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MELDUNG/428: Science-Veröffentlichung - Kollektives Verhalten von Fermionen (Universität Hamburg)


Universität Hamburg
Pressemitteilung vom 10. Januar 2014

Science-Veröffentlichung: Kollektives Verhalten von Fermionen Teilchen schwingen im gleichen Takt



Ob Vogelschwärme, Sanddünen oder Straßenverkehr: Im Alltag beobachten wir immer wieder sogenanntes kollektives Verhalten, bei dem sich alle beteiligten Objekte - gewollt oder ungewollt - synchron bewegen. Ein Forschungsteam des "Hamburg Centre for Ultrafast Imaging (CUI)" der Universität Hamburg hat nun ein neuartiges Quantensystem realisiert, das aus mehr als einer Million Atome bestand, die sich entgegen aller Erwartungen ebenfalls vollständig kollektiv verhielten. Das berichten die Wissenschaftler in der Ausgabe des Magazins "Science" vom 10. Januar 2014.

Die CUI-Forscher aus dem Team von Prof. Dr. Klaus Sengstock konnten im Labor erstmals beobachten, wie eine Wolke ultrakalter Kalium-Atome kollektiv schwingt, quasi einen quantenmechanischen Wiener Walzer tanzt. Das Besondere dabei: Es handelt sich um fermionische Teilchen, die in der Physik eigentlich dafür bekannt sind, nicht gemeinsam zu agieren. Fermionen sind eine von zwei grundlegenden Teilchenarten und unterscheiden sich von der anderen Art, den Bosonen, nur durch eine einzige quantenmechanische Eigenschaft: ihren Spin. "Dafür gibt es kein klassisches Analogon", erklärt Dr. Christoph Becker, wissenschaftlicher Leiter des Projektes. "Am besten kann man sich den Spin als eine Drehung der Teilchen um sich selbst vorstellen." Dieser hat drastische Konsequenzen für das "Sozialverhalten" von Teilchen. Während Bosonen einen ganzzahligen Spin haben und dazu tendieren, sich alle gleich zu verhalten, sind die Fermionen mit ihrem halbzahligem Spin Einzelgänger, die sich sozusagen soweit wie möglich aus dem Weg gehen.

Fermionen wie z. B. Neutronen, Protonen oder Elektronen sind es auch, aus denen sich Materie zusammensetzt, wodurch kollektives Verhalten in realen Quantensystemen nur selten zu finden ist. Wenn doch, dann führt dies oft zu unerwarteten und völlig neuen Effekten, welche auch technisch von großem Nutzen sein können. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Supraleitung, bei der bestimmte Stoffe auf extrem tiefe Temperaturen gekühlt werden, sodass sich Elektronen in Paaren ohne Widerstand durch den Leiter bewegen können.

Den Forschern der Universität Hamburg gelang es nun, Atome des Isotops 40Kalium mit Laserlicht fast bis auf den absoluten Nullpunkt (minus 273° C) abzukühlen und sie dadurch zu verlangsamen. Bei diesen Temperaturen bilden die Teilchen einen Quantenzustand, der im Fachjargon als "Fermisee" bezeichnet wird - nach Enrico Fermi, einem Pionier der Quantenmechanik. Erst seit einigen Jahren ist es technisch überhaupt möglich, in diesen Temperaturbereich vorzustoßen.

"Wir hatten bereits beobachtet, dass sich bosonische Atome kollektiv verhalten", berichtet Klaus Sengstock, experimenteller Leiter des Teams. "Es war aber eine völlig offene Frage, was in diesem Fall mit Fermionen passieren würde." Nach dem Abkühlen manipulierten die Forscher die Fermionen durch Laserlicht und richteten dadurch den Spin aus. Erstmals wurde beobachtet, wie der Spin aller Fermionen im Gleichtakt zu schwingen beginnt - ähnlich einem Wiener Walzer, bei dem sich alle Paare auf der Tanzfläche genau mit der gleichen Geschwindigkeit drehen.

Gemeinsam mit Kollegen aus Dresden und Barcelona konnte das Phänomen experimentell und theoretisch genau ergründet werden. "Alle Atome sind miteinander verknüpft, deswegen das überraschend kollektive Verhalten", erklärt Prof. Maciej Lewenstein aus Barcelona, der das Theorieteam leitet. "Für solch komplexe Systeme gibt es keine einfache Formel. Wir mussten eine neue effektive Theorie ausarbeiten, um das Experiment korrekt beschreiben zu können." Die Forscher fanden zudem heraus, dass das kollektive Verhalten ein Quantenphänomen ist, das sehr sensitiv auf Störungen wie etwa Temperaturveränderungen reagiert.

Die Ergebnisse der Grundlagenforschung erweitern das Verständnis von physikalischen Vielteilchensystemen und damit von fundamentalen Aspekten der Natur. Anwendungen könnten im Bereich der Quantentechnologien liegen, etwa in Form von Quantensensoren oder in der Quanteninformationstechnologie.


Science 10 January 2014: Krauser et al., vol. 343 no. 6167 pp. 157-160 'Giant spin oscillations in an ultracold Fermi sea':
https://www.sciencemag.org/content/343/6167/157.full

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Quelle:
Pressemitteilung vom 10. Januar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2014