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ARBEIT/1132: Beschluss des SPD-Parteivorstands - Die Arbeitswelt der Zukunft gestalten


SPD-Pressemitteilung vom 19. Oktober 2015

Beschluss des SPD-Parteivorstands: Die Arbeitswelt der Zukunft gestalten - Leitlinien einer modernen sozialdemokratischen Arbeitspolitik


Auf seiner heutigen Sitzung hat der SPD-Parteivorstand folgenden Leitantrag für den Bundesparteitag im Dezember 2015 in Berlin beschlossen:


I. Einleitung

In Deutschland hat Arbeit Hochkonjunktur. Die Zahl der Erwerbstätigen ist mit über 43 Millionen auf Rekordniveau. Besonders stark ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gestiegen, zugleich ist die Zahl der Minijobs gesunken. Die Lohnentwicklung zeigt nach oben, vor allem aufgrund guter Tarifabschlüsse der Gewerkschaften und der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns.

Frauen haben deutlich mehr Anteil an der Erwerbsarbeit als noch vor einigen Jahren. Wirklich gerechte Teilhabe werden wir jedoch erst erreichen, wenn Frauen nicht mehr in unfreiwilliger Teilzeit fest stecken, Arbeit gerecht entlohnt wird, Führungsfunktion gleichermaßen von Frauen und Männern besetzt werden und wir eine wirklich partnerschaftliche Arbeitsteilung haben.

Ältere bleiben länger im Beruf, auch das ist ein echter Erfolg. Gegenüber dem Jahr 2000 ist die Erwerbstätigenquote der 60-64-jährigen von knapp 20 Prozent auf über 52 Prozent gestiegen. Mit der Ermöglichung des um zwei Jahre vorgezogenen, abschlagfreien Renteneintritts nach 45 Beitragsjahren setzen wir ein wichtiges Zeichen der Anerkennung für (oft körperlich belastende) Lebensleistung.

Mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro haben wir ein neues soziales Recht geschaffen und die weitere Abkopplung vieler Arbeitnehmer vom gesellschaftlichen Wohlstand gestoppt. Die künftigen Anpassungen des Mindestlohns obliegen einer Kommission, in der die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vertreten sind.

Unsere Gesellschaft bleibt eine Arbeitsgesellschaft, in der sich aus der Erwerbsarbeit Identifikation, soziale Stellung, Einkommens-, Teilhabe - und Lebenschancen der Menschen ergeben. Diese Arbeitsgesellschaft befindet sich in einem steten Wandel. Der sich unter der Globalisierung verschärfende ökonomische Wettbewerb sowie beständige technologische Innovationen, digitale Vernetzung, heterogene Lebensentwürfe und eine wachsende Vielfalt der Beschäftigungsformen bilden neue Herausforderungen für die soziale Gestaltung der Arbeitsgesellschaft. Eine zunehmende Zahl der Menschen erlebt den Wandel der Erwerbsbiographien ganz praktisch. Ihre Erwerbstätigkeit ist von einem Wechsel zwischen abhängiger Beschäftigung, selbständiger Tätigkeit und Phasen der Familienarbeit oder Nichterwerbstätigkeit bestimmt.

Doch alte und neue Herausforderungen liegen noch vor uns. Das Prinzip der Guten Arbeit ist noch längst nicht überall realisiert. Megatrends wie die Digitalisierung und der demografische Wandel werden die Arbeitswelt weiter verändern. Mit der Vorlage eines Grünbuchs "Arbeiten 4.0" hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles einen wichtigen Beitrag geleistet, Trends frühzeitig zu erkennen und den gesellschaftlichen und sozialpartnerschaftlichen Dialog über die Arbeitswelt der Zukunft zu führen. Der SPD-Parteivorstand und die SPD-Bundestagsfraktion arbeiten intensiv an Konzepten der Arbeitswelt von morgen.


II. Digitalisierung, Demografie, Diversität: Arbeit im Wandel

Mit dem Wandel von Technik, Wirtschaft und Gesellschaft wird sich auch die Arbeitswelt verändern, so wie seit der ersten industriellen Revolution das Arbeiten in der Landwirtschaft, der Industrie und dem Dienstleistungssektor einem stetigen Wandel unterworfen war.

Ausgehend von den bisherigen Wellen der industriellen Entwicklung ist derzeit von einer Arbeitswelt 4.0 die Rede, die wiederum auch Arbeit außerhalb des produzierenden Gewerbes umfasst. Doch wie die Industrie 4.0 und erst Recht die Arbeitswelt 4.0 aussehen werden, ist nicht nur Ergebnis technologischer Entwicklungen. Über die Quantität und Qualität der Arbeit entscheiden maßgeblich auch historisch gewachsene Institutionen, soziale Rechte sowie betriebliche, tarifliche und politische Aushandlungsprozesse. Deutschland verfügt mit seinem Arbeits- und Sozialrecht, der Mitbestimmung und der Sozialpartnerschaft über wichtige Voraussetzungen, um den Wandel konstruktiv zu gestalten. Es sind drei wesentliche Entwicklungen, die wir bei der Gestaltung der Arbeitswelt von morgen in den Blick nehmen müssen:

1. Digitalisierung und Globalisierung

Digitalisierung ist eines der Megathemen unserer Zeit. Sie ist längst ein wesentlicher Treiber für wirtschaftlichen Erfolg, Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Industrie 4.0 steht für die Weiterentwicklung der deutschen Kernbranchen im Hinblick auf eine digital vernetzte Produktion. Produkte, Dienstleistungen und Produktionsprozesse werden "smarter", d.h. immer vernetzter und zunehmend selbststeuernd. Die digitale Transformation von Produktion, Arbeit und Konsum wird in den nächsten Jahren voranschreiten. Mit der Digitalisierung verändert sich auch die globale Arbeitsteilung. Wichtige Voraussetzung unseres Wohlstands ist, dass unsere Kompetenzen und spezifischen Wettbewerbsvorteile auch im digitalen Zeitalter bestehen bleiben. Digitale Arbeit steht dabei für eine Reihe von Entwicklungen:

  • Neue Möglichkeiten der Automatisierung von menschlichen Tätigkeiten angesichts enormer Fortschritte zum Beispiel im Bereich der Robotik und der künstlichen Intelligenz,
  • Die Vernetzung von Mensch, Maschinen und Produkten im Zuge neuer, digital vernetzter Produktionsprozesse (so genannter cyber-physischer Systeme) und damit einhergehend die Entstehung und Nutzung großer Datenmengen (Big Data) und die Gestaltung der Arbeitsorganisation;
  • Die Modernisierung von Unternehmen und Arbeitsorganisation und die Chance auf mehr Beteiligung und Demokratie;
  • Die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle (u.a. Plattformen), die Verdrängung etablierter Anbieter und die Entstehung neuer Monopolisten mit enormer Marktmacht;
  • Neue Chancen für Selbstständige, Start-Ups und Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer, innovative Lösungen zu entwickeln und Plattformen für spezielle Nischenangebote oder Kreativ- und Kulturangebote zu nutzen;
  • Die Zunahme von (Solo-)Selbstständigkeit und neuer Erwerbsformen wie Crowdwork.
  • Neue Optionen, räumlich und zeitlich flexibler zu arbeiten.

Diese Entwicklungen vollziehen sich nicht überall und schon gar nicht im gleichen Tempo. Neue Erfindungen und technische Revolutionen haben bisher nie das Ende der Arbeit gebracht. Auch in Zukunft wird uns die Arbeit nicht ausgehen. Denn die derzeitige Debatte um die Automatisier- und somit Ersetzbarkeit zahlreicher Berufe und Tätigkeiten wird von der Frage der technologischen Machbarkeit bestimmt. Nicht alles aber, was technisch machbar ist, wird auch gemacht - oft stehen schon rein betriebswirtschaftliche Erwägungen einer Substitution menschlicher Arbeitskraft entgegen. Und auch dort, wo Tätigkeiten durch Maschinen ersetzt werden, wird es weiter qualifizierte Beschäftigte brauchen, die mit ihrem Erfahrungswissen zunehmend komplexer werdende Systeme überblicken, situativ mit Unwägbarkeiten umgehen und selbstorganisiert Probleme lösen können.

Die Digitalisierung hat das Potential, Arbeit besser zu machen. Sie kann mehr selbstbestimmte Flexibilität, mehr Autonomie über Zeit und Ort der Arbeit ermöglichen. Ebenso besteht die Chance, körperlich und psychisch belastende Arbeit durch Technik zu ersetzen oder auch unnötige Wege- und Reisezeiten zu vermeiden. Neue Technologien können die Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt erleichtern.

Demgegenüber stehen die Risiken der Digitalisierung, wie eine weitgehende Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, die Automatisierung von Tätigkeiten und Berufen, ohne dass die Arbeitnehmer frühzeitig weiterqualifiziert werden, die ständige Überwachung oder die Zunahme ungesicherter (schein-)selbstständiger Arbeit.

Entscheidend für gute digitale Arbeit sind vier Dinge: Erstens die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Einführung neuer Technologien sowie bei Veränderungen der Arbeitsorganisation, zweitens Chancen und Rechte auf berufliche Weiterqualifizierung, drittens die Anpassung von Schutzrechten, die sich aus Veränderungen in der digitalen Arbeitswelt ergeben und nicht zuletzt viertens eine Beschäftigungspolitik, die dazu beiträgt, dass die möglichen Produktivitätsgewinne über Investitionen, Löhne und Steuern zu neuen guten Arbeitsplätze in anderen Bereichen führen.

2. Demografie und Migration

Auch die demografischen Veränderungen haben erheblichen Einfluss auf die Arbeitswelt. Aktuellen Prognosen des Statistischen Bundesamtes zufolge wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um mehr als vier Millionen Personen bis zum Jahr 2030 abnehmen. Zwar wird die Zahl der Erwerbstätigen bis zum Jahr 2018 noch leicht ansteigen, anschließend aber sinken. In den kommenden zwei Jahrzehnten werden die "Babyboomer" in den Ruhestand gehen. Der Bevölkerung im Erwerbsalter stehen in den nächsten Jahrzehnten mehr Ältere, insbesondere mehr Hochbetagte, gegenüber - dies ist eine enorme Herausforderung für den Arbeitsmarkt und die Stabilität, Finanzierbarkeit und Verlässlichkeit der sozialen Sicherungssysteme.

Die Diskussion über den veränderten Altersaufbau der Bevölkerung wurde in den vergangenen Jahren sehr verengt auf die möglichen Auswirkungen auf unsere sozialen Sicherungssysteme geführt. Doch die Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherung hängt eng mit dem Arbeitsmarkt der Zukunft zusammen.

Die Sicherung des Fachkräftebedarfs ist eine zentrale Zukunftsaufgabe. Hierbei muss jedoch genauer unterschieden werden: Wer Vollbeschäftigung als Ziel formuliert und dieses anstrebt, darf ein knapperes Auswahlangebot für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht zugleich pauschal als "Fachkräftemangel" bewerten. Einen generellen Arbeitskräftemangel gibt es derzeit nicht. Allerdings gibt es bereits jetzt Engpässe in bestimmten Berufen und Regionen. Auch die weitere Entwicklung des Arbeitskräfteangebotes wird sich regional unterschiedlich vollziehen. Während die meisten Metropolregionen leicht gewinnen, werden ganze Regionen v.a. im Osten des Landes schrumpfen.

Die mobilisierbaren Fachkräfte-Potentiale im Inland liegen vor allem bei Frauen, älteren Beschäftigten und Niedrigqualifizierten. Der Zusammenhang zwischen Qualifizierungsanforderungen, familiengerechter sowie alterns- und altersgerechter Arbeitsgestaltung zeigt Gestaltungsbedarfe bei der Qualität der Arbeit auf. Der Arbeitsmarkt insgesamt und die verschiedenen Unternehmenskulturen müssen sich stärker als bisher für Frauen, Ältere, Menschen mit Migrationshintergrund sowie auch für Menschen mit Behinderungen öffnen. Längeres Arbeiten stellt neue und besondere Herausforderungen an den betrieblichen Gesundheitsschutz.

Zudem brauchen wir aktuell und in Zukunft Einwanderung. In den letzten Jahren hatten wir eine krisenbedingte Einwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern aus südeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Die aktuell hohe Zahl an Flüchtlingen nach Deutschland ist kurz- und mittelfristig eine enorme Herausforderung, die sich in vielen Politikfeldern zeigt, nicht zuletzt in der Integrations- und Arbeitsmarktpolitik. Langfristig kann die hohe Nettozuwanderung seit 2011 dabei helfen, die Bevölkerungsentwicklung zu stabilisieren und neue Impulse für wirtschaftliche Innovationen sowie gesellschaftliche Entwicklung zu setzen.

3. Flexibilisierung der Arbeit und gewandelte Ansprüche der Erwerbstätigen an Arbeit

In den letzten Jahrzehnten ist die Arbeitswelt in vielerlei Hinsicht flexibler geworden. Es gibt ein hohes Maß an interner Flexibilität in den Betrieben und externer Flexibilität (z.B. durch Leiharbeit), um auf Kundenanforderungen, Auftragsschwankungen und gesamtwirtschaftliche Krisen zu reagieren. Doch diese Flexibilität geht vielfach mit Arbeitsbedingungen einher, die nicht den Kriterien Guter Arbeit entsprechen. Atypische und prekäre Arbeitsformen haben ebenso zugenommen wie atypische Arbeitszeiten.

Für die allermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind eine gute Bezahlung, eine unbefristete Beschäftigung, die Sicherheit des Arbeitsplatzes und klar geregelte Arbeitszeiten, also wesentliche Elemente des klassischen Normalarbeitsverhältnisses, immer noch zentral. Diese Ansprüche gelten in besonderer Weise für prekär Beschäftigte, für die viele dieser Bedingungen nicht erfüllt sind.

Zugleich gewinnen Aspekte wie Zeitsouveränität, die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie die Beteiligung an Entscheidungsprozessen an Bedeutung. Vor allem der Wunsch, die Arbeitszeit und -belastung an die jeweilige Lebenssituation anzupassen, nimmt zu. Viele Frauen und Männer wollen eine partnerschaftliche Arbeitsteilung von Beruf und Familie - stoßen damit aber oft an die Grenzen der Machbarkeit. Insbesondere die mittlere Generation spürt die Doppelbelastung, einerseits eine Familie zu gründen und sich um diese zu kümmern und andererseits engagiert im Beruf sein zu wollen. Oft löst sich dieser Konflikt so auf, dass Männer in Vollzeit und Frauen in Teilzeit arbeiten. Während eine halbe Mio. Männer in Vollzeit ihre Arbeitszeit gerne reduzieren würden, selbst wenn sie dafür einen niedrigeren Verdienst in Kauf nehmen müssten, wünschen 1,2 Mio. Frauen in Teilzeit eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit.

Ebenso wächst der Wunsch nach mehr Autonomie und persönlicher Flexibilität. Viele Beschäftigte können mit starren und streng hierarchischen Führungsmodellen nichts mehr anfangen. Sie wollen beteiligt sein und mitbestimmen. Insbesondere Teile der jungen Generation und Erwerbstätige der Kreativ- und Wissensarbeit wollen sich nicht in das Korsett eines "9-to-5"-Tages im Büro zwängen, sondern freier entscheiden, wann und wo sie arbeiten. Auch der Wunsch nach einer selbstständigen Arbeit hat eine hohe Bedeutung.

Diversität ist in modernen Unternehmen ein wichtiges Thema. Auch sozialdemokratische Arbeitspolitik muss sich dieser Pluralität von Arbeitswirklichkeiten, Ansprüchen und Problemen von Frauen und Männern, Inländern und Migranten, der Berufsgruppen sowie Generationen stellen.


III. Gute Arbeit und neuer Flexibilitätskompromiss
Unser Leitbild: Gute Arbeit

Gute Arbeit als Leitbild setzt darauf, dass Arbeit existenzsichernd ist, möglichst auch tarifvertraglich geregelt. Gute Arbeit darf nicht krank machen. Gute Arbeit sollte den persönlichen Entwicklungs- und Zeitbedürfnissen entsprechen.

Das so genannte Normalarbeitsverhältnis (v.a. Vollzeit, unbefristet, sozialversicherungspflichtig) ist derzeit immer noch die Norm - sowohl statistisch, als auch hinsichtlich der Wünsche vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nicht alles was "atypisch" ist, ist zugleich prekär, vor allem dann nicht, wenn die Arbeit in Solo-Selbstständigkeit oder in Teilzeit dem individuellen Wunsch entspricht und in der Erwerbsbiografie nicht zu Sicherungslücken führt.

Darüber hinaus aber wollen wir prekäre Arbeit zurückdrängen. Der Rückgang der hohen Arbeitslosigkeit bietet hierzu auch eine realistische Chance. Dazu muss die gesamte Erwerbsbiografie in den Mittelpunkt gestellt werden: ungewollte Arbeit in einem Minijob, in Leiharbeit oder in Befristung sollte für Beschäftigte niemals eine Dauerlösung sein. Wichtig ist, dass es Brücken in reguläre Beschäftigung gibt. Niemand sollte in eine berufliche Sackgasse geraten. Hierzu gehört auch die Möglichkeit auf berufliche Weiterentwicklung. Jeder sollte das Recht auf eine gute Erwerbsbiografie haben, die beinhaltet, seinen Beruf auszuüben, seine Talente einzubringen und ausreichende Ansprüche auf Alterssicherung aufzubauen.

Belastend ist für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jedoch nicht nur prekäre Arbeit. Leistungsverdichtung, unternehmensinterne Vermarktlichung und Konzepte der indirekten Steuerung führen nicht selten dazu, dass Beschäftigte überlange Arbeitszeiten leisten bzw. meinen, für ihre berufliche Karriere eine immer höhere Leistung erbringen zu müssen. Gute Arbeit muss Schutz vor zu hohem Stress auch innerhalb von "normalen" Arbeitsverhältnissen bieten.

Unser Prinzip: Ein neuer "Flexibilitätskompromiss"

Die Risiken der Globalisierung und der Digitalisierung dürfen nicht mehr einseitig auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - vor allem nicht am unteren Ende des Arbeitsmarktes - verlagert werden. Gerade sie sollten darauf vertrauen können, dass der Sozialstaat ihnen Sicherheiten im Wandel bietet. Gute Arbeit lässt sich ohne gesetzliche Regeln oft nicht durchsetzen. Zugleich sind die Arbeitsrealitäten so verschieden, dass Gesetze diesen unterschiedlichen Bedingungen nicht immer gerecht werden können.

Darum setzen wir bei der Gestaltung der Zukunft der Arbeit auf Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft. In einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Produktions- und Dienstleistungswirtschaft werden flexible und passgenaue Regelungen am besten vor Ort ausgehandelt. Wo immer möglich, sollen tarifliche und betriebliche Vereinbarungen die Arbeit regeln. Wer sich als Arbeitgeber Flexibilität sichern will, muss sie im Betrieb oder per Tarifvertrag aushandeln und so auch den Beschäftigten Sicherheit geben. Wo Tarifverträge vorhanden sind und zudem Betriebsräte existieren, können "Flexibilitätskompromisse" in definierten Grenzen auch in Abweichung von gesetzlichen Regelungen möglich sein. Wo dies aber nicht funktioniert oder gar verhindert wird, sollten gesetzliche Regelungen den Rahmen setzen. Wir setzen auf das Prinzip: Flexibilität gegen Sicherheit.

Insbesondere in der Gestaltung der Arbeitszeit treffen betriebliche Belange, individuelle Präferenzen, kollektive Interessen der Belegschaften und gesellschaftliche Anliegen aufeinander. Die Lage und Dauer der Arbeitszeit entscheidet maßgeblich über die Möglichkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Darum brauchen wir einen neuen "Flexibilitätskompromiss", der individuelle Optionen, betriebliche sowie tarifliche Lösungen, einen gesetzlichen Schutzrahmen und zielgenaue finanzielle Förderung verbindet. Erforderlich ist also ein neu definiertes Normalarbeitsverhältnis, das neue Sicherheiten entlang von Lebensphasen und in beruflichen Übergängen bietet.

Wo Unternehmen Flexibilität benötigen und alte und neue Formen (Werkverträge, Leiharbeit, Crowdworking) genutzt werden, darf dies nicht zu Lohndrückerei, Aushöhlung von Standards, psychischen Belastungen und Perspektivlosigkeit führen. Wer Flexibilität will, muss eine Gegenleistung erbringen.

Zeitsouveränität und Vereinbarkeit dürfen auch nicht zur neuen sozialen Frage werden, weil nur Gutverdiener und Arbeitnehmer mit hoher Verhandlungsmacht individuelle Lösungen realisieren können.

Wir brauchen einen Wandel der Unternehmens- und Führungskultur, die gesunde Arbeit, Diversität und Beteiligung zu ihren Prinzipien macht. Neben der gesetzlichen Quote für Frauen in Führungspositionen braucht es darum eine gesellschaftliche Debatte über eine neue Arbeitskultur und eine andere Vorstellung von Führung, die auch mit Sorgeverpflichtungen zu vereinbaren ist.

Wir brauchen Regeln und Anreize, um eine gute Betriebs- und Sozialpartnerschaft zu beleben. Ein Teil der Unternehmen erzeugt soziale Kosten und wälzt diese auf die Gesellschaft ab. Arbeitsbedingte Erkrankungen oder Erwerbsunfähigkeit, unzureichende Investitionen in Qualifikation und Weiterbildung der Belegschaft und dadurch höhere Arbeitsplatzrisiken, niedrigere Löhne und schlechtere soziale Absicherung - die Kosten hierfür trägt die Gesellschaft zumeist über die Sozialversicherungen. Unternehmen mit guter Arbeits- und Führungskultur werden so nicht nur mit zur Kasse gebeten, sondern müssen auch mit jenen konkurrieren, die schlechte Arbeit als Wettbewerbsvorteil nutzen. Wir werden prüfen, wie durch Regeln und Anreize gute Arbeitsbedingungen und nachhaltige Unternehmensführung gestärkt und damit eine Übertragung dieser Kosten auf die Gemeinschaft verringert werden kann.

Gute Arbeit und Vollbeschäftigung

Wir halten am Ziel der Vollbeschäftigung in Deutschland fest. Trotz der günstigen Entwicklung am Arbeitsmarkt der vergangenen Jahre bleibt das ein anspruchsvolles Ziel. Um dieses zu erreichen und zugleich das Leitbild der Guten Arbeit durchzusetzen, ist eine flankierende Wirtschafts-, Lohn- und Beschäftigungspolitik im Industrie- und Dienstleistungssektor erforderlich.

• Die Lohneinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten deutlich hinter der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben, während Kapitaleinkommen weit überdurchschnittlich zugelegt haben. Der Anstieg der Ungleichheit vor allem bis zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts war auch eine Konsequenz dieser Entwicklung. Lange Zeit galt Ungleichheit als Preis, der für mehr wirtschaftliche Dynamik und Verbesserungen am Arbeitsmarkt zu zahlen war. Neuerdings betonen aber auch der Internationale Währungsfonds oder die OECD , dass zunehmende Ungleichheit sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken kann - und zwar über die Schwächung der Massenkaufkraft, negative Anreize für Bildungsinvestitionen in unteren Einkommensgruppen oder wachsende Risiken von Finanzmarktkrisen. Die simple Übertragung einzelwirtschaftlicher Logik (niedrigere Löhne = mehr Beschäftigung) auf die Gesamtwirtschaft greift zu kurz.

• Viele Länder beneiden uns um unseren industriellen Kern. Er ist Motor und zugleich Basis für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Viele Dienstleistungen sind Bestandteil von mit der Industrie eng verbundenen Wertschöpfungsnetzen. Darum sind im Sinne einer beschäftigungsorientierten Industriepolitik Investitionen in Infrastrukturen und in zukünftige Innovationen entscheidend: Wir können es uns nicht leisten, Zukunftsinvestitionen zu verschleppen und weiter von der Substanz zu leben. Deshalb sind ausgeglichene Haushalte nur dann generationengerecht, wenn sie in nicht in Zukunftsbereichen sparen.

• Care- bzw. Sorge-Arbeit ist eine wichtige Grundlage für den Fortbestand unserer Gesellschaft und für eine funktionstüchtige Wirtschaft. Die Sorge für Kinder und pflegebedürftige Menschen erfährt zwar inzwischen viel (rhetorische) Wertschätzung, sie ist aber für diejenigen, die sie privat und unentgeltlich leisten, weiterhin im Lebensverlauf schlecht abgesichert und mit erheblichen Nachteilen im Erwerbsverlauf verbunden. Professionell und überwiegend von Frauen geleistete Care-Arbeit wird ein immer bedeutenderer Wirtschaftszweig, allerdings einer mit oft niedriger Entlohnung, geringen beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten und aufgrund der hohen Arbeitsverdichtung hohen Teilzeitquoten. Es geht also darum, Care-Arbeit als wichtigen Produktivitätsfaktor anzuerkennen, sie besser zu honorieren und Care-Berufe so zu konzipieren, dass für die Beschäftigten eine Weiterentwicklung im Lebensverlauf möglich ist.

• Trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt stellen wir fest: Langzeitarbeitslosen kommt der Aufbau von Beschäftigung nicht in gleicher Weise zugute. Zwar ist die Langzeitarbeitslosigkeit in den Jahren 2007 bis 2009 um ein Drittel zurückgegangen, seit dem jedoch kaum. Es gibt vielfältige Gründe, warum die Chancen der Bezieherinnen und Bezieher von SGB-II-Leistungen auf eine dauerhafte Beschäftigung geringer sind. Vielfältige individuellen Hemmnissen, aber auch die Lage auf regionalen und lokalen Arbeitsmärkten erschweren ihre Vermittlung. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, Menschen, die schon lange arbeitslos sind, wieder neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Sie brauchen maßgeschneiderte Betreuungs- und Vermittlungsangebote und passgenaue Hilfen.

Gute Arbeit und Gender

Eine zentrale Querschnittsaufgabe sozialdemokratischer Beschäftigungspolitik ist die Gleichstellung von Frauen und Männern. Noch immer sind Einkommen, Zugänge, Aufstiegschancen und insbesondere die unbezahlte Arbeit zwischen Männern und Frauen ungleich verteilt. Ursächlich dafür ist das Zusammenwirken von tradierten Interessen, staatlichen Fehlanreizen, kulturellen Zuschreibungen und einer unzureichenden gesellschaftlichen Organisation von Care-Arbeit, die Verantwortung in hohem Maße an die Familien delegiert - und das bedeutet aufgrund der herrschenden Geschlechterverhältnisse: an die Frauen. Da diese Blockadefaktoren so vielfältig und stark miteinander verwoben sind, kann echte Gleichstellung nur durch einen ganzheitlich, systematischen Ansatz erreicht werden. Gender Mainstreaming ist der Schlüssel zu einer geschlechtergerechteren Gesellschaft. Gender Mainstreaming dient dazu, jedes politische Vorhaben daraufhin zu prüfen, welche Auswirkungen es auf die Lebensbedingungen von Frauen und Männern hat. Familienleistungen wie das Ehegattensplitting bestrafen de facto eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit in den Familien. Gleichzeitig benachteiligen sie Alleinerziehende und nicht verheiratete Paare mit Kindern in erheblichem Umfang. Nötig ist eine Reform der Familienleistungen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Familienmodelle abzusichern und den Wunsch der Eltern nach Partnerschaftlichkeit zu unterstützen.


IV. Eckpunkte einer modernen sozialdemokratischen Arbeitspolitik
1. Regeln für Gute Arbeit durchsetzen

Die SPD hat im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass es im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz für Leiharbeit künftig wieder eine gesetzlich festgeschriebene Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten geben soll. In vielen Branchen, u.a. in der Metall- und Elektroindustrie und der chemischen Industrie, gibt es tarifvertragliche Regelungen, die eine gestaffelte bessere Entlohnung von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern vorsehen. Unter Beachtung der entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen soll der Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" künftig nach spätestens neun Monaten für Leiharbeitnehmer und Stammbeschäftigte gelten. Der Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten als Streikbrecher soll verboten werden.

Aus vielen Branchen gibt es Rückmeldungen, dass verstärkt Werkverträge als Alternative zu Leiharbeit eingesetzt werden. Wir werden die durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niederlegen. Darüber hinaus werden wir die Prüftätigkeit bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit konzentrieren, organisatorisch effektiver gestalten und erleichtern. Die Informations- und Unterrichtungsrechte der betrieblichen Mitbestimmung werden wir sicherstellen und konkretisieren.

Die massive Ausweitung atypischer und prekärer Beschäftigungsformen setzt die Stammbelegschaften und Betriebsräte zunehmend unter Druck. Der günstigere Mitarbeiter nebenan, der die gleiche Arbeit macht, aber ein Drittel weniger verdient, stellt immer auch ein Drohpotential dar. Es ist deshalb aus sozialdemokratischer Sicht in Zukunft notwendig, die echten Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei Fremdbeschäftigung im Betrieb deutlich zu stärken. Das betrifft Umfang und Dauer von Leiharbeit ebenso wie das Zustimmungsverweigerungsrecht beim Einsatz von Werkverträgen.

Mit dem Mindestlohn ist es gelungen, vielen Beschäftigten einen Weg aus Minijobs in reguläre Arbeit zu öffnen. Dieses Ziel verfolgen wir weiter. Auch wollen wir weiterhin Möglichkeit sachgrundloser Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen und den Katalog möglicher Befristungsgründe überprüfen.

Um gleiche Bezahlung für Frauen und Männer zu erreichen, wollen wir die Einführung eines Entgeltgleichheitsgesetzes.

2. Tarifbindung stärken

Wo Tarifverträge gelten und Betriebsräte mitbestimmen, erhöhen vielfältige Regelungen die Möglichkeiten der Beschäftigten zur (Mit-)Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen. Die Tarifbindung erodiert jedoch in dramatischem Maße. Nur gut die Hälfte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitiert von einer Tarifbindung und noch weniger werden gegenüber ihrem Arbeitgeber durch einen Betriebsrat vertreten. Deshalb ist es richtig, dass die SPD die Möglichkeiten, Tarifverträge allgemein verbindlich zu erklären, verbessert hat.

Die Digitalisierung verändert die Bewertung von Arbeit und Leistung. Die Leistungsbewertung erfolgt arbeits- und tarifvertraglich bislang vor allem anhand der Kriterien Qualifikation, konkrete Tätigkeit und Arbeitszeit. In dem Maße, in dem digitale Arbeit zu einer Entgrenzung von Raum und Zeit führt und in dem bei vielen Tätigkeiten der Faktor Zeit bei der Leistungsbewertung eine geringere Rolle spielt, kann dies zulasten der Sicherung der Ansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehen.

  • Deshalb werden wir prüfen, ob weitere Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung erforderlich sind. Ein zusätzlicher Anreiz könnten gesetzliche Rahmenbedingungen sein, die in tarifgebundenen Betrieben mehr Flexibilität erlauben, als in tarifungebundenen Betrieben.
  • Ausgehend von der Regelung der Generalunternehmerhaftung im Mindestlohngesetz und den Tariftreueregelungen bei öffentlicher Auftragsvergabe sollte geprüft werden, inwieweit der Gedanke der Tariftreue auch im privatwirtschaftlichen Sektor gestärkt werden kann.
  • Ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften kann die Rechtsposition von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern insbesondere in Klein- und mittelständischen Betrieben fördern und die Stellung der Gewerkschaften stärken.
3. Mehr Chancen für junge Menschen

Wir wollen gute Arbeit auch für junge Beschäftigte. Gerade junge Menschen brauchen eine Perspektive, sonst ist eine vernünftige Lebens- und Familienplanung nicht möglich. Junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind aber aktuell weiterhin überproportional von atypischen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Deshalb bleibt es dabei:

Wir wollen die Möglichkeit sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge abschaffen und die möglichen Sachgründe für Befristungen einer kritischen Prüfung unterziehen. Die duale Ausbildung ist ohne Zweifel eine der Stärken unseres Ausbildungssystems und der Garant für die im europäischen und internationalen Vergleich niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland. Die duale Ausbildung ist wichtig für die Fachkräftesicherung von morgen und trägt entscheidend zur Sicherung des wirtschaftlichen Wohlstands unseres Landes bei. Deshalb wollen wir sie weiter stärken.

Noch immer aber stecken fast 260.000 junge Menschen im Übergangsbereich fest, gerade einmal 65 Prozent der Ausbildungsinteressierten haben im letzten Ausbildungsjahr einen Ausbildungsplatz bekommen und 14 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 20 und 29 Jahren haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Und immer weniger Betriebe in Deutschland bilden aus. Die Quote der Ausbildungsbetriebe sinkt kontinuierlich und liegt derzeit nur noch knapp über 20%. Wer nicht ausbildet, darf sich über Fachkräftemangel nicht beschweren. Ein hoher Ausbildungsstand muss im ureigenen Interesse der Betriebe liegen. Der demografische Wandel macht veränderte Personalpolitik notwendig. Das ist nicht neu, aber offensichtlich immer noch nicht in allen Betrieben angekommen.

Mit der im Wesentlichen von der SPD vorangetriebenen Allianz für Aus- und Weiterbildung gehen Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft gemeinsam in die richtige Richtung. Jetzt kommt es darauf an, dass alle Partner in der Allianz ihre Zusagen einhalten. Mit der Ausweitung der Zielgruppe für ausbildungsbegleitende Hilfen und der gesetzlichen Verankerung der Assistierten Ausbildung als neuem Instrument sind wesentliche Verabredungen umgesetzt. Von der Wirtschaft erwarten wir ihre Zusagen ebenfalls einzuhalten. Sie hat u.a. zugesichert, 20.000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen und jedem Jugendlichen, der keinen Ausbildungsplatz findet, drei konkrete Angebote für eine betriebliche Ausbildung zu machen. Mit den zurzeit neu nach Deutschland kommenden Flüchtlingen wird die Herausforderung noch größer. Es entsteht ein zusätzlicher Bedarf an ausbildungsvorbereitenden Programmen und assistierter Ausbildung.

Jeder Jugendliche hat das Recht auf eine Ausbildung und dieses Recht gilt es umzusetzen. Wir wollen jedem ausbildungsinteressierten Menschen einen Pfad aufzeigen, der frühestmöglich zu einem Berufsabschluss führt. Unser Ziel bleibt die Garantie auf einen Ausbildungsplatz und damit der Anspruch für alle in Deutschland lebenden jungen Menschen auf eine qualitativ hochwertige und vollqualifizierende Ausbildung. Dazu zählt auch eine Mindestausbildungsvergütung. Junge Menschen wollen auf eigenen Beinen stehen. Dies können sie nur, wenn sie bereits während der Ausbildung angemessen entlohnt werden.

Das Bildungs- und Ausbildungssystem muss sich durch eine Kultur niedrigschwelliger und über alle Lebensphasen hinweg offener Zugänge auszeichnen. Jeder braucht die Möglichkeit auf eine zweite oder auch dritte Chance. 2009 wurde bereits auf Initiative der SPD hin das lebenslange Recht auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses erfolgreich eingeführt. Darüber hinaus braucht es Wege, die sozial benachteiligten und lernbeeinträchtigen Jugendlichen bessere Chancen auf eine Ausbildung in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes und damit bessere Chancen für ihre gesamte Erwerbsbiografie bieten. Diese Jugendlichen müssen von fachlich und sozialpädagogisch geschulte Assistenten profitieren, die sie und die Betriebe begleiten und auch Arbeitgebern als Ansprechpartner zur Seite stehen. In der Allianz für Aus- und Weiterbildung haben wir hier geeignete Instrumente entwickelt, die es gilt in geeigneter Form zu verstetigen. Wir stärken damit die duale Ausbildung im Betrieb, indem eine Begleitung über die gesamte Ausbildungsdauer ermöglicht wird.

Für das Gelingen der Ausbildung ist deren Qualität von entscheidender Bedeutung. Hier jedoch besteht in bestimmten Bereichen und Branchen ein großer Mangel, der u.a. in hohen Abbruchquoten, der Zunahme ausbildungsfremder Tätigkeiten oder einen fehlenden Eignung der Ausbilder seinen Niederschlag findet. Deshalb wollen wir das Berufsbildungsgesetz (BBiG) novellieren, um so ganz wesentlich die Qualität der Ausbildung im dualen System zu stärken.

Um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiter zu stärken ist die Deckung des Fachkräftebedarfes von entscheidender Bedeutung. Dazu wollen wir die Vorteile des beruflichen und des akademischen Bildungssystems sinnvoll miteinander verknüpfen. Wir können die Lebensentscheidungen junger Menschen nicht vorwegnehmen, deshalb wollen wir dafür Sorge tragen, dass beide Ausbildungsformen ein Garant für Beschäftigung und gute Verdienstchancen werden. Die Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen Bildungsgängen - und zwar alle in Richtungen - eröffnet die Chance auf zahlreiche individuelle Bildungs- und damit auch Beschäftigungskarrieren.

Der Ausbau der Studien- und Berufsorientierung an allen weiterführenden Schulen wie auch die flächendeckende Etablierung von Jugendberufsagenturen zur erfolgreichen Gestaltung des Überganges zwischen Schule, Ausbildung und Beruf ist hier entscheidend. Mit einem gerechten und leistungsfähigen System der Aus- und Weiterbildungsfinanzierung müssen wir darüber hinaus das lebenslange Lernen, das nicht immer linear verläuft, stärker in den Blick nehmen und an die Lebenswirklichkeiten der Betroffenen anpassen. Mit der substanziellen Verbesserung beim BAföG und den verbesserten Fördermöglichkeiten bei der Aufstiegsfortbildung (Meister-BAföG) sind wir hier erste wichtige Schritte gegangen.

4. Aktive Arbeitsmarktpolitik und Qualifizierung: Umbau der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung

Wie genau die Arbeitswelt der Zukunft aussehen wird und welche Innovationen die Arbeit von morgen bestimmen werden, wissen wir nicht. Künftig wird der Erhalt der individuellen Beschäftigungsfähigkeit wohl gegenüber der Sicherung eines konkreten Arbeitsplatzes an Bedeutung gewinnen. Die einmalige Ausbildung am Start des Berufslebens reicht schon heute nicht mehr aus. Um die Kompetenzen up-to-date zu halten, wird es zukünftig noch mehr darum gehen, dass alle Beschäftigen ihre Talente über den Verlauf ihres Erwerbslebens einbringen und weiterentwickeln können.

Einerseits geht es um höhere Qualifikationen, damit Erwerbstätige mit den technologischen Entwicklungen Schritt halten können. Andererseits sind neben fachspezifischen Kenntnissen verstärkt soziale und personale Fähigkeiten, wie Problemlösungskompetenz, Kreativität, Kommunikationsstärke oder die Fähigkeit zu ganzheitlichem und vernetztem Denken, gefragt.

Die Weiterbildung ist ein Schlüsselthema sowohl der Arbeitsmarkt- als auch der In-novationspolitik. In ihr kristallisiert sich der sozialdemokratische Anspruch, wirtschaftliche Stärke der Volkswirtschaft mit sozialer Gerechtigkeit für den Einzelnen zu verbinden. Wenn wir im globalen Wettbewerb besser sein wollen, brauchen wir gute Fachkräfte und hochqualifizierte Belegschaften. Wir brauchen die Kreativität älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit einer Kombination aus ihren Erfahrungen und aktuellem Wissen ein wertvolles Potential darstellen.

Mit einer klugen Politik können aus dem wachsenden Bedarf an Fachkräften neue Aufstiegsmöglichkeiten für viele Beschäftigte werden. Dafür bedarf es einer Doppelstrategie: Zum einen wollen wir allen die Chance geben, so qualifiziert wie möglich zu arbeiten. Zum anderen wollen wir denjenigen, die unfreiwillig von Arbeit ausgeschlossen sind, neue Zugänge eröffnen. Dazu zählen vor allem Frauen, aber auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte so wie Schul- und Ausbildungsabbrecher.

Die Zusammenführung und der Ausbau der bestehenden Instrumente der beruflichen Weiterbildung in einem umfassenden Recht auf Weiterbildung sind überfällig. Darin eingeschlossen sollte auch ein Rechtsanspruch auf eine lebensbegleitende Qualifizierungs- und Weiterbildungsberatung sowie die Möglichkeit zur kontinuierlichen Kompetenzfeststellung.

Darum hat die SPD als erste Partei seit vielen Jahren das Ziel formuliert, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln und dementsprechend einen Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung voranzutreiben. Mit der Arbeitsversicherung wollen wir die Beschäftigungsfähigkeit aller Erwerbstätigen über alle Qualifikationsstufen stärken und in Übergängen des Erwerbsverlaufs absichern.

Aus der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit erwächst auch eine gemeinsame Finanzierungsverantwortung von Staat, Sozialpartnern, Arbeitgebern und Beschäftigten. Bestehende betriebliche und tarifpolitische Instrumente sollen die Arbeitsversicherung gezielt ergänzen und neben staatlichen Formen der Weiterbildungsförderung für einen breiten Finanzierungsmix sorgen.

Die Arbeitsversicherung reagiert nicht erst bei Arbeitslosigkeit. In einer Arbeitswelt, die mit immer mehr Brüchen in den Erwerbsbiografien verbunden ist, sichert die Arbeitsversicherung durch berufsbegleitende Beratung und Weiterqualifizierung die Menschen vorsorgend ab durch

• einen individuellen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und Weiterbildungsberatung verbunden mit der Pflicht zur Beratung, wenn Förderleistungen in Anspruch genommen werden;
• einen arbeitsrechtlichen Anspruch gegenüber dem Arbeitsgeber auf Sicherung und Erhalt der Qualifikation sowie das Recht auf Freistellung für Qualifizierung verbunden mit einem Rückkehrrecht auf den bisherigen oder einen gleichwertigen Arbeitsplatz;
• und den bestehenden sozialrechtlichen Anspruch auf Qualifizierung durch die bisherige Arbeitsmarktförderung der BA im Falle von Arbeitslosigkeit.

Die Arbeitsversicherung richtet zusammen mit den Agenturen für Arbeit Qualifizierungsstützpunkte zur unabhängigen Qualifizierungsberatung ein. Sie schafft regionale Qualifizierungsnetze zur Umsetzung des Anspruchs auf Weiterbildung. Diesen Weg von der Arbeitslosen- zur Arbeitsversicherung gehen wir schrittweise und in enger Abstimmung mit den Sozialpartnern.

5. Moderne Arbeitszeitpolitik: Souveränität und
Lebensphasenorientierung

Um biografisch und häufig auch familiär bedingten Bedürfnissen besser entsprechen zu können, ist eine stärker am individuellen Lebenslauf orientierte Gestaltung der Arbeitszeit erforderlich. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen mehr Möglichkeiten, Dauer, Lage und Rhythmus ihrer Arbeitszeiten gemäß den Anforderungen ihrer jeweiligen Lebenslage zu wählen. Hierzu bedarf es gesetzlicher Rahmenbedingungen sowie tariflicher und betrieblicher Lösungen. Dabei geht um zwei mit einander verknüpfte Ziele:

Zum einen sollten Beschäftigte mehr individuelle Möglichkeiten haben, Lage, Dauer und Ort der täglichen Arbeit bzw. Arbeitszeit zu bestimmen, sofern nicht betriebliche Belange entgegenstehen.

Zum anderen sollte sich die regulär vereinbarte (Wochen-)Arbeitszeit stärker an den Bedürfnissen von Lebenssituation und Lebensphase orientieren. Das im Koalitionsvertrag der Großen Koalition vereinbarte Recht, nach einer Phase der Teilzeitarbeit auf die frühere Arbeitszeit zurückzukehren, ist hierzu ein wichtiger Schritt. Zudem muss es möglich sein, in Phasen eines hohen Arbeitsvolumens (z.B. nach der Ausbildung oder der Familienphase) zusätzlich geleistete Arbeitszeiten anzusparen und darauf in Phasen verringerter Erwerbsarbeit zurückzugreifen, um fürsorgebedingte Auszeiten oder Arbeitszeitreduzierungen zu kompensieren.

Für bestimmte Übergänge in der Erwerbsbiografie, Phasen der Nicht-Erwerbstätigkeit oder der reduzierten Arbeitszeit, die auch im gesellschaftlichen Interesse sind (v.a. Betreuung, Qualifizierung, Pflege) gibt es bereits Instrumente, die diese Phasen finanziell absichern wie das ElterngeldPlus oder die Familienpflegezeit. Die Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und Ruhestand wollen wir flexibler ausgestalten. Ebenso wollen wir andere Übergänge und Qualifizierungsphasen besser absichern. Wir setzen uns darüber hinaus für die Einführung einer Familienarbeitszeit ein. Sie baut auf dem Elterngeld auf und ermöglicht Eltern, die beide in Teilzeit arbeiten, einen einkommensabhängigen Teillohnausgleich. Die Familienarbeitszeit unterstützt die partnerschaftliche Arbeitsteilung, erhöht die Chance, dass Frauen statt in "kleiner Teilzeit" in "großer Teilzeit" arbeiten und so ihre individuelle Existenzsicherung verbessern und sie hebt insgesamt das Arbeitsvolumen an.

All diese Maßnahmen leisten einen Beitrag, ein neu definiertes Normalarbeitsverhältnis zu ermöglichen. Doch ist es wichtig, dass diese Einzelmaßnahmen nicht unverbunden nebeneinander stehen und finanzielle Mittel zielgenau eingesetzt werden. Die SPD vertritt das Leitbild einer lebensphasenorientierten Beschäftigungspolitik. Bis zur Bundestagswahl 2017 werden wir dieses Leitbild übersetzen in ein (Lebens-) Arbeitszeitkonzept aus einem Guss. Dieses Konzept soll einen Sockel bilden, auf dem Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge aufbauen können.

6. Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt

Hunderttausende Menschen werden in diesem und in den kommenden Jahren bei uns Asyl erhalten und sich ein neues Leben aufbauen wollen. Ihre erfolgreiche Integration in unsere Gesellschaft ist eine immense Aufgabe. Sie wird nicht von heute auf morgen zu lösen sein, aber sie muss gerade am Arbeitsmarkt rasch gelingen. Denn Arbeit ist der Schlüssel für die Verwirklichung von Chancen und für gesellschaftliche Teilhabe.

Gelingende Integration ist ein Gewinn für jeden einzelnen Menschen, der zu uns kommt, aber auch für die gesamte Gesellschaft. Gelingende Integration kann wesentlich dazu beitragen, die gesellschaftlichen Auswirkungen des demografischen Wandels abzufedern, die Fachkräftebasis zu stärken und unsere sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren.

Unter den Flüchtlingen, die jetzt in unser Land kommen, sind sehr viele junge Menschen. Diese jungen Menschen auszubilden und zu qualifizieren, ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes.

• Die berufsbezogene Sprachförderung (ESF-BAMF-Kurse) ist erheblich auszuweiten, damit Flüchtlinge in Anknüpfung an die im Integrationskurs erworbenen allgemeinen Sprachkenntnisse auch arbeitsspezifische Sprachkenntnisse erwerben können.
• Die im Modellprojekt ("Early Intervention") erprobten Maßnahmen, mit denen einige Arbeitsagenturen die Vermittlung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in den Arbeitsmarkt gezielt vorantreiben, müssen in allen Arbeitsagenturen und Jobcentern zur Anwendung kommen: Das Modell muss zur Regel werden. Dafür ist es auch notwendig, die personelle Ausstattung zu verbessern und die interkulturelle Öffnung weiter voranzutreiben. Denn klar ist: Auch wenn unter den Flüchtlingen Fachkräfte sind, so werden doch viele bei der Integration in den Arbeitsmarkt Unterstützung benötigen.
• Junge Asylbewerber und Geduldete müssen bei uns eine begonnene Ausbildung beenden können und brauchen für die gesamte Dauer der Ausbildung einen regulären Aufenthaltstitel. Anschließend müssen sie natürlich am Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
• Es ist zu prüfen, wie die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit für junge Asylbewerber und Geduldete geöffnet werden können. Die erforderlichen Mehrbedarfe sind im Bundeshaushalt und nicht aus Beitragsmitteln bereit zu stellen.
• Die Wirtschaft steht in besonderer Verantwortung. Sie muss jetzt in eine Ausbildungsoffensive für alle gehen.

7. Mehr Demokratie im Betrieb - Mitbestimmung ausbauen

Mitbestimmte Unternehmen sind wirtschaftlich erfolgreicher, innovationsstärker und weisen eine höhere innerbetriebliche Flexibilität auf. Mitbestimmung schafft gerade in wirtschaftlichen Umbruchzeiten die Voraussetzung für Lösungen, die beiden Seiten gerecht werden - den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen und den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach guten Arbeitsbedingungen.

Betriebliche Mitbestimmung

Wir wollen die rechtlichen Rahmenbedingungen wo nötig anpassen und die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei der Organisation und Gestaltung von Arbeit und die Rechte der Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern im mitbestimmten Aufsichtsrat ausbauen und sichern. Gerade unter den veränderten Kommunikations- und Interaktionsformen muss der Betrieb im Sinne einer "digitalen Beteiligungskultur" als sozialer und demokratischer Ort erlebbar werden.

• Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung des Erhalts der Beschäftigungsfähigkeit im Wandel und der betrieblichen Qualifizierung sollen die Mitwirkungsrechte des Betriebsrats erweitert werden, etwa durch Ausbau des bestehenden Vorschlags- und Beratungsrechts zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung und durch ein generelles Initiativrecht auf die Einführung betrieblicher Berufsbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen.
• Noch immer gibt es zu viele Betriebe ohne betriebliche Mitbestimmung. Wir wollen die Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung erhöhen. Dazu sollte das mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 2001 eingeführte vereinfachte Wahlverfahren auf Betriebe bis 100 Beschäftigte erweitert werden.
• Die Behinderung der betrieblichen Mitbestimmung ist kein Kavaliersdelikt. Deshalb sollten die Sanktionen bei Be- oder Verhinderung von Betriebsratsarbeit verschärft werden.
• Digitales Arbeiten erhöht die Gefahren, dass durch Fremdvergabe zunehmend mehr Beschäftigte in Unternehmen nicht mehr der betrieblichen Mitbestimmung unterliegen. Beim Einsatz von Fremdbeschäftigung wollen wir die frühzeitigen Beratungs- und Verhandlungsrechte der Betriebsräte ausweiten und das Zustimmungsverweigerungsrecht verbessern.

Unternehmens-Mitbestimmung

Globalisierte Wirtschaftsstrukturen machen Ländergrenzen für Unternehmen immer unwichtiger, für die Mitbestimmung bleiben sie dagegen oft unüberwindbar. Wir wollen daher geeignete Maßnahmen ergreifen, um einer Flucht aus der Mitbestimmung entgegen zu wirken.

• Wesentliche Entscheidungen über Produktionsstandorte dürfen nicht ohne Mitbestimmung gefällt werden. Deswegen sollte der Gesetzgeber einen Mindestkatalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte im Aufsichtsrat eines Unternehmens erlassen.
• Vor dem Hintergrund zunehmender globaler Verflechtung über die Finanzmärkte müssen die Mitbestimmungsrechte der Betriebsverfassungsorgane zur Berücksichtigung der berechtigten Belegschaftsinteressen bei Unternehmensübernahmen gestärkt werden, insbesondere im Falle der Übernahme durch Finanzinvestoren.
• Da die Zahl der Unternehmen steigt, die in Deutschland arbeiten, aber über eine ausländische Rechtsform sich der Mitbestimmung entziehen, sollte das deutsche Mitbestimmungsrecht auch auf Unternehmen mit ausländischer Rechtsform und Sitz in Deutschland erstreckt werden.

8. Absicherung von (Solo-)Selbstständigen

Auch wenn Solo-Selbstständigkeit in den letzten Jahren statistisch nicht zugenommen hat und neue Formen wie Cloud- oder Crowdwork nur von einer Minderheit der Unternehmen eingesetzt werden, zeigen die Entwicklungen in einigen Bereichen dennoch, dass eine Verlagerung von abhängiger Beschäftigung in selbstständige Erwerbsformen stattfindet.

Vor allem so genannte Vermittlungsplattformen spielen hier eine wichtige Rolle. Es muss klarer definiert werden, was ein Auftrags- und was Arbeitsverhältnis ist. Möglicherweise wird jedoch eine Differenzierung in Arbeitnehmer einerseits und Selbstständige andererseits der Herausbildung von neuen Erwerbsformen und Mischformen von abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit nicht mehr gerecht.

Zudem ist zu klären, welche Verantwortung Vermittlungsplattformen und andere Auftraggeber für Solo-Selbstständige zu übernehmen haben. Denkbar ist z.B., dass sie dazu verpflichtet werden, einen Quasi-Arbeitgeberanteil in die Sozialversicherungen zu entrichten.

Anders als in vielen anderen europäischen Ländern besteht für die Mehrheit der Selbstständigen in Deutschland keine Versicherungspflicht. Selbstständigkeit per se ist aber weder eine Garantie für ausreichende Altersvorsorge, noch lässt sich diese bei pauschaler Differenzierung hinsichtlich Branche, Rechtsform des Unternehmens oder Zahl der Mitarbeiter unterstellen. Wenn in einer Erwerbsbiografie durch Zeiten der Selbstständigkeit Sicherungslücken entstehen oder sich die private Vorsorge Selbstständiger aus welchen Gründen auch immer als unzureichend erweist, besteht die Gefahr von Bedürftigkeit im Alter. Dies hat erhebliche negative Konsequenzen nicht nur für die Lebensqualität der Betroffenen selbst, sondern auch für das Gemeinwesen, das die Grundsicherung im Alter finanziert.

Vor diesem Hintergrund ist es sozial- und ordnungspolitisch geboten, Selbstständige stärker als bislang zur Altersvorsorge zu verpflichten. Diese Versicherungspflicht muss jedoch den Besonderheiten selbstständiger Tätigkeit Rechnung tragen. Dazu gehört zum Beispiel, Selbstständige nicht mit rigiden Regelungen hinsichtlich Form und Umfang der Vorsorge zu überfordern, die Bedürfnisse von Existenzgründern zu berücksichtigen, berufliche Statuswechsel zu berücksichtigen und Lösungen für die schwankenden Einkommen von Selbstständigen zu entwickeln.

9. Arbeits- und Datenschutz in der digitalen Arbeitswelt

Big Data, also die Verarbeitung, Aggregierung und Verknüpfung unterschiedlichster Arten und großer Mengen von Daten in Echtzeit, eröffnet ein beträchtliches wirtschaftliches und gesellschaftliches Potential, das wir nutzbar machen möchten.

Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht der mündige, selbstbestimmte Bürger auch in der digitalen Welt an vorderster Stelle. Die Herstellung der größtmöglichen Datensouveränität ist hierfür eine unbedingte Voraussetzung. Im digitalen Zeitalter werden aber auch in der Arbeitswelt immer mehr Daten über die Beschäftigten erfass- und verwertbar. Das gilt etwa für Aufenthaltsorte und -dauer am vernetzten Arbeitsplatz oder persönliche Profildaten für individualisierte Mensch-Maschine-Schnittstellen. Es liegt auf der Hand, dass sich damit auch völlig neue Möglichkeiten der Leistungs- und Verhaltenskontrolle eröffnen.

Der Ausgleich zwischen Interessen der Unternehmen und den Beschäftigten kann hier nicht den Beteiligten selbst überlassen bleiben, da zwischen Datenverwendern und Betroffenen ein Abhängigkeitsverhältnis existiert. Den gläsernen Beschäftigten wollen wir nicht. Hier besteht ein klarer gesetzgeberischer Handlungsbedarf. In der europäischen Datenschutzgrundverordnung müssen Mindeststandards für den Arbeitnehmerdatenschutz definiert werden. Diese muss in Deutschland ausgestaltet und per Öffnungsklausel weiter ausgebaut werden, um insbesondere die informationellen Selbstbestimmungsrechte der Beschäftigten zu wahren. Wir setzen uns für die Verabschiedung eines eigenständigen Arbeitnehmerdatenschutzgesetzes ein, das Übersicht über geltende Regelungen schafft und bestehende Lücken beseitigt.

Psychische Erkrankungen nehmen deutlich zu. Häufig vermischen sich dabei private und berufliche Auslöser. Psychische Erkrankungen sind aber nicht nur individuelle Schicksale, sondern haben Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes: In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Ausfall von Arbeitsstunden durch psychische Erkrankungen verdoppelt. Das durchschnittliche Einstiegsalter in die Erwerbsminderungsrente ist seit Ende der 1990er Jahre von 58 auf 48 gesunken. Die ILO geht davon aus, dass die Kosten psychischer Erkrankungen in der EU drei bis vier Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen.

Im Frühjahr 2016 wird die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) den Wissensstand zu Ursachen und Wechselwirkungen psychischer Erkrankungen systematisch aufbereitet und in konkrete Gestaltungsanforderungen überführt haben. Nach Vorlage dieser Ergebnisse sind Politik und Sozialpartner gemeinsam in ihrer Verantwortung gefordert, betrieblich wirksame Handlungsoptionen unter Einbezug des gesetzlichen Arbeitsschutzes zu entwickeln.

Schon heute ist klar: Jeder Arbeitgeber ist beim psychischen Arbeitsschutz in der Pflicht und darf psychische Belastungen nicht anders behandeln als körperliche Belastungen. Es ist Aufgabe der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, durch Gefährdungsbeurteilungen gesunden Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten sicherzustellen. Hier müssen gesetzlicher Anspruch und Wirklichkeit näher zusammen gebracht werden.

Über das gesetzgeberische Handeln hinaus, ist es Aufgabe der Sozialpartner, gemeinsam Arbeitswelten zu etablieren, die sich förderlich auf die psychische Gesundheit auswirken. Wir begrüßen daher sozialpartnerschaftliche Initiativen, wie die Übereinkunft zur guten und gesunden Arbeit in der Chemiebranche oder entsprechende tarifvertragliche Regelungen für die Erzieherberufe. Weitere sollten im Interesse der Beschäftigten und deren Unternehmen folgen.


V. Ausblick - Gutes Leben braucht gute Arbeit

Demokratie und soziale Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Der Einsatz für gute Arbeitsbedingungen und gleiche Lebenschancen gehören zum identitätsstiftenden Selbstverständnis der Sozialdemokratie. Eine gerechte Ordnung des Arbeitsmarktes ist eine grundlegende Voraussetzung für gutes Leben. Die Definition, was für jeden Menschen ein gutes Leben ist, mag individuell verschieden sein und hängt auch von unterschiedlichen Startvoraussetzungen ab. Ein gutes Einkommen, soziale Sicherheit, Gleichstellung, Partnerschaftlichkeit, Teilhabe und die Planbarkeit des eigenen Lebens sind aber elementare Voraussetzungen, um die jeweilige individuelle Vorstellung eines guten Lebens überhaupt erst möglich zu machen und dieser Vorstellung folgend, das eigene Leben zu gestalten.

Wenn wir die Arbeitswelt von morgen gestalten wollen, müssen wir den ganzen Zusammenhang von Wirtschaft, Technologie, Arbeit, Gesundheit, Bildung und Familie in den Blick nehmen und die Schnittstellen der Politikfelder eng verzahnen. Im Rahmen einer Arbeitsgruppe "Zukunft der Arbeitswelt" des SPD-Parteivorstands werden wir im Jahr 2016 zur kommenden Bundestagswahl ein Gesamtkonzept entwickeln.

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 218/15 vom 19. Oktober 2015
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
Bürgerbüro, Willy-Brandt-Haus
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Tel.: 030/25 991-300, Fax: 030/25 991-507
E-Mail: pressestelle@spd.de
Internet: www.spd.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2015

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