumkehr (T, Time). Das Konzept, dass die Grundgesetze der Physik unter Punktspiegelung und Zeitumkehr in gleicher Weise für Materie und für Antimaterie gelten (CPT), ist eine Grundannahme der Physik. Zwar widersprechen der zweite Hauptsatz der Thermodynamik wie auch die Alltagserfahrung offensichtlich der Annahme einer Symmetrie bezüglich Zeitumkehr - ein einfaches Beispiel ist das Wasser in einem Fluss, das unter Zeitumkehr nicht rückwärts fließt. Aber auf der Ebene elementarer physikalischer Prozesse wurde bis heute kein Bruch der Symmetrie bezüglich Zeitumkehr beobachtet. Da jedoch, wie oben beschrieben, die ersten beiden Symmetrien (CP) insgesamt verletzt sind, sollte auch die Symmetrie bezüglich Zeitumkehr (T) allein verletzt sein, wenn die oben erwähnte Grundannahme der CPT-Symmetrie gelten soll. Experimente, in denen die Richtungsverteilung von Zerfallsprodukten radioaktiver Kerne und freier Neutronen gemessen wird, sind dazu geeignet, die Symmetrie bezüglich Zeitumkehr zu testen, konnten aber deren Verletzung trotz hoher Präzision bisher nicht feststellen.


Die Sacharow-Kriterien

Dass die Welt aus Materie besteht, und nicht aus Antimaterie, haben die Physiker lange Zeit als nicht weiter begründbares Postulat hingenommen. Als Erster fragte sich 1967 der bekannte russische Physiker und Dissident Andrej Dmitrijewitsch Sacharow nach den Gründen für diese fundamentale Tatsache, und er stellte für deren Erklärung die heute unter dem Namen »Sacharow-Kriterien« bekannten Bedingungen auf, unter denen bei Gleichverteilung von Materie und Antimaterie zu Beginn des Universums (im Urknall) eine dynamische Asymmetrie entstehen würde, die zur beobachteten Asymmetrie von Materie und Antimaterie führt. Diese Kriterien dienen heute als Leitfaden bei der Entwicklung von Theorien zur Physik jenseits des Standardmodells. Sie lauten:

Thermodynamisches Ungleichgewicht. Würde zu Beginn des Universums ein thermodynamisches Gleichgewicht herrschen, so könnten Paarvernichtung und Paarerzeugung im gleichen Maße ablaufen, und jede Asymmetrie würde wieder rückgängig gemacht werden.

Nichterhaltung der Baryonenzahl. Der für die Asymmetrie verantwortliche Prozess muss die Baryonen gegenüber den Antibaryonen bevorzugen, da Letztere heute nicht mehr natürlich vorkommen.

Verletzung von zwei Symmetrien zwischen Teilchen und Antiteilchen: die C-Symmetrie und die CP-Symmetrie, müssen verletzt werden. Die Verletzung der C-Symmetrie bedeutet die Nichtgleichberechtigung von Materie und Antimaterie.

Während die Bevorzugung der Materie relativ zur Antimaterie (Verletzung der C-Symmetrie) und die Verletzung der CP-Symmetrie experimentell nachgewiesen sind, wurden bis heute noch keine Prozesse beobachtet, welche die Baryonenzahl verändern oder die T-Symmetrie verletzen.


Experimente zur Erklärung der Baryonen-Asymmetrie

Das Standardmodell beschreibt die bekannte Teilchenphysik sehr erfolgreich und elegant, allerdings ohne die Baryonenasymmetrie zu erklären; die obere Energiegrenze für die Gültigkeit der Theorie, gegeben durch das schwerste nachgewiesene Teilchen - das top-Quark, dessen Masse einem Energieäquivalent von 178 Gigaelektronvolt entspricht - ist vergleichsweise niedrig: Bei Energien bis zu dieser Grenze können Szenarien simuliert werden, wie sie etwa 10-12 Sekunden (eine Pikosekunde) nach dem Urknall herrschten.

Mit dem Large Hadron Collider am CERN sollen schließlich Energien von 14 Teraelektronvolt erreicht werden. Eine solche Energie hätte ein Proton, wenn es zwischen zwei Platten mit einer Spannung von 14.000 Milliarden Volt beschleunigt würde. Es ist aber gänzlich ungewiss, ob sich in diesem relativ zum frühesten Urknall immer noch sehr niedrigen Energiebereich irgendein Hinweis auf die Materie-Antimaterie-Problematik wird aufspüren lassen.

Aber es steht dem Experimentalphysiker auch ein anderer, bei Weitem nicht so aufwändiger Weg in die Physik jenseits des Standardmodells offen. Die Masse der Teilchen, oder auch ihr Energieäquivalent, ist auf Grund der heisenbergschen Unschärfe relation mit ihrer Lebensdauer und damit auch mit ihrer räumlichen Ausdehnung korreliert. Deshalb können extrem genaue Präzisionsmessungen sehr kurzer Zeiten beziehungsweise Strecken Einblicke in die Eigenschaften des Universums liefern, die sonst erst bei sehr hohen Energien sichtbar werden. Die für solche Experimente benötigten Apparaturen sind viel kleiner und preiswerter als die großen Beschleuniger - trotzdem können damit Prozesse untersucht werden, die bei Energien weit jenseits der oberen Grenze des LHC liegen, und folglich auch Physik jenseits des Standardmodells. Solche Präzisionsmessungen können zum Beispiel hochgenaue Abstandsmessungen sein.


Das Dipolmoment des Neutrons

Die Messung elektrischer Dipolmomente von Teilchen mit nur einer definierten Vorzugsrichtung (also von möglichst einfach zu verstehenden elementaren Systemen) ist ein Beispiel für genaue Messungen kleinster Abstände. Die Messgröße ist hier der Abstand zweier möglicherweise vorhandener, minimal gegeneinander versetzter Elementarladungen entgegengesetzten Vorzeichens.

Eine solche permanente elektrische Ladungsverteilung im Neutron würde ein elektrisches Dipolmoment erzeugen. Nun ist das Neutron ein einfaches Quantensystem, das nur eine einzige, durch seinen inneren Drehimpuls oder Spin gegebene Vorzugsrichtung und ein dazu proportionales magnetisches Moment hat. Ein eventuell vorhandenes elektrisches Dipolmoment muss entlang des Spins ausgerichtet sein, da sonst durch das Dipolmoment eine zusätzliche Richtung ausgezeichnet wäre - das Neutron würde also eine zusätzliche Quantenzahl besitzen, wogegen aber alle Erfahrung aus der Kernphysik spricht.

Im Bild des Drehsinns betrachtet ist es klar, dass sich der Spin umkehrt, wenn man die Zeit rückwärtslaufen lässt. Dagegen wäre eine eventuell vorhandene statische Ladungsverteilung von der Zeitrichtung unabhängig. Diese vereinfachte Darstellung soll es plausibel machen, dass sich beide Eigenschaften, Spin und elektrisches Dipolmoment, im Magnetfeld und im elektrischen Feld bei Zeitumkehr unterschiedlich verhalten. Hätte das Neutron ein nicht verschwindendes elektrisches Dipolmoment, so würde es demnach die Zeitumkehrsymmetrie (T) verletzen und damit einen Hinweis auf eine bisher unbekannte Eigenschaft der elementaren Naturgesetze liefern.

Nach dem elektrischen Dipolmoment des Neutrons wird mit ultrakalten Neutronen bei Nanoelektronvolt-Energien gesucht. Solche Energien sind um etwa 20 Größenordnungen kleiner als die am LHC erreichbare Energie, dabei zählen solche Messungen zu den genauesten in der Physik. Damit ließe sich der Abstand zweier Elementarladungen bereits heute auf 10-26 Zentimeter genau messen. Das Bild auf S. 42 unten dient zur Veranschaulichung dieser zur Abwechslung unvorstellbar kleinen Zahl.

In der Natur besitzen viele Systeme ein elektrisches Dipolmoment - zum Beispiel das Wassermolekül. Jedoch sind diese Systeme keine fundamentalen Quantensysteme, in dem Sinn, dass es hier mehr als eine einzige Eigenschaft mit Vorzugsrichtung gibt. Im Standardmodell der Teilchenphysik erwartet man - berechnet auf der Basis der bekannten CP-Symmetrieverletzung - ein elektrisches Dipolmoment des Neutrons von nur 10-32 ecm. (Die Einheit Elektronzentimeter oder ecm dient zur Beschreibung eines elektrischen Dipols: Ladung x Abstand, in unserem Fall der Abstand zweier Elementarladungen in Zentimetern.)

Obwohl diese Größe unvorstellbar klein ist und für ihre Messung noch viele Jahrzehnte Arbeit nötig sein werden, wird zu diesem Zweck bereits heute intensiv an sehr eleganten Experimenten gearbeitet. An der Front dieser Forschung steht gegenwärtig die Weiterentwicklung des Ramsey-Experiments - siehe die Darstellung im Kasten unten.


Das Ramsey-Experiment

In den 1950er Jahren entwickelte der amerikanische Physiker Norman Ramsey eine Methode zur Messung des elektrischen Dipolmoments des Neutrons. Dabei werden ultrakalte Neutronen bei Nanoelektronvolt-Energien - das heißt, bei Geschwindigkeiten von weniger als fünf Meter pro Sekunde und Temperaturen unterhalb von drei Millikelvin - für mehrere hundert Sekunden In einer Kammer etwa von der Größe eines Kochtopfs eingesperrt (siehe Bild unten). Die Kammer ist in einem extrem stabilen und gleichmäßigen Magnetfeld angebracht. Die Neutronen sind polarisiert - ihr Spin (das heißt: ihr innerer Drehsinn) ist einheitlich entlang der Magnetfeldlinien ausgerichtet. Sie verhalten sich im Magnetfeld analog zu einem Kreisel im Schwerefeld: Perfekt parallel zum Feld ausgerichtet, steht die Achse des Kreisels fest. Durch Anstoßen von der Seite wird die Achse um einen bestimmten Winkel gekippt und der Kreisel beginnt zu präzedieren. Analog dazu verhalten sich die Neutronen, wenn für eine kurze Zeit (pulsartig) senkrecht zum stabilen Magnetfeld ein oszillierendes Magnetfeld angelegt wird: Nach diesem ersten Puls ist ihr Spin um einen bestimmten Winkel gekippt, und sie präzedieren im konstanten Magnetfeld mit einer charakteristischen Frequenz - der Larmorfrequenz.

Um ein eventuell vorhandenes elektrisches Dipomoment der Neutronen zu messen, legt man entlang des Magnetfelds auch ein elektrisches Feld an. Dadurch wird die Larmorfrequenz proportional zur Stärke des elektrischen Felds und des elektrischen Dipolmoments verändert - damit ist das Dipolmoment im Prinzip messbar. Das Geniale an Ramseys Methode ist nun die Idee, nach etwa 150 Sekunden einen zweiten Puls des oszillierenden Magnetfelds auf die Neutronen wirken zu lassen - dafür bekam er 1989 den Nobelpreis (siehe die Grafik). Der zeitliche Abstand zwischen den beiden Pulsen wird unter der Kontrolle einer Atomuhr variiert: Wenn er exakt ein Vielfaches der Larmorperiode beträgt, kippt der Drehsinn der Neutronen insgesamt um exakt 180 Grad, und die Neutronen sind abermals perfekt entlang des Magnetfelds ausgerichtet. Die Wirkung des zweiten Pulses hängt entscheidend von der Phase zwischen Larmorpräzession und externer Uhr ab. Die Anordnung ist also ein Zeit-Interferometer zur präzisen Messung der Larmorfrequenz - und damit des Dipolmoments des Neutrons.

Analysiert wird das Ergebnis des Experiments, indem nach dem zweiten Puls die Falle geöffnet wird und die Neutronen in einen polarisationsempfindlichen Zähler hineinfallen. Der Nachweis der Neutronen kann nur über eine Kernreaktion im Zähler erfolgen, sie werden also beim Zählen zerstört. Zur Kontrolle systematischer Effekte wie etwa der Drift des Magnetfelds während der Messung wird in derselben Kammer gemeinsam mit den ultrakalten Neutronen polarisierter Quecksilberdampf gespeichert. Im Quecksilber wird ein elektrisches Dipolmoment durch die Atomhülle unterdrückt - deshalb lässt es sich als Referenz verwenden: Viele systematische Effekte können damit beseitigt werden. Schließlich liefert der Vergleich der Larmorfrequenz der Neutronen im Magnetfeld bei Tag und bei Nacht auch einen sehr genauen Hinweis auf eine mögliche kosmische Vorzugsrichtung, welche - falls vorhanden - CPT verletzen, und damit auf alternative Modelle für die Entstehung der Materie-Antimaterie-Asymmetrie hindeuten würde.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ein Blick in das Innere des besten der bisherigen Experimente zur Messung des elektrischen Dipolmoments des Neutrons, durchgeführt von Forschern des Rutherford Laboratory in Oxford, der University of Sussex und des Institut Laue-Langevin in Grenoble. Hier werden polarisierte ultrakalte Neutronen in einer 50 Zentimeter großen Kammer aus Quarz und diamantartigem Kohlenstoff eingesperrt. Der Apparat steht in einer Vakuumkammer und ist zur Reduzierung äußerer magnetischer Störungen elektromagnetisch abgeschirmt. Die obere und untere Begrenzung der Kammer besteht aus Elektroden, an denen parallel zum Magnetfeld das elektrische Feld angelegt wird.

- (Grafik) Zeitlicher Ablauf des Ramsey-Experiments zur Messung des elektrischen Dipolmoments des Neutrons. Durch den Vergleich der Larmorpräzession der polarisierten, in einem Magnetfeld ausgerichteten ultrakalten Neutronen mit dem zeitlichen Abstand zwischen zwei Pulsen eines zweiten, oszillierenden Magnetfelds wird ein Zeit-Interferometer hergestellt. Die Änderung der Präzession durch ein angelegtes elektrisches Feld ist ein Maß für ein elektrisches Dipolmoment des Neutrons.


Im Hintergrund steht hier eine Problematik vieler neuer Theorien zur Beschreibung der Physik jenseits des Standardmodells: Oft ergeben die theoretischen Ansätze vergleichsweise sehr große Werte für das elektrische Dipolmoment des Neutrons. Damit ist selbst die Messung eines oberen Grenzwerts ein wertvolles Ergebnis, mit dem sich Theorien testen oder auch ausschließen lassen. Die Supersymmetrie sagt für das elektrische Dipolmoment des Neutrons sogar so große Werte voraus, dass die Experimente der nächsten Generation mit einer von 10-26 ecm auf 10-28 ecm verbesserten Messgenauigkeit zu einer echten Messung führen sollten. Damit lässt sich im Labor auch Physik jenseits von Teraelektronvolt-Energien testen.

Bei der starken Wechselwirkung wird im Gegensatz zur schwachen Wechselwirkung keine CP-Verletzung beobachtet - obwohl dies auf Grund der formalen Struktur der Theorie zu erwarten wäre. Auch dieses Phänomen ist schon seit Jahrzehnten bekannt, aber eine Erklärung steht nach wie vor aus. Eine mögliche Strategie zur Lösung dieses »Starken CP-Problems« wurde bald vorgeschlagen: Anstatt eines elektrischen Dipolmoments könnte hier ein neues Teilchen helfen - das Axion, das auch einer neuen vorgeschlagenen Symmetrie entspringt und zugleich ein passender Kandidat für die Dunkle Materie wäre (siehe SuW 8/2010, S. 32 und das Buch von H. Quinn und Y. Nir). Bisher ließ sich das Axion allerdings nicht nachweisen.


Wie die Urkraft in unsere Naturkräfte zerfiel

Man glaubt heute nicht, dass der Urknall selbst asymmetrisch abgelaufen ist. Und wäre dies der Fall gewesen, so wäre diese Eigenschaft durch die schnelle Expansion des Universums während der Inflationsphase durch spontane Symmetriebrechung von der Urkraft »ausgewaschen« worden (siehe dazu SuW 1/2011, S. 46). Trotzdem muss die Asymmetrie sehr bald entstanden sein. Eine Möglichkeit ist ihre Entstehung zu einer Zeit, für die so genannte Grand Unified Theories (GUT) entwickelt wurden, zwischen 10-43 Sekunden (der Planck-Zeit - das ist das kleinstmögliche Zeitintervall, für das die bekannten Gesetze der Physik gültig sind) und 10-36 Sekunden nach dem Urknall: Zu dieser Zeit spaltete sich als erste die Schwerkraft durch spontane Symmetriebrechung von der Urkraft ab. Die übrigen drei uns bekannten Kräfte waren damals noch in einer vereinheitlichten Kraft, der so genannten X-Kraft, zusammengefasst, und beim weiteren Abkühlen des Universums spaltete sich dann zunächst die starke Wechselwirkung von der elektroschwachen Wechselwirkung ab.

Die postulierte X-Kraft hilft, Andrej Sacharows Kriterien zu erfüllen: Nach der Theorie zerfallen die Überträgerteilchen der X-Kraft mit einer Masse von 1015 Gigaelektronvolt in Leptonen und Quarks (deshalb werden sie auch als Leptoquarks bezeichnet) und verletzen dabei die Erhaltung der Zahl der Baryonen und der Leptonen. Durch diesen Prozess würde auch das Proton zerfallen - zur Überprüfung dieses Szenarios wurde das Kamiokande-Experiment in Japan ursprünglich gebaut. Dabei ergab sich für die Lebensdauer des Protons bisher allerdings nur eine untere Grenze von 1032 Jahren.


Symmetriebrechung

Während des weiteren Abkühlens des Universums spaltete sich die elektroschwache Kraft in die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung auf. Diesem Prozess liegt ein Phasenübergang zugrunde, während dessen das hypothetische, von dem britischen Physiker Peter W. Higgs bereits 1964 prognostizierte »Higgsfeld« durch spontane Symmetriebrechung plötzlich Masse bekommt.

Mit diesem Konzept der Symmetriebrechung wird die Rolle der Symmetrien in der Physik nochmals bekräftigt: Während erhaltene Symmetrien zwingend neue Felder erzeugen, die sich als Austauschteilchen der fundamentalen Kräfte identifizieren lassen (so wird in der Elektrodynamik das Photon erzeugt), ist diese Symmetriebrechung etwa verantwortlich für die Masse der Teilchen.

Ein anschauliches Beispiel für Symmetriebrechung liefert der Ferromagnetismus. Werden ferromagnetische Materialien über die materialspezifische »Curie-Temperatur« hinaus erhitzt, so erfolgt der Phasenübergang in ihre paramagnetische Hochtemperaturform. Oberhalb dieser Curie-Temperatur lässt sich kein Material magnetisieren, da die thermische Bewegung jede stabile Anordnung der magnetischen Zentren verhindert - unterhalb der Curie-Temperatur ergibt sich aber spontan eine Vorzugsrichtung, die sich als makroskopische Magnetisierung manifestiert. Die Richtung der Magnetisierung lässt sich nicht vorhersagen, da jede Ausrichtung einem energetisch günstigeren Zustand als dem nicht ausgerichteten entspricht. Beim elektroschwachen Phasenübergang könnte auf ähnliche Weise das Higgsfeld einen energetisch günstigeren Zustand einnehmen. Mit diesem Modell, dem Higgs-Mechanismus, lässt sich zugleich die Masse aller Teilchen im Standardmodell erklären.

Während viele dieser Annahmen aufgrund der hohen erforderlichen Energie nur mit Mühe (beziehungsweise heute noch nicht) getestet werden können, sind etliche der möglichen Szenarien für einen solchen Phasenübergang durch die experimentellen Einschränkungen für die Masse des Higgsteilchens nach oben und unten bereits ausgeschlossen (siehe SuW10/2010, S. 46).

Eine besonders attraktive Theorie ist die »Supersymmetrie«, die neue Teilchen und Effekte schon kurz oberhalb der heute erreichbaren Energien vorhersagt. Eine Konsequenz dieser Theorie ist die Vereinheitlichung der Kräfte bei extrem hohen Energien von 1016 Gigaelektronvolt, in dem Energiebereich, für den die Grand Unified Theories entwickelt wurden. Da dieser Bereich weit jenseits des experimentell Überprüfbaren liegt, kann man sich hier ausreichend viele Möglichkeiten für neue CP-Symmetrieverletzung vorstellen. Bislang konnten noch keine von diesen Theorien vorhergesagten Teilchen nachgewiesen werden.


Die Zukunft der Präzisionsmessungen

Weltweit werden gegenwärtig mehrere konkurrierende Ramsey-Experimente der neuesten Generation aufgebaut. Sie alle streben gegenüber ihren Vorgängern zwei grundlegende Verbesserungen an - hohe Dichten der gespeicherten ultrakalten Neutronen sowie extreme Stabilität und Homogenität der Magnetfelder.

Für ein solches Ramsey-Experiment wird an der Forschungsneutronenquelle Heinz-Maier-Leibnitz in Garching bei München eine der weltweit stärksten Quellen ultrakalter Neutronen gebaut. Hier sollen die zurzeit am Institut Laue-Langevin in Grenoble erreichbaren Dichten von wenigen ultrakalten Neutronen pro Kubikzentimeter um das 1000-Fache übertroffen werden, wodurch sich die statistische Messgenauigkeit erheblich erhöht. Zur Erzeugung hoher Dichten ultrakalter Neutronen wurde dabei erst in den letzten Jahren das folgende Verfahren entwickelt: Thermische Neutronen aus einem Reaktor treffen bei -267 Grad Celsius auf gefrorenes Deuterium, stoßen dort mit Deuteriumkernen zusammen und regen dabei das kristallin gefrorene Deuterium an. Diese Anregung nimmt den Neutronen praktisch ihre gesamte Energie; anschließend werden die Teilchen von der Quelle ins Experiment geleitet. Die neue, starke, ultrakalte Quelle soll im Jahr 2013 in Betrieb gehen.

Auch abseits der Beschleunigerphysik gibt es interessante Experimente zur Erforschung des frühen Universums.

Dieses Beispiel der ultrakalten Neutronen zeigt, dass es auch abseits der Beschleunigerphysik interessante Experimente zur Untersuchung vieler fundamentaler Effekte gibt, die im frühen Universum bei extrem hohen Energien auftreten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert in einem Schwerpunktprogramm zusammen mit dem Exzellenzcluster Universe in Garching die Untersuchung solcher Effekte mit langsamen, ultrakalten Neutronen. Dabei geht es den Forschern nicht nur um die Messung der Lebensdauer des Neutrons und seines elektrischen Dipolmoments, sondern zum Beispiel auch um quantenphysikalische Experimente zur Suche nach neuen Kräften auf kurzen Distanzen, die einen Blick in das noch frühere Universum gestatten.


Peter Fierlinger lehrt an der Technischen Universität München und arbeitet mit seiner Forschungsgruppe am Exzellenzcluster Origin and Structure of the Universe an Präzisionsexperimenten zur Suche nach elektrischen Dipolmomenten und in der Neutrinophysik.


Glossar

Baryonen bestehen aus je drei → Quarks. Im Gültigkeitsbereich des Standardmodells der Elementarteilchen ist die Zahl der Baryonen eine Erhaltungsgröße. Die gewöhnliche Materie, die uns umgibt, besteht im Wesentlichen aus Baryonen und Elektronen, und wird als baryonische Materie bezeichnet. Die leichtesten Baryonen sind das Proton und das Neutron.

CP-Invarianz, CP-Verletzung: Bleibt ein Naturgesetz unverändert, wenn man gleichzeitig die Vorzeichen aller Raumkoordinaten vertauscht, dann ist es »punktsymmetrisch« oder »invariant unter Paritätstransformationen« (P). Bleibt es unverändert, wenn die Zeit umgekehrt abläuft, so ist es »zeitsymmetrisch« - zur Zeitumkehr gehört das Symbol T (Time). Vertauscht man ein Teilchen mit der elektrischen Ladung C (Charge) mit seinem Antiteilchen mit der Ladung -C, so ist das eine Ladungstransformation (Symbol C). Bei gleichzeitiger Durchführung aller drei Transformationen C, P und T bleiben die Naturgesetze im Allgemeinen unverändert. Solche Naturgesetze, die sich nicht ändern, wenn man nur die Transformationen C und P durchführt, heißen CP-symmetrisch oder CP-invariant. Ändert sich hingegen ein physikalisches Gesetz durch die Anwendung von C und P, so liegt eine CP-Verletzung vor.

Elektrisches Dipolmoment: eine Größe mit Betrag und Richtung (Vektor). Betrachtet man zwei dem Betrag nach gleich große Ladungen +q und -q Abstand r, so berechnet sich das elektrische Dipolmoment zu p = q·r, das heißt: Je größer die Ladungen und je größer ihr Abstand, umso größer das Dipolmoment. Das Neutron ist ein elektrisch neutrales Teilchen im Atomkern und ein → Baryon. Sollte es in seinem Innern eine Ladungsverteilung geben, so müsste es auch ein elektrisches Dipolmoment haben. Dieses versuchen die Physiker nachzuweisen.

Erhaltungsgröße: Nach einem berühmten, 1918 von der Mathematikerin Emmy Noether (1882-1935) formulierten Theorem gehört zu jeder → Symmetrie eine Erhaltungsgröße, also eine Größe, die sich zeitlich nicht ändert. Bei Achsensymmetrie ist zum Beispiel der Drehimpuls eine Erhaltungsgröße. Wichtige Erhaltungsgrößen in der Physik sind Energie, Impuls, Drehimpuls, sowie die Baryonen- und die Leptonenzahl.

Mesonen: Diese Teilchen mittlerer Masse sind kurzlebige Bindungszustände aus je einem Quark-Antiquark-Paar. Zum Beispiel zerfällt das π-Meson in ein Myon und ein Antineutrino. Es gibt drei Pionen unterschiedlicher Ladung (positiv, negativ und neutral).

Quarks, Leptonen: Gemäß des Standardmodells der Teilchenphysik bilden sechs (schwere) Quarks zusammen mit sechs (leichten) Leptonen, zum Beispiel dem Elektron, die fundamentalen Bausteine der Materie. Die Zahl der Leptonen ist, ebenso wie die Zahl der Baryonen, eine Erhaltungsgröße.

Spin: eine Eigenschaft von Teilchen, die wichtig ist in der Quantenphysik (»Quantenzahl«). In der Quantentheorie können Drehimpulse mathematisch sehr allgemein definiert werden, der Spin entpuppt sich dabei als ein Drehimpuls - er wird auch Eigendrehimpuls genannt. Der Spin hat einen Betrag und eine Richtung, die sich durch ein äußeres Magnetfeld beeinflussen lässt. Auf dem Teilchenspin beruht die fundamentale Unterteilung der Teilchen in Bosonen (mit ganzzahligem Spin) und Fermionen (mit halbzahligem Spin).

Supersymmetrie: So wird eine theoretisch postulierte → Symmetrie zwischen Bosonen und Fermionen (→ Spin) bezeichnet. Gemäß der Supersymmetrie hätte jedes Teilchen einen supersymmetrischen Partner: Jedes Boson hätte einen fermionischen Partner, und jedes Fermion hätte einen bosonischen Partner. Demnach verdoppelt die Supersymmetrie die Zahl der Elementarteilchen. Allerdings wurde bislang kein neues supersymmetrisches Teilchen entdeckt.

Symmetrie: Physikalische Systeme können Symmetrien aufweisen, etwa eine Kugel- oder eine Achsensymmetrie: Ein nicht rotierendes Schwarzes Loch ist kugelsymmetrisch, das rotierende Sonnensystem ist achsensymmetrisch. Das noethersche Theorem stellt einen Bezug solcher Symmetrien zu mathematischen Größen, den → Erhaltungsgrößen, her. In der Teilchenphysik gibt es Symmetrien wie die → CP-Invarianz, die → Supersymmetrie oder die Händigkeit (Chiralität).


Literaturhinweise:

Bartelmann, M.: Dem Dunklen Universum auf der Spur. In: Sterne und Weltraum 8/2010, S. 32-43

Giesel, K.: Loop-Quantengtavitation. In: Sterne und Weltraum 7/2011, S. 30-41

Gorbahn, M., Raffelt, G.: Spurensuche in der Welt der Quanten. In: Sterne und Weltraum 10/2010, S. 46-7

Niemeyer, J., Schwarz, D.J.: Inflation - der Auftakt zum Urknall. In: Sterne und Weltraum 1/2011, S. 46-57

Oberauer, L., Wurm, M.: Astrophysik mit Neutrinos, Teil 1. In: Sterne und Weltraum 2/2010, S. 30-38; Teil 2. In: Sterne und Weltraum 3/2010, S. 28-35

Quinn, H., Nir, Y.: The Mystery of the Missing Antimatter, Princeton University Press, 2008

Weblinks zum Thema: www.astronomie-heute.de/artikel/1121572


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 37:
Das Alpha-Magnet-Spektrometer AMS-02 (Pfeil) wurde mit dem letzten Flug des Space Shuttle Endeavour zur Internationalen Raumstation gebracht und dort am 19. Mai 2011 installiert. Es soll bis zum voraussichtlichen Ende der ISS im Jahr 2020 in der kosmischen Teilchenstrahlung nach Antimaterie als Relikt des Urknalls fahnden. An diesem Projekt sind 500 Physiker aus Europa, Asien und Nordamerika unter Leitung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA beteiligt.

Abb. S. 38:
Die Entdeckung des Positrons
Das Bild unten zeigt eine Nebelkammer, die von einem senkrecht zur Bildebene verlaufenden Magnetfeld durchsetzt ist. Von unten tritt ein geladenes Teilchen aus der Höhenstrahlung in die Kammer ein und ionisiert darin die Atome einer übersättigten Atmosphäre. Die so entstandenen Ionen sind Kondensationskeime, an denen sich entlang der Teilchenbahn Tröpfchen bilden - die Nebelspur. Das Magnetfeld lenkt das geladene Teilchen ab. Der Krümmungsradius der Flugbahn verrät: Das Teilchen hat die Masse eines Elektrons, aber positive Ladung; seine Energie beträgt anfangs 63 Megaelektronvolt. Nach Durchdringen der Bleiplatte bleiben ihm noch 23 Megaelektronvolt - dementsprechend ist seine Flugbahn nun stärker gekrümmt.

Abb. S. 40 oben:
Obwohl man zunächst erwartet, dass gleich viel Materie und Antimaterie existieren sollte, ist in der ersten Mikrosekunde nach dem Urknall eine Asymmetrie entstanden: Für hundert Millionen Antiteilchen entstanden hundert Millionen und ein Teilchen. Beim Zerstrahlen aller Materie und Antimaterie in Energie (Photonen) blieb schließlich dieser Überschuss, symbolisiert durch das einzelne Teilchen, als Materie übrig.

Abb. S. 40 unten:
Die Häufigkeit der leichten Elemente Helium (3He, 4He), Deuterium (D), und Lithium (7Li) relativ zum Wasserstoff (H) ist hier in Abhängigkeit von dem Verhältnis Baryonen/Photonen dargestellt. Die farbigen Kurven sind die Vorhersagen des Nukleosynthesemodells, die weißen Balken in gelbem Feld geben die Messungen mit ihren Unsicherheiten wieder. Danach beträgt die primordiale Häufigkeit des Heliums 24 Prozent, die des Lithiums etwa 10-10, und das Verhältnis von Baryonen zu Photonen liegt bei 6,3·10-10 bis 6,3·10-10.

Abb. S. 41:
Zur Veranschaulichung der Paritätsverletzung beim Betazerfall: Zeigen die vier anderen Finger der linken Hand in Richtung des inneren Drehsinns des zerfallenden Kerns, so werden die Elektronen bevorzugt entgegen der Ausrichtung des Kernspins, also in Richtung des Daumens, emittiert.

Abb. S. 42 oben:
Bei Erhaltung der CP-Symmetrie führt die Paritätstransformation P (Vertauschung der Vorzeichen aller Koordinaten oder Spiegelung an einem Punkt) bei gleichzeitiger Vertauschung der Teilchen mit ihren Antiteilchen entgegengesetzter Ladung (C) zu einer Antiwelt mit identischen Naturgesetzen. In ähnlicher Weise wird hier das oben links gezeigte Bild von Maurits Cornelis Escher durch eine Spiegelung und eine anschließende Farbinversion (oder umgekehrt - die Reihenfolge ist beliebig) in ein mit dem Original identisches zweites Bild überführt.

Abb. S. 42 unten:
Ein elektrisches Dipolmoment entsteht durch zwei räumlich getrennte, entgegengesetzte Ladungen. Die Existenz einer solchen statischen Ladungsverteilung in einem Quantensystem mit Spin, zum Beispiel in einem Neutron, würde fundamentale Symmetrien verletzen - insbesondere die Invarianz gegen Zeitumkehr (T). Die Experimente zur Messung eines solchen Dipolmoments erreichen bereits heute eine extreme Präzision: Wäre das Neutron so groß wie die Erde, so ließe sich bereits ein Versatz der beiden Ladungen von einem Mikrometer messen. Aber das ist immer noch bloß eine obere Grenze für das wahre Dipolmoment des Neutrons...


© 2011 Peter Fierlinger, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Sterne und Weltraum 10/11 - Oktober 2011, Seite 36-46
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
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Internet: www.astronomie-heute.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2011