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ASIEN/586: Konfuzianische Kultur und Sozialstaat in Ostasien (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

Konfuzianische Kultur und Sozialstaat in Ostasien

Von Eun-Jeung Lee


Wohlfahrtssysteme und sozialer Zusammenhalt haben in Ostasien eine lange Tradition und die Errungenschaften konnten auch im wirtschaftlichen Aufschwung bewahrt, zum Teil sogar verbessert werden. Angesichts der Sozialstaatsprobleme, die die westeuropäischen Staaten erfasst haben, lohnt ein vorurteilsfreier Blick in diese Region.


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Ostasien ist in den letzten drei Jahrzehnten zu einem dynamischen Gravitationszentrum der Weltwirtschaft aufgestiegen. Den fortgeschritteneren Ländern in dieser Region ist es zudem gelungen, trotz dieser wirtschaftlichen Dynamik den sozialen Zusammenhalt zu wahren, die Gesundheitsversorgung und den Bildungsstand der Bevölkerung enorm zu verbessern, die öffentliche Sicherheit zu wahren, universale soziale Sicherungssysteme einzuführen und die staatlichen Ausgaben für Sozialpolitik dennoch relativ niedrig zu halten.

Diese Erfolge stehen im starken Kontrast zu den Erfahrungen der meisten anderen Länder, einschließlich der westeuropäischen, die in all diesen Fragen mit allerlei Problemen zu kämpfen haben und die Zukunft ihrer sozialstaatlichen Errungenschaften gefährdet sehen. So ist es kein Wunder, dass den Erfahrungen in Ostasien international sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Allerdings gehen die Meinungen über Ostasien, speziell über die sozialen Errungenschaften dieser Länder, weit auseinander. Zudem neigt man dazu, die ostasiatischen Erfahrungen selektiv-klischeehaft wahrzunehmen und zu vereinfachen.

In Ostasien hatte man lange vor der Demokratisierung damit begonnen, Wohlfahrtssysteme aufzubauen. Die Einführung der ersten sozialen Sicherungsprogramme vollzog sich auf einem niedrigeren sozialwirtschaftlichen Entwicklungsniveau als im Westen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Länder Ostasiens soziale Wohlfahrtsprogramme als Teil ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsstrategien betrachteten und umsetzten. Darin liegt sicherlich eine der Ursachen für die starke Rolle des Staates in allen Wohlfahrtssystemen.

Allerdings unterscheidet sich die Grundstruktur der Wohlfahrtssysteme dieser Länder, was die Unterscheidung von Sozialversicherungen einerseits und Sozialhilfe andererseits angeht, nicht wesentlich von der der meisten europäischen Staaten. Dies ist auch nicht weiter überraschend, da sich diese Länder an den westlichen Systemen und Institutionen der sozialen Sicherung orientiert hatten. Das japanische System ist dem Bismarckschen Modell sehr ähnlich; so ist es vom Versicherungsgedanken geprägt und institutionell nach Berufsgruppen gegliedert. Korea und Taiwan sind wiederum vom japanischen System wesentlich beeinflusst worden. Im Falle Hongkongs und Singapurs ist der britische Einfluss nicht zu übersehen.

Trotz der strukturellen Ähnlichkeiten sollte man aber bei Vergleichen mit westlichen Ländern vorsichtig sein, da die innere Logik der ostasiatischen Systeme durchaus Unterschiede aufweisen kann. Vergleicht man z.B. die staatlichen Sozialausgaben- und Steuerlastquoten, erhält man ein verzerrtes Bild, da sich die Finanzierungsseite der Sozialleistungen in Japan und Korea anders darstellt als in Westeuropa. Beide Staaten besitzen universale Kranken- und Rentenversicherungssysteme. Obwohl es sich um Pflichtversicherungen handelt, gibt es nicht nur staatliche, sondern auch nicht-staatliche, meist genossenschaftliche Versicherungsträger. Die Einnahmen und Ausgaben dieser Genossenschaften bzw. Unterstützungskassen erscheinen nicht in den öffentlichen Haushalten. Deshalb finden sie bei der Berechnung der Sozialausgabenquoten oft keine Berücksichtigung. Der unmittelbare Vergleich staatlicher Sozialausgabenquoten kann daher leicht in die Irre führen.

Auch im Hinblick auf die Einkommensverteilung sind direkte Vergleiche problematisch. Die Einkommenssteuern und die Mehrwertsteuern fallen in Ostasien im allgemeinen geringer aus als im Westen. Entsprechend stehen weniger Mittel für die Einkommensverteilung zur Verfügung. Dennoch sind die Indizes der Einkommensverteilung in Ostasien nicht schlechter als in Europa. Japan nimmt in der Statistik der Weltbank mit einem Gini-Koeffizienten von 0,249 (1992-2000) sogar einen Spitzenplatz ein, nur knapp hinter Dänemark. Auch Korea (0,316) steht deutlich besser da als Großbritannien (0,368) oder die Schweiz (0,331). Das bedeutet, dass die primäre Einkommensverteilung in Japan und Korea bereits relativ gleichmäßig ist. Dies beruht darauf, dass die ostasiatischen Staaten durch einen recht radikalen Kündigungsschutz, Mindestlöhne und eine aktive Arbeitsmarktpolitik mittel- und unmittelbar Beschäftigung und Einkommen sichern und schaffen. Dadurch sind sie weniger darauf angewiesen, durch Steuern und Transfers die Einkommensverteilung sekundär zu verändern.

Bemerkenswert ist indes, dass sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Reformen in Ostasien im Wesentlichen ohne großen Druck seitens der Gewerkschaften oder politischer Parteien mit sozialdemokratischer Orientierung, sondern meist unter konservativen Regierungen, ja sogar Diktaturen, vorangetrieben wurden. Hierin unterscheidet sich die ostasiatische Erfahrung deutlich von der Westeuropas, insbesondere der deutschen und österreichischen.


Ostasiatisches Wohlfahrts-"Modell"?

Die Wohlfahrtssysteme Ostasiens sind durch die nachholenden Entwicklungsstrategien dieser Länder geprägt worden. Dabei rezipierten sie zwar die Erfahrungen der westeuropäischen Länder, die sich lange vor ihnen industrialisiert hatten, zogen aber ihre eigenen Lehren aus diesen Erfahrungen und entwickelten angesichts ihrer jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten ihre eigenen Ansätze und Systeme. Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten der Länder Ostasiens - hohe Bevölkerungsdichten, geringe natürliche Ressourcen, starker Nationalismus, ausgeprägte Leistungsorientierung und Gerechtigkeitsvorstellungen usw. - ist es nicht überraschend, dass sich diese Länder in vieler Hinsicht ähneln und sogar konvergieren. Deshalb kann man auch von einem "East Asian Welfare Model" sprechen. Allerdings enthalten die einzelnen Wohlfahrtssysteme zahlreiche Besonderheiten, so dass jedes System für sich einzigartig ist. Dieses Gemisch aus Einheit und Vielfalt gilt freilich auch für die Wohlfahrtssysteme im Westen.

Im Mittelpunkt der internationalen Debatte über Ostasien und seine Kultur steht die Auseinandersetzung mit kulturessentialistischen Erklärungsmustern. Die Befürworter des kulturessentialistischen Erklärungsansatzes stellten die Andersartigkeit der konfuzianischen Kultur in den Vordergrund und meinten, damit Erscheinungen wie die autoritären Regime dieser Länder und die andersartig konzipierten Wohlfahrtssysteme erklären bzw. rechtfertigen zu können. Die Kritiker dieses Ansatzes stellen die Konvergenz zwischen der ostasiatisch-konfuzianischen und westlichen Kultur in den Vordergrund oder lehnten den kulturessentialistischen Ansatz überhaupt ab. In Bezug auf die Entwicklung des Wohlfahrtssystems legen sie deshalb mehr Wert auf historisch-institutionelle als auf kulturelle Aspekte.

An dieser kontrovers geführten Debatte ist zu erkennen, wie vielseitig die konfuzianischen Kulturen in Ostasien eigentlich sind. In der konfuzianischen Tradition Ostasiens lassen sich sowohl kollektivistische und autoritäre Aspekte, die insbesondere von Verfechtern "asiatischer Werte" unterstrichen werden, als auch humanistische Elemente feststellen. Dies ist im Westen nicht wesentlich anders. Zu den kulturellen Traditionen des Westens gehört nicht nur die Französische Revolution, sondern auch die Erfahrung der Inquisition, des Imperialismus und auch des Faschismus. Allerdings ist es im Westen mit der Aufklärung und den demokratischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Frankreich und den USA gelungen, die kulturellen Grundlagen der Demokratie und erste Formen ihrer praktischen Realisierung zu schaffen. Wie Jürgen Habermas gezeigt hat, gingen Menschenrechte und Demokratie, also die Prinzipien der liberalen Demokratie, im Westen aus dem in der Aufklärung wurzelnden Autonomiepostulat hervor. Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass diese Prinzipien genuin westlich und die kulturellen Traditionen im Westen genuin demokratisch und menschenrechtsfördernd sind. Ebensowenig sind die kulturellen Traditionen in Ostasien genuin autoritär.

Richtig ist, dass in Ostasien die humanitären Aspekte des Konfuzianismus lange nicht in die Gestaltung der Politik eingeflossen sind. Unter den politischen und ökonomischen Gegebenheiten, die sich nach einem turbulenten Jahrhundert (erzwungene Öffnung, Kolonialisierung/Halbkolonialisierung, Krieg und Bürgerkrieg in der Mitte des 20. Jahrhunderts) fanden, konnte man nicht viel Widerstand gegen Entwicklungsdiktaturen erwarten, die eine Besserung versprachen.

Im ausgehenden 20. Jahrhundert gewinnt der Konfuzianismus jedoch als humanistische Lehre an Bedeutung. Diese Tradition, auf deren Grundlage Kang Yuwei im ausgehenden 19. Jahrhundert das moderne China aufbauen wollte, und auf die die neo-konfuzianischen Philosophen in den 20er Jahren ihre Hoffnungen auf eine Erneuerung Chinas und Ostasiens gründeten, erlebt in den politischen Diskursen dieser Länder eine Renaissance. Die im Konfuzianismus enthaltenen demokratischen Entwicklungspotenziale können in Zeiten der politischen Reform und Konsolidierung der Demokratie durchaus zur Geltung kommen.

Im Kern ist der Staat im politischen Denken des Konfuzianismus für das Wohl des Volkes verantwortlich. Gerade deshalb waren die europäischen Philosophen im frühen 18. Jahrhundert von dieser Lehre und ihrem "wohlfahrtsstaatlichen" Staatsverständnis so sehr beeindruckt. Sie ließ sich mühelos mit ihrem eigenen Denken verbinden. Dazu gehörte Christian Wolff, einer der einflussreichsten politischen Denker vor Kant. Johann Heinrich von Justi, der bekannteste Vertreter des Kameralismus in Deutschland, hatte sich ebenfalls von der politischen Idee des Konfuzianismus inspirieren lassen, und gefordert, dass der Staat sich nicht nur für gesunde Staatsfinanzen, sondern vor allem für das materielle Wohl des Volkes einsetzen sollte. Die Tatsache, dass sich Wolff, Justi und andere Philosophen während der frühen Aufklärung in Europa auf das konfuzianische Staatsverständnis stützten, geriet in der Folge der negativen Rezeption des Konfuzianismus durch Kant und später Hegel in Vergessenheit. Trotzdem gehört der wohlfahrtsstaatliche Ansatz im konfuzianischen Denken zum universellen Erbe der Menschheit.


Eun-Jeung Lee (* 1963) ist Professorin an der FU Berlin und leitet dort seit 2008 die Abteilung für Korea-Studien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind interkulturelle politische Ideengeschichte und politische Theorie sowie Politik, Gesellschaft und Kultur in Korea und Ostasien.
Eun-Jeung.Lee@fu-berlin.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 24-26
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2009