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BERICHT/084: Schnell und schmerzlos - Physik am Morgen (spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 3/09 - März 2009

Schnell und schmerzlos - Physik am Morgen

Von H. Joachim Schlichting

Über eine nicht ganz gesellschaftsfähige, aber physikalisch hochinteressante Methode, heiße Getränke zu kühlen


Der Mensch kann ... nach allen Arten [trinken].
Er saugt an der Mutter-Brust schon und beständig
wenn er ordentlich stark trinkt, den Tee schlurft er
mit erweiterter Brust ein, und wenn er aus einer
Bouteille mit einem engen Hals trinkt, so gießt er.

Georg Christoph Lichtenberg
(1742 - 1799)


Man kennt das: Kurz bevor morgens der Bus kommt, ist der Kaffee (oder Tee) noch viel zu heiß. Schmerzlosen Genuss erlangen wir in der Eile nur, wenn wir uns auf mehr oder weniger lautstarkes Schlürfen verlegen - und damit physikalisch höchst trickreich vorgehen. Rein praktisch gesehen kann nämlich, wer schlürft, den thermischen Energiestrom zwischen heißem Getränk und empfindlichen Schleimhäuten recht präzise steuern.

Zum anderen aber muss er den Abstand zwischen Lippen und heißer Flüssigkeit fein einjustieren - so, dass infolge des durch Einsaugen erzeugten Unterdrucks eine wohl dosierte Flüssigkeitsmenge in den Mund gelangt. Entscheidend ist schließlich, dass der Fluidstrom in Turbulenzen gerät, weil sich in der Luftsäule zwischen den gespitzten Lippen eine chaotische Schwingung ausbildet.

Jetzt endlich durchmischen sich kühle Luft und heiße Flüssigkeitsportionen in idealer Weise. Einerseits stellt sich eine im Mittel gleich bleibende Mischungstemperatur ein, die niedriger ist als die der Flüssigkeit allein. Andererseits kommen die Schleimhäute nur mit kleineren Flüssigkeitsportionen in Berührung, die durch Luft thermisch voneinander isoliert sind und daher auch eine geringere Wärmekapazität aufweisen. Dies reduziert die Stärke des Wärmestroms zwischen Schleimhäuten und eingeschlürftem Fluid auf ein verträgliches Maß.

Das typische Schlürfgeräusch ist demnach keine gewollte, womöglich provozierende Aktion - auch wenn es Georg Christoph Lichtenberg zufolge (»der Ochse schlurft«) eine gewisse Verwandtschaft mit den akustischen Emissionen Wasser trinkenden Rindviehs aufweist. Es ist vielmehr Begleiterscheinung eines turbulent schwingenden Fluidstroms und damit unabdingbar für die unschädliche Aufnahme von heißer Flüssigkeit.

Natürlich geht es auch anders, zum Beispiel mit Suppe. Wer den heißen Dampf über dem Suppenlöffel wegbläst, senkt die dort herrschende extrem hohe Luftfeuchte radikal. Jetzt können weitere Wassermoleküle verdunsten und der heißen Suppe Energie entziehen. Physikalisch und feinmotorisch anspruchsvoller ist aber auch hier die Schlürfvariante: Ohne den Löffel mit den Lippen zu berühren - er wird genauso heiß wie die Suppe, obendrein leitet er die Wärme besonders gut -, levitiert man sie genießerisch vom Essbesteck.


H. Joachim Schlichting ist Professor und Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster.


© 2009 H. Joachim Schlichting, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 3/09 - März 2009, Seite 32
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2009