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ASIEN/568: Der Milchpulverskandal in China (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 107, 1/09

Schwerpunkt Nahrungssicherheit und Klimawandel
Ein "Frauenthema"
Der Milchpulverskandal in China

Von Astrid Lipinsky


Der Artikel beschreibt, warum Verstöße gegen die Lebensmittelsicherheit wie neuerdings der Milchpulverskandal vorrangig Frauen in China treffen. Er zeigt auch, dass sich für jeden Aspekt der China-Berichterstattung Chinas krasseste Diskriminierungen nachweisen lassen: die der Nicht-StädterInnen und die von Frauen.


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Mindestens sechs Säuglinge sind in China am Melamin-Milchpulver(1) gestorben, 300.000 sind schwer, möglicherweise chronisch nierenkrank. Wie weltweit tragen auch in China die Frauen die Pflegeverantwortung. Aber die diskriminierenden Frauenpflichten reichen weiter: Der chinesische Staat garantiert der Bevölkerungsmehrheit keine Altersvorsorge, zu der aber ein Sohn, den deshalb jedes Paar haben muss, gegenüber den Eltern seit Jahrtausenden bis heute moralisch verpflichtet ist.

Nicht die Tochter, die wird verheiratet und verlässt im Regelfall das Elternhaus, um bei ihrem Mann zu leben und die Pflegerolle für seine Eltern zu übernehmen. Das widerspricht natürlich der töchterlichen Zuneigung zu ihren leiblichen Eltern, weshalb die neue, künstliche Bindung an die Schwiegereltern möglichst gefestigt wird, zuallererst durch die Herstellung möglichst großer Distanz. Die "vollwertige" Heirat führt die Frau weg aus dem Heimatdorf in das Geburtsdorf ihres Mannes. Ihr Mann trägt einen anderen Nachnamen; mit ihrem Namen ist die Frau isoliert und findet keine Solidargruppe von TrägerInnen ihres Namens. Der Staat gibt zwar im Erbgesetz den Töchtern ein gleichberechtigtes Erbrecht, zeichnet aber gleichzeitig besonders die Frauen aus, die ihre alten Schwiegereltern aufopfernd pflegen. Töchter, die auf ihren Erbteil klagen, werden nicht propagiert.


Staatliche Geburtenkontrolle

Den Sohn (das Kind) benötigt man also als Rentenversicherung. Egal, ob das Kind chronisch krank und arbeitsunfähig ist oder tot - den eigentlichen Zweck kann es nicht mehr garantieren. Die Rettung in dieser Situation ist evident: ein weiteres Kind. Der Staat demonstriert hier Güte und lockert die strengen Geburtenbegrenzungen. Aber die Sterilisation einer Mutter kann er auch nicht wieder rückgängig machen.

Es ist nämlich so: Niemand hielt sich in China an die staatlich verordnete Geburtenzahl. Der Staat probierte daraufhin eine Reihe von Maßnahmen und koppelt mittlerweile die Beförderung der Staatsangestellten in Dörfern und Gemeinden an "Erfolge" bei der Geburtenplanung. Stillschweigend wird akzeptiert, dass der "Erfolg" am nachhaltigsten ist, wenn man Frauen und Mütter möglichst bald nach der Geburt sterilisiert. Immer die Frauen. Die in der Kulturrevolution propagierte Männersterilisation (der medizinisch leichtere Eingriff, und außerdem reversibel!) ist heute in den Dörfern nicht mehr zu finden. Also: der Staat erlaubt großzügig weitere Kinder (so neuerdings nach dem Tod hunderter SchülerInnen beim Erdbeben in Sichuan am 12. Mai 2008), aber die Frauen können keine mehr bekommen. Kein Mann muss verzweifeln: Entweder er setzt die Scheidung durch, oder er sucht sich eine Zweitfrau und hat Kinder mit ihr. Der "Mehrwert" der Frau schnorrt zunehmends - staatlich gefördert - zur Gebärfähigkeit zusammen.


Stillammen und Milchpulver

Natürlich will jede Mutter nur das Beste für ihr wertvolles Baby. Selbst stillen taten nur die armen Landfrauen, weshalb es kein Mittel der Wahl sein konnte. Wer konnte, leistete sich eine Stillamme. Mao Zedong verbot sie in den 1960er Jahren als "feudalistische Praxis". Was Mao ablehnte, beispielsweise auch das Halten von Konkubinen, ist heute ein Statussymbol des chinesischen Städters. So auch die Beschäftigung einer Stillamme vom Lande für das eigene Kind, am besten über eine Vermittlungsagentur, die sie auf Gesundheit und Sauberkeit testet. Wer sich keine Stillamme leisten kann - oder angesichts der enormen Nachfrage keine findet -, kauft westliches Importmilchpulver. Milchpulver ist eine westliche Erfindung, und was aus dem Westen kommt, ist notwendig gut (weil teuer).

Wer sich, wie die Mehrzahl der Mütter, den Import nicht leisten kann, greift zum viel preiswerteren einheimischen Nachahmerprodukt. Es sieht der westlichen Vorlage zum Verwechseln ähnlich: dieselben zartrosa-blau-gelben Dosen, dieselben Bilder strahlend lachender, dicker blauäugiger westlicher Babies, und Pulver ist Pulver, das gepanschte genauso weiß und geruchlos wie das echte. Die Säuglings- und Kleinkinderbetreuung ist in China Frauensache. Einschlägige Gesetze richten sich an "Mutter und Kind" und bringen zum Ausdruck, dass erstens jede Frau erst als Mutter Frau ist und dass zweitens Mütter die Alleinverantwortung für Kinder im Vorschulalter haben. Die von der chinesischen Regierung gerne breit propagierten Väter in Familienrollen sind und bleiben Ausnahmen. Frauen sind, häufig auch finanziell, verantwortlich für die Auswahl und die Beschaffung wie die Zubereitung der familiären Lebensmittel.


Vergiftungen sind keine Seltenheit

Nach Schätzungen vergiften sich in China jährlich zwischen 200.000 und 400.000 Menschen an Lebensmitteln: an gefälschten Arzneimitteln, an krebserregendem Schweinefleisch, an mit Verhütungsmitteln gemästeten Fischen, an mit DDT haltbar gemachtem Gemüse, an vergiftetem Salz und an Trinkwasser mit Quecksilber.

Die Frauen und Köchinnen sind schuld, aber Bildungschancen, die sie als mündige Bürgerinnen in die Lage versetzen, Gefahrenpotenziale und Gifte in der Nahrung zu identifizieren, offeriert der chinesische Staat ihnen nicht. Regierungspolitiken, die nach wie vor die neunjährige Pflichtschulbildung für Mädchen zwar fordern, aber nicht wirksam durchsetzen, schützen die Frauen nicht vor unabsichtlicher Vergiftung. Als einziger Ausweg bleibt den Frauen, auf möglichst teure, vorgeblich "garantiert sichere" Produkte zu setzen. Hier verleitet die große Gewinnspanne die Produzenten dazu, nötige Zertifikate zu fälschen und Inhaltsstoffe zu pantschen.


Modellunternehmerin und Schaugefangene

An dieser Stelle schließt sich der Kreislauf von Verschulden und ahnungslosen Opfern für die Frauen: Erst der ökonomische und kommerzielle Erfolg einer Frau wie Tian Wenhua, der Vorstandschefin von Sanlu, dem Produzenten des melaminverseuchten Milchpulvers, bringt ihr gesellschaftlichen Status und Preise und Auszeichnungen wie etwa die Auszeichnung des Chinesischen Frauenverbandes als Modellunternehmerin. Tian verdankt den Erfolg der Verwendung billiger, chemisch gestreckter Rohstoffe. Sie ist 66 Jahre alt, also eigentlich bereits im Rentenalter, und arbeitet seit 40 Jahren für Sanlu. Wir können deshalb vermuten, dass ihre allen Frauen anerzogene primäre Loyalität - gegenüber der Familie - auf die Firma übergegangen ist. Ihre vorrangige Pflicht gegenüber der Firma war die Sicherung des Verkaufs, weshalb sie die Vergiftungen, die schon im Mai auftraten, drei Monate lang verschwiegen hat. Vor Gericht brach Tian Wenhua in Tränen aus. Die Prozessbilder zeigen eine großmütterlich wirkende Frau. Inwieweit sich Tian der Schädlichkeit des Melamins bewusst war, inwieweit sie die Eigenschaften aller Inhaltsstoffe kannte, ist unklar.

Tian Wenhua wurde auf der Grundlage von Artikel 144 des chinesischen Strafgesetzbuches für die "Herstellung und den Vertrieb von giftigen oder gesundheitsschädlichen Lebensmitteln" zu lebenslangem Gefängnis verurteilt. Nicht zum Tode verurteilt wie zwei andere Angeklagte wurde sie vielleicht deshalb, weil sie das Melamin nicht zur eigenen Bereicherung zusetzte.


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Anmerkungen:

(1) Melamin ist ein farbloses und geschmackloses Klebemittel. Es wird beispielsweise von Möbelfirmen verwendet, um Spanplatten besonders haltbar zusammenzufügen. Melamin hat auch einen hohen Stickstoffanteil, und in China wird der Proteingehalt von Lebensmitteln indirekt über den Stickstoffanteil bestimmt: Je höher der Stickstoffanteil, desto höher auch der Proteingehalt. Echte Proteine sind fünfmal so teuer wie ein Melaminanteil, der denselben Gehalt vorspiegelt. 2006 starben in den USA erstmals Haustiere an mit Melamin verseuchtem Tierfutter aus China.


Zur Autorin:
Astrid Lipinsky ist Universitätsassistentin am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien mit den Schwerpunkten Gender und Recht.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 107, 1/2009, S. 14-15
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2009