Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → TECHNIK

ROBOTIK/071: Das Ende eckiger Roboterbewegungen (Uni Bielefeld)


BI.research 38.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Das Ende eckiger Roboterbewegungen
Gelenke und Muskeln technisch nachkonstruiert

von Sabine Schulze


Reines Nachahmen der Natur - "das bringt nicht viel", sagt Dr. Axel Schneider. Der Ingenieur will die Natur verstehen, die wahren Hintergründe begreifen. Wenn er Gelenke und Muskeln nachbaut, interessiert er sich daher nicht nur für die Biomechanik, er will auch die Regelungs"technik" begreifen und fragt sich, warum die Evolution sie so und nicht anders ausgeprägt hat. Biologisch inspirierte Regelungskonzepte in technische Antriebe umsetzen - das ist das Metier des Wissenschaftlers, der an der Technischen Fakultät und am Exzellenzcluster CITEC der Universität lehrt und forscht. Schneider und seine Forschungsgruppe - vier Doktoranden, zwei Master- und zwei Bachelorstudenten - konzipieren unter anderem einen robusten sechsbeinigen Laufroboter, der eines Tages in unwirtlichem, für den Menschen womöglich sogar gefährlichem Terrain eingesetzt werden könnte.


Neurobionische Regelungstechnik

Hierfür muss das Team um den Ingenieur neben dem eigentlichen Roboter auch elastische Gelenkantriebe entwickeln, die sich muskelähnlich verhalten und neurobionisch geregelt sind. Die von Schneider und seinen Kollegen konzipierten Antriebe sind klein und robust, haben ein geringes Gewicht und verfügen über die notwendige Rechnerleistung, um geschmeidig zu reagieren. "Die Rechenleistung in den Antrieben erlaubt die Simulation von Muskeln. Der Antrieb erzeugt dann die gleichen Drehmomente, die von realen Muskeln in den Gelenken erzeugt würden. Dies führt dann zu natürlichen Bewegungen", erklärt Schneider. Eine Feder als Muskelersatz - das ist für ihn nicht ausreichend: "Die Kraft, die von einem Muskel erzeugt wird, hängt nicht nur von seiner momentanen Länge, sondern auch von seiner Bewegungsgeschwindigkeit und weiteren Parametern ab."

Momentan würden bis zu vier Muskeln für ein Gelenk angenommen, um die Gelenkelastizität und das Drehmoment unabhängig voneinander zu verändern. "Und da die Antriebe Muskelmodelle enthalten, verstehen sie auch die 'Muskelsprache'." Über ein eigens entwickeltes Bussystem können später Biosignale direkt an den Antrieb verschickt und von ihm interpretiert werden. Und weil solch ein Motor, so klein er auch ist, aus vielen Teilen besteht, müssen Schneider und seine Forschungsgruppe ihn so ansteuern, dass seine mechanischen Eigenheiten nicht die beabsichtigte Muskelwirkung überdecken. "Wir müssen den technischen Antrieb quasi durch die Regelungstechnik unsichtbar machen, um die Muskelwirkung hervortreten zu lassen", erklärt der Ingenieur. Dazu haben die Wissenschaftler das komplette mathematische Modell eines Antriebs erstellt, jedes Teil definiert und den Motor komplett charakterisiert.


Anwendungsmöglichkeit Prothetik mit Mikroantrieb

Elektronik, Elektromotor, Getriebe, Sensoren, Software - alles müssen die Tüftler im Griff haben. Sie konstruieren am Bildschirm, drehen und kippen ihre Modelle, passen ein und müssen dabei auch immer Nachhaltigkeitsaspekte bezüglich der Fertigung im Auge behalten, bevor ihre Ideen umgesetzt werden. Schneider und sein Team sind stolz darauf, einen Antrieb entwickelt zu haben, der nur neun Zentimeter lang ist, einen Durchmesser von fünf Zentimetern hat und unter 400 Gramm wiegt; darin enthalten sind ein Getriebe, das 50 Gramm leicht ist, und ein Elektromotor mit 100 Gramm. "Das Verhältnis zwischen Leistung und Masse unseres Antriebs ist vergleichbar mit dem von Muskeln. Und weil die Antriebe flexibel sind, lässt man damit auch die eckigen, roboterhaften Bewegungen hinter sich."

Eine Anwendung, die jedem sofort einfällt, wäre die Prothetik. Und wirklich: Schneider will einen dynamischen Arm mit fünf oder sechs Motoren bauen. "Daran könnte man dann schnelle dynamische Bewegungen, wie zum Beispiel das Werfen, untersuchen." Sein Hintergedanke dabei: die neuronalen Netze kennenzulernen, die diese Bewegung ermöglichen. Neben den kraftvollen Antrieben hat das Team um Schneider aber auch noch Konstruktionen mit Mikroantrieben im Repertoire. Hierbei werden Piezomotoren von nur 20 Millimetern Länge verwendet, die Zugkräfte bis zu einem Kilogramm erzeugen können. Die kommerzielle Ansteuerelektronik für diese Antriebsart ist jedoch sehr groß. Hier mussten die Bielefelder Wissenschaftler ebenfalls eine neue, miniaturisierte Antriebs- und Regelungselektronik entwickeln, die bei einer Baufläche von etwas mehr als einem Kaugummistreifen gleich zwei dieser Mikroantriebe ansteuern kann. Die Mikroantriebe verhalten sich wiederum so wie Muskeln und können als antagonistisches System (Spieler und Gegenspieler) natürliche Gelenkbewegungen erzeugen. "Wir zielen damit auf Anwendungen im Bereich Mikrogreifen, zum Beispiel auch in medizinischen Anwendungen", sagt Schneider. Dass die neu entwickelte Elektronik die Antriebe außerdem achtmal schneller macht als das Kauf-Modell, ist ein angenehmer Nebeneffekt.


Das gemeinsame dicke Brett

Mit Maschinenbau und Elektronik bio-inspirierte künstliche Gelenke "ans Laufen" zu bekommen, das treibt Axel Schneider an. Weil die biologisch inspirierte Regelungstechnik nach wie vor eine Herausforderung ist, will der Ingenieur nun die neuronalen Netze begreifen. "Eine Herausforderung bei dieser Arbeit ist, dass man in allen Bereichen pfiffig sein muss. Wir müssen neben der biologisch inspirierten Lösung immer auch zeigen, dass wir die technologischen Standards beherrschen." Ein Luxus an der Universität ist für ihn, dass er sich auch Dingen widmen kann, die vielleicht gerade nicht en vogue und prompt profitabel sind, von denen aber auch die Industrie in einigen Jahren profitieren wird. Aus diesem Grund pflegt Schneider schon jetzt engen Kontakt auch zu ostwestfälischen Unternehmen, um dort mit ersten Projekten den Weg für die Innovationen von morgen zu ebnen. Wenn dann am Ende gleichwohl ein Bauteil steht, das auf Anhieb funktioniert oder patentverdächtig ist, kommt Stolz auf. "Muskeln und ihre Regelung hat die Evolution parallel entwickelt. Wenn man dieses biologische Prinzip in die Technik umsetzen will, muss man das gesamte System betrachten und verstehen, warum es sich so und nicht anders entwickelt hat." Schneiders Werdegang spiegelt sein umfassendes, grenzübergreifendes Interesse: Der Elektrotechniker wurde Elektroingenieur, der dann auch noch Informatik studierte und in biologischer Kybernetik promovierte. Auch darum fühlt er sich am Exzellenzcluster so wohl: "Hier arbeiten wirklich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen vom Psychologen und Linguisten über den Informatiker und Ingenieur bis hin zum Biologen und Physiker zusammen an einem Thema: Am ende geht es immer um Kognition. Wir bohren gemeinsam ein dickes Brett."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Seite 35:
Axel Schneider ist Spezialist für die Konstruktion künstlicher Gelenke und Muskeln für Roboter.

Seite 36:
Klein und kräftig: Weniger als 400 Gramm wiegt der Antrieb, den die Forschungsgruppe entwickelt hat.

Seite 37:
Vorbild Stabheuschrecke: Axel Schneider und seine Forschungsgruppe entwickeln einen Laufroboter mit elastischen Antrieben.

Seite 37:
Nicht viel größer als ein Kaugummistreifen: Mit der neu entwickelten Antriebs- und Regelungselektronik können die Mikroantriebe kontrolliert werden.


*


Quelle:
BI.research 38.2011, Seite 34-37
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Leitung: Ingo Lohuis (V.i.S.d.P.)
Anschrift der Redaktion:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
Telefon: 0521/106-41 46, Fax: 0521/106-29 64
E-Mail: bi.research@uni-bielefeld.de
Internet: www.uni-bielefeld.de/biresearch

BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2011