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ARTIKEL/386: Flucht/Asyl vs. Behinderung/Inklusion - Internationale Politikregime im Widerspruch (bezev)


Behinderung und internationale Entwicklung 2/2018

Flucht/Asyl vs. Behinderung/Inklusion:
Internationale Politikregime im Widerspruch

von Mathias Otten


Nationale und supranationale Asyl- und Migrationspolitik nehmen restriktive Veränderungen im Bereich der humanitären und politischen Maßnahmen für schutzbedürftige Individuen und Gruppen vor. Zur gleichen Zeit gibt es bereits bestehende internationale Bestimmungen (insbesondere EU- und UN-Regelungen), die sich auf am meisten gefährdete Geflüchtete richten, die vorrangig der Beachtung in Asylverfahren bedürfen. Geflüchtete mit Behinderung sind unter diesen schutzbedürftigsten Gruppen. Dieser Beitrag analysiert kritisch die politischen und gesetzlichen Widersprüche an der Schnittstelle zwischen Asylrecht und den Rechten von Menschen mit Behinderung.


Globale Herausforderungen und lokale Politik

Trotz der grenzbetonenden asylpolitischen Reaktionen in Deutschland und der EU auf die jüngsten Entwicklungen der Fluchtmigration seit 2015 ist davon auszugehen, dass Flucht als Migrationsgrund weltweit in den nächsten Jahren nicht abnehmen wird (UNHCR 2018). Nach wie vor werden die allermeisten (85%) der rund 68 Millionen weltweit Geflüchteten in Ländern des Globalen Südens, also außerhalb von Europa aufgenommen. Sie verbleiben in geografischer (und oft geopolitischer) Nachbarschaft zu den jeweiligen Kriegs- und Krisenherden und damit zumeist in armen Verhältnissen und schwierigen gesundheitlichen Bedingungen. Zugleich ringt die Europäische Union seit geraumer Zeit mit sich und den normativen Werten einer zeitgemäßen Asyl- und Migrationspolitik, einschließlich ihrer Bezugspunkte zu anderen (sozial-)staatlichen Prinzipien.

Aufgrund der komplexen ökonomischen, politischen und (völker-)rechtlichen Rahmenbedingungen ist es schwierig, das Schnittstellenthema Flucht/Behinderung in einem einheitlichen konzeptionellen Deutungsrahmen zu interpretieren. Die Situation in großen Massenlagern, etwa in Jordanien (z.B. Zaatari[1]) oder Bangladesch (z.B. Cox Bazar[2]) ist für Menschen mit Behinderungen vollkommen anders, als etwa in einer Kleinstadt in Europa. Wenn im Folgenden primär auf die Situation von geflüchteten Menschen mit Behinderung in Deutschland und Europa eingegangen wird, so geschieht dies vor allem vor dem Hintergrund der Reichweite der jeweiligen nationalen und internationalen Gesetzesregelungen, die auf der einen Seite Asyl und auf der anderen Seite Inklusion als so genannte international policy regimes betreffen. Sie sollen in diesem Beitrag als ein wirkmächtiger und keineswegs widerspruchsfreier rechtlicher Handlungsrahmen diskutiert werden.

Existenzielle Subjekterfahrung und politische Objektform

Auf der sozialen Phänomenebene muss zunächst jede Form der unfreiwilligen Migration (forced migration) einer Einzelperson oder einer sozialen Gruppe als ein Fluchtphänomen betrachtet werden. Flucht ist insofern zunächst einmal unabhängig von den konkreten Umständen, die zur erzwungenen Migration führen, der Art und Form des internationalen Grenzübertritts und der weiteren völkerrechtlichen, juristischen und asylpolitischen Einordnung (Spinks 2013). Das heißt, es wird hier zunächst von der existenziellen Subjekterfahrung der Flucht aus einer unverschuldeten Bedrohungssituation ausgegangen, die erst durch unterschiedlichste politische, ökonomische und rechtliche Bedingungen, Regelungen und Instrumente in eine bestimmte rechtliche Objektform gebracht wird (vgl. Frings 2017: 95). Daraus ergeben sich dann Konstruktionen kategorialer Unterscheidungen, z.B. die Differenzierung von legitimen und illegitimen Flucht- und Asylgründen, die Beurteilung von Herkunftsstaaten als sicher oder unsicher, oder eben die Unterscheidung von einer relativen und einer besonderen Schutzbedürftigkeit.

Juristisch wird diese Differenzierung insofern bedeutsam, als die Eigenschaft als Flüchtling nach Rechtsauffassung der Michigan Guidelines (Markard 2017) "deklaratorisch" ist: "Eine Person wird 'Flüchtling', sobald sie die Kriterien der Flüchtlingsdefinition der Konvention [Genfer Flüchtlingskonvention; M.O.] erfüllt, nicht erst wenn der Flüchtlingsstatus formal zuerkannt wird" (Markard 2017: 328).

Aus der analytischen Differenzierung von existenzieller Subjekterfahrung und politisch-rechtlicher Objektform erklären sich die verwendeten Begriffspaare: Flucht meint das soziale Phänomen als eine individuelle oder kollektive Erfahrung, während Asyl ein darauf reagierendes politisch-rechtliches Antwortinstrumentarium bezeichnet. Beides gehört sinn- und sachlogisch zusammen. Ähnlich gilt das für das Begriffspaar Behinderung/Inklusion, indem nämlich Behinderung als Begriff die individuelle oder kollektive sozialphänomenologische Erfahrungsform fokussiert und Inklusion als eine darauf bezogene politisch-rechtliche bzw. öffentlich-diskursive Werte- und Gestaltungsantwort der Gesellschaft verstanden werden kann. Eine dauerhafte Beeinträchtigung/Behinderung ist einer von verschiedenen Gründen für eine besondere Schutzbedürftigkeit, die in der Verwaltung von Asylverfahren und der praktischen Bewältigung von Fluchtprozessen zu berücksichtigen sind, weil Menschen mit Behinderungen zu den "most vulnerable groups" zählen[3] (Crock et al. 2017).

Diese Herangehensweise erscheint deshalb besonders geboten, weil die notwendigerweise extrem komplexe Verrechtlichung des Flucht- und Asylgeschehens, einschließlich jener Regelungen und Praxen, die im Fall der Anerkennung des Asylgrundes (und mehr noch im Fall der Ablehnung) aktiviert werden, sehr stark dazu tendieren, die konkreten lebensbiografischen Besonderheiten des individuellen Schicksals hinter den behördlichen Kategorisierungsprozeduren in den Hintergrund zu schieben (Lahusen/Schneider 2017). Dies gilt - in abgemilderter Form - übrigens auch für die Formen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe, die in weiten Teilen auf (Teilhabe-)Bedarfsfallkonstruktionen basiert, mittels derer ein individuelles Leben mit subjektiven (Teilhabe-)Bedürfnissen in einen abstrakt bemessbaren (Teilhabe-)Bedarf überführt werden muss (Schäfers/Wansing 2016).

Mangel an Daten und an Problembewusstsein

Trotz internationaler Grundsätze und Instrumente zur Identifikation und Statusfeststellung der näheren Fluchtumstände gibt es bislang keine verlässlichen Informationen darüber, wie hoch der Anteil von Menschen mit Behinderungen unter den Geflüchteten auf der Route oder im jeweiligen Aufnahmeland ist. So weist z.B. Simmons darauf hin:

"Current literature suggests that data on disabilities among refugee and IDP [internally displaced persons, M.O.] communities are often uncollected or unknown by the larger NGOs and UN agencies that are providing the bulk of relief services. Standard procedures such as rapid assessments and registration processes often do not include collection of information specific to the circumstances, needs and presence of refugees and IDPs with disabilities. In cases of armed conflict or natural calamity, this 'invisibility' can be fatal" (Simmons 2010: 10).

Das gilt bislang auch für Deutschland: Weder der deutschen Bundesregierung noch den Bundesländern bzw. dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als zuständiger Behörde liegen genaue Daten vor, da die amtliche Asylbewerberleistungsstatistik den Behindertenstatus nicht gesondert erhebt (Schülle 2017). Es gibt jedoch seit Längerem Einschätzungen von Expertinnen und Experten, dass der Anteil von Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen unter den Asylsuchenden hoch ist und solche Beeinträchtigungen eindeutig als Grund besonderer Schutzbedürftigkeit zu beachten sind (Schröder 2013; Zinsmeister 2017). Hilfsorganisationen schätzen, dass zehn bis 15 Prozent aller Geflüchteten weltweit eine behinderungsbedingte bzw. medizinisch induzierte besondere Schutzbedürftigkeit haben, wobei hier die psychischen Erkrankungen infolge von Flucht, Folter und Verfolgung nicht eingerechnet werden (Helpage International/Handicap International 2014; Schwalgin 2014; Skinner 2014; Turhan 2016).

Hilfsorganisationen schätzen, dass zehn bis 15 Prozent aller Geflüchteten weltweit eine behinderungsbedingte bzw. medizinisch induzierte besondere Schutzbedürftigkeit haben.

Ohne eine systematische Erhebung und Dokumentation der realen Beeinträchtigungen werden geflüchtete Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Strukturen und Abläufe von Asylverfahren und Behindertenhilfe oftmals unsichtbar gemacht (Roberts 2000; Straimer 2010; Soldatic et al. 2015; Ertik 2017; Schülle 2017). Das hat auch damit zu tun, dass die Phänomene in Politik, Praxis als auch in der wissenschaftlichen Forschung nur selten zusammen gedacht werden, wie Pisani/Grech (2015b) betonen:

"Despite the scale of forced human movement, the reality is that disability and forced migration are rarely put together, in policy, research and practice. They are two parts of a different equation by those theorising and those working in practice, whether in humanitarian issues, development, international relations, politics and even disability studies" (Pisani/Grech 2015: 422).

Deshalb wäre ein systematisches und international koordiniertes Vorgehen zur Identifizierung und Weiterleitung des realen, für die Betroffenen relevanten (medizinischen) Versorgungsbedarfs der naheliegendste erste Schritt, so wie ihn auch die WHO fordert (Alderslade 2016). Für Deutschland haben das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und UNICEF[4] Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften formuliert, die 2017 in einer Neufassung auch Leitlinien zum Schutz von Geflüchteten mit Behinderungen und geflüchteten Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung enthalten (BMFSFJ/UNICEF 2017). Die verbindliche rechtliche und praktische Umsetzung dieser Standards steht allerdings immer noch aus.

Der Policy Regime-Ansatz

Lokale, nationale und supranationale politische Systeme sind maßgeblich an der Herstellung politischer Handlungsbedingungen und Problemsituationen im Kontext Asyl/Inklusion beteiligt (Wansing/ Westphal 2018). Migration ist dabei kein Gegenstand exklusiver nationaler Außenpolitik, sondern seit jeher einer von "Weltinnenpolitik" (Beck 2010), die in internationale Politik-Arrangements eingebettet ist, sei es im Modus der Kooperation und Koexistenz oder der Konfrontation und des Konflikts. Ebenso ist Behinderung kein Gegenstand der Innenpolitik, sondern entfaltet erst vor dem Hintergrund historischer, politischer und kultureller Grenzüberschreitungen und Deutungstransformationen seinen vollen Bedeutungssinn.

Für ein differenziertes Verständnis der politisch-rechtlichen Ausgestaltung und systemischen Funktionsweisen spezifischer, international eingebetteter Politikfelder - hier Flucht/Asyl auf der einen Seite und Behinderung/Inklusion auf der anderen Seite - bietet sich der politikwissenschaftliche Policy Regime Ansatz (Keohane 1982) als Analysemodell an. Als internationales Regime bezeichnet man zunächst ganz allgemein "die internationale Regelung von Konflikten und Problemen in einem sachlichen (nicht immer auch geografischen) begrenzten Gebiet" (List et al. 1995: 71). Ein Policy Regime bezieht sich auf die politisch-rechtliche Objektform, abstrahiert also notwendigerweise von konkreten Subjekterfahrungen und Einzelfällen und übersetzt diese in einen politischen Gestaltungsprozess. Im Fall des Zusammentreffens von Flucht/Asyl einerseits und Behinderung/Inklusion andererseits handelt es sich - entgegen der lebensweltlichen Logik eines für die betroffenen Menschen untrennbaren subjektiven Erfahrungs- und Sinnzusammenhangs - aus der Perspektive der regimebasierten Politikanalyse um zwei verschiedene politisch-rechtliche Handlungskontexte bzw. um zwei separate politische Subregime.

Nach Wilson (2000) lassen sich drei Dimensionen/Merkmale eines Regimes differenzieren: Politik-Paradigma (policy paradigm), Machtkonstellation (power arrangement) und Organisationsarrangement (organisational arrangement): Das Politik-Paradigma prägt die Art und Weise, wie ein Problem thematisch-politisch definiert und zu einem allgemeinen öffentlichen Politikanliegen wird. Als Machtkonstellation (power arrangement) bezeichnet Wilson das spezifische Wirken und Zusammenspiel einflussreicher Akteure, die mit ihren Mitteln das Agenda-Setting zu einem Themenfeld beeinflussen, z.B. durch Formen der politischen Konfliktaustragung, öffentlicher Meinungsbildung oder strategische Kooperationen. Das Organisationsarrangement betrifft schließlich die konkreten Umsetzungs- und Implementierungsformen für die im Politik-Paradigma fokussierten Ziele und Visionen. Für beide Subregime lassen sich diese drei Merkmale identifizieren.

Die UN Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz UN-BRK) hat einen kaum zu ignorierenden internationalen Impuls gesetzt, der Teilhabe für alle menschenrechtsbasiert fundiert und einfordert. Zwar finden sich die Begriffe Flucht bzw. Asyl nicht explizit im Wortlaut der UN-BRK, was aber nach allgemeiner Auffassung keineswegs den Schluss zuließe, dass diese Phänomene nicht mitgemeint seien. Betrachtet man den Entstehungskontext der Konvention, wird ersichtlich, dass die Regelungen nicht nur als Rechte der Bürgerinnen und Bürger eines Staates gegenüber diesem Staat gemeint sein können, sondern als Konkretisierung allgemeiner Menschenrechte sei (vgl. Conte 2018). Artikel 18 der UN-BRK über Freizügigkeit und Staatsangehörigkeit legt es nahe, dass die grenzüberschreitende Geltung der Rechte von vornherein gemeint und geschützt ist, und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen die Emigration bzw. Immigration resultiert. Mehr noch: Flucht vor Verfolgung, Not und kriegsbedingten Gefahren für Leib und Leben sollten im Sinne einer intentionsgemäßen Auslegung der UN-BRK gerade eine besondere Legitimität für die Inanspruchnahme dieser Rechte außerhalb des eigenen Landes darstellen. Spätestens wenn geflüchtete Menschen mit Behinderung als AsylbewerberInnen registriert und anerkannt oder auch nur geduldet sind, kommen sie mit vielen Teilsystemen des Wohlfahrtsstaates und den dort relevanten Inklusionsansätzen in Berührung. Allein das würde es nahelegen, sich der Schnittstelle von Flucht und Behinderung zu widmen und nicht auf die lebensweltferne Trennung beider Systeme zu bauen.

Für die Asylpraxis im Allgemeinen und die besondere Schutzbedürftigkeit aufgrund von Behinderung im Speziellen ist die Relevanz internationaler Regelungen offenkundig, nicht zuletzt wenn es darum geht, Migration zum "Objekt des Regierens" zu machen (Müller 2010; Hess et al. 2015). Das wichtigste und umfassendste internationale Abkommen zur Asylpolitik ist die sogenannte "Genfer Flüchtlingskonvention" (GFK) der UN von 1951/1967. Auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union gibt es ebenfalls eine "Koordination" der Migrations- und Asylpolitik der Mitgliedsstaaten (als Überblick: Engler/Schneider 2015). Allerdings stehen die humanitäre Legitimität, die funktionale Wirksamkeit und die politische Steuerbarkeit dieser Politik seit geraumer Zeit und besonders seit 2015 massiv in Frage. Obwohl die Bindung an internationale Vorgaben den einzelnen Mitgliedsstaaten Grenzen in einer übermäßig restriktiven nationalen Asylpolitik setzen sollten (Engler/Schneider 2015), wird dies mittlerweile sehr unverhohlen und als offene EU-Rechtsverweigerung durch zahlreiche Staaten unterlaufen[5].

Trotz dieser offenkundigen Steuerungsdefizite supranationaler Politik gilt: Innerhalb der EU wird die Aufnahme und Leistungserbringung gegenüber Geflüchteten und die spezifische Situation von Menschen mit Behinderungen in einer rechtsverbindlichen EU-Richtlinie 2013/33 näher geregelt, der sogenannten "Aufnahmerichtlinie" (AufnahmeRL).

"Gemäß Art. 19 Abs. 2 RL 2013/33/EU ist Antragstellern mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung zu gewähren. Diese Bestimmungen der EU-Aufnahmerichtlinie sind seit 21.7.2015 unmittelbar geltendes Recht, auf dass sich die Leistungsberechtigten gegenüber den Verwaltungsträgern berufen können (Art. 31 Abs. 1 RL 2013/22/EU)" (Zinsmeister 2017: o.S.).

Schülle (2017) kommt für Deutschland allerdings zu dem Ergebnis, dass sich die Entscheidungspraxis zu Asylbewerberleistungen für geflüchtete Menschen mit Behinderung bislang ausschließlich am restriktiven bundesdeutschen Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) orientiert, ohne die EU-Aufnahmerichtlinie und die dort verankerte Einzelfallwürdigung anzuwenden. Noch wesentlich prekärer als für AsylbewerberInnen stellt sich die Situation für geflüchtete Menschen ohne gültige Papiere und ohne legalen Aufenthaltsstatus dar, denn sie sind faktisch vom Gesundheitssystem in Deutschland ausgeschlossen (Mylius 2016). Medizinische Hilfe wird für diese Personen i.d.R. nur über freiwillig engagierte Ärzte und Gesundheitsfachkräfte geleistet, z.B. im medinetz bzw. den medibueros[6].

Fazit

Mit Hilfe des Policy Regime-Konzepts lässt sich aufzeigen, wie durch unterschiedliche Regimelogiken gewisse Widersprüche von Inklusions- und Exklusionszielen hervorgerufen werden. Der (Sozial-)Staat präsentiert sich in den beiden Politik-Subregimen mit unterschiedlichen Rollen: Auf der einen Seite operiert er nach dem Grundprinzip Inklusion, auf der anderen Seite nach dem Prinzip der Exklusion. In der Perspektive der Kategorisierung Behinderung tritt der Wohlfahrtsstaat gegenüber seinen BürgerInnen mit Zusicherung bzw. Inaussichtstellung von rechtlich mehr oder minder klar definierten Leistungen zur Teilhabe und Nachteilsausgleichen auf. In der Perspektive der Kategorisierung Migration und spezifischer Fluchtmigration tritt indessen zuerst der Nationalstaat gegenüber den Nicht-BürgerInnen mit der Einschränkung oder Verweigerung von Sozialleistungen aufgrund nicht-deutscher Staatsangehörigkeit auf (Weiser 2016). Die Verwehrung von bestimmten Hilfen und Sozialleistungen, die prinzipiell in der Gesellschaft vorhanden und möglich wären, wird also nicht auf der Basis einer allgemeinen Bedarfseinschätzung oder nach prinzipieller Ressourcenverfügbarkeit entschieden, sondern zu allererst auf der Grundlage des staatsbürgerlichen Mitgliedschaftsstatus (zur Kritik siehe u.a. Cassee 2017; Schulze Wessel 2017).

Yeo (2015) spitzt dieses Problem des staatlichen Einschlusses von BürgerInnen und des Ausschlusses von anderen Menschen noch weiter zu: bürgerrechtliche Ausschließungen aufgrund prekärer oder gar illegalisierter Migration führen dazu, dass die betroffenen Personen bzw. derart pauschalisierte Personengruppen zu "gescheiterten Bürgern" bzw. "Nicht-Bürgern" gemacht werden: "The primacy of a restrictive asylum-regimes of most European/western countries which ignore other valid international legislation lead to a conceptions of disenfranchised individuals and groups - or to put it more clearly - to a concept of 'Failed citizens' and 'Non-citizens'" (Yeo 2015: 526).

Die skizzierten Regime-Logiken der Asylpolitik und Inklusionspolitik zeigen, wie sehr die Zugänge und Möglichkeiten einer bedarfsgerechten Grundversorgung von der Beurteilung und Kategorisierung des Einzelschicksals abhängen. Das betrifft schon jedes Subsystem für sich allein und führt in ihrem Zusammentreffen zu einer Überlagerung von Kategorisierungsentscheidungen, die oft widersprüchliche Situationen erzeugen (für ein konkretes Fallbeispiel vgl. Lebenshilfe Berlin 2015). So lange eine auf Bürgerschaft und Staatszugehörigkeit basierende Wohlfahrtspolitik einer menschenrechtsbasierten (Sozial-)Politik quasi vorgeschaltet bleibt, untergräbt dies eine inklusive Asylsozialarbeit. Die politische Relativierung eines universalen Inklusionsparadigmas durch eine asylrechtliche Exklusionspraxis verhindert, dass AsylbewerberInnen überhaupt den Weg in die Regelberatungsleitungen der Behindertenhilfe finden. Sie verbleiben stattdessen über längere Zeit in dem Sondersystem Asylbewerberleistungen, wo eine den jeweiligen Bedürfnissen angemessene medizinische Versorgung und Eingliederungshilfe stark eingeschränkt wird.

Die noch karge Forschung und Literatur zum internationalen Diskurs (z.B. Ambrosini 2015, Blanchet et al. 2016, Shpigelman/Gelkopf 2016, Crock et al. 2017, BMAS 2017) zeigt, dass in vielen europäischen und außereuropäischen Aufnahmeländern bislang ein erhebliches Vollzugsdefizit bei der Umsetzung und Ausschöpfung geltender internationaler Verpflichtungen im Interesse von Menschen mit Behinderung in Fluchtkontexten zu erkennen ist (Conte 2018). Zur Realität des Bekenntnisses internationaler Institutionen (WHO 2016; Alderslade 2016, UNHCR 2018) für eine bessere medizinische Versorgung von Personen mit besonderem Schutzbedarf ist es nicht nur auf nationaler Ebene noch ein weiter Weg.


ANMERKUNGEN

[1] Vgl. das Radio-Feature von SWR2 Wissen:
https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/zaatari-jordaniens-groesstesfluechtlingslager/-/id=660374/did=21050514/nid=660374/1qfikyq/index.html.

[2] Vgl. die Reportage von Thembi Wolf in der der ZEIT vom 16.06.2018:
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-05/rohingya-fluechtlinge-bangladesch-coxs-bazar.

[3] Das UN Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) erklärt die Verbesserung der Situation von besonders gefährdeten Gruppen 2016 explizit zu einem seiner Leitziele:
http://www.unhcr.org/ceu/8238-en-what-we-docaring-for-the-vulnerablecaring-for-the-vulnerable-in-asylum-html.html.

[4] UNICEF ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund).

[5] Vgl. hierzu den Artikel Europas Flucht vor der Realität von Andre Böhm in der ZEIT vom 6.7.2018.

[6] http://medibueros.m-bient.com/startseite.html.


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ZINSMEISTER, J. (2017): SGB IX Teil II Kapitel 2 Grundsätze der Leistungen, In: DAU, D./DÜWELL, F. J./JOUSSEN, J. (Hrsg.): Sozialgesetzbuch IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, 5. Auflage, Baden-Baden: Nomos, Randnummer 12.

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Quelle:
Behinderung und internationale Entwicklung
29. Jahrgang / Ausgabe 2/2018, S. 4-10
Schwerpunkt: Migration, Flucht und Behinderung
Hrsg.: Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.
Altenessener Straße 394-398, 45329 Essen
Telefon: +49 (0)201/17 89 123, Fax: +49 (0)201/17 89 026
E-Mail: info@inie-inid.org
Internet: www.zeitschrift.bezev.de
 
Für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Zeitschrift im Internet erhältlich: www.zeitschrift.bezev.de
 
Die Zeitschrift Behinderung und internationale Entwicklung ist eine Publikation des Instituts für inklusive Entwicklung.
Das Institut wird getragen von Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.(bezev).


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2018

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