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ASIEN/618: Vietnam - Rasante Globalisierung im Schatten des Jahrhundertkrieges (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

Von Gerhard Hofmann

Vietnam revisited -
Rasante Globalisierung im Schatten des Jahrhundertkrieges


Vor 35 Jahren fiel Saigon - Südvietnam kapitulierte. Die Folgen des Krieges sind noch heute spürbar. Und neue Probleme kamen hinzu.


Der "Krieg gegen die USA zur Rettung des Vaterlandes" war zu Ende, das Land wiedervereinigt. 2,5 Millionen Opfer hatte der "Volkskrieg der Massen" gefordert, auf Vietnam waren mehr Bomben als im ganzen Zweiten Weltkrieg gefallen, 50 Millionen Liter des dioxinhaltigen Agent Orange hatten US-Flugzeuge versprüht und fünf Millionen Menschen verätzt. Francis Ford Copollas Apocalypse Now endet 1979 mit den Worten: "Das Grauen".

Der holländische Fotograf Hubert van Es (er schoss das berühmte Hubschrauber-Foto vom Dach des Saigoner CIA-Gebäudes) sagt 30 Jahre später: "Irgendwann verlässt man Vietnam. Aber Vietnam lässt einen nie mehr los." Weit mehr: Vietnam lässt die Eliten des Westens nicht mehr los. Das begann vor 40 Jahren, als der studentische Protest gegen den schmutzigen Krieg der deutschen Schutzmacht USA zu einer der Chiffren der 68er wurde. "Ho Ho Ho Chi Minh" war in aller Ohren - ebenso das "Schaffen wir ein, zwei, drei, viele Vietnam!" Che Guevaras. Für alle Kriege der Amerikaner dient die Niederlage als vergleichendes Menetekel.

Deren Verstrickung begann unter Eisenhower, als 1954 zwölf CIA-Agenten in Saigon landeten, um den Dominostein Südvietnam am Umfallen zu hindern, unter Kennedy wurden daraus 17.000 Militärberater, unter Johnson 300.000 Soldaten.

1956 reisten notleidende vietnamesische Kinder nach Dresden. Walter Ulbricht hatte sie eingeladen, unter ihnen Hung (Name geändert), heute 69: "Ich kam mit den ersten 200, wurde im Maxim-Gorki-Heim untergebracht und habe dort drei Jahre gelebt und gelernt, zuerst Deutsch." Das spricht er noch heute druckreif. Besonders liegt Hung eines am Herzen: "Ich möchte hinzufügen, dass die Deutschen uns gegenüber damals sehr nett und hilfsbereit waren, obwohl sie selbst auch viele Probleme im Leben hatten. Immerhin wurden erst in dieser Zeit die Lebensmittelmarken abgeschafft." Hung blieb sieben Jahre in der DDR, machte sein Abitur und studierte. Erst Ende 1963 kehrte er nach Hause zurück. "Von der Protestbewegung der sogenannten 68er erfuhr ich erst später", berichtet er. "Damals gab es bei uns noch kein Fernsehen, ab und zu konnten wir in Dokumentarfilmen die Proteste in den westlichen Ländern sehen oder im Radio hören, aber mehr aus Schweden, Frankreich oder den USA, wenig aus Westdeutschland."

Vietnam hat heute neben den Kriegsfolgen neue Sorgen - die zunehmenden Taifune etwa. Viet Tin Nguyen muss sich hochrecken, um die Flut des Taifuns Ketsana anzudeuten: "Da oben am Türstock stand das Wasser!" Gleich 14 Deutsche zieren die Wohnzimmerwand des Kleinbauern: die deutsche Fußball-WM-Mannschaft von 2006 und der Papst. Die Familie gehört zur katholischen Minderheit und mag das ferne Deutschland. Nguyens Hof liegt an der Straße, die von der alten Tempelstadt My Son nach Hoi An führt, dem einst größten Hafen Südostasiens. Eine so verheerende Flut wie die von Ketsana mit 53 Todesopfern und 170.000 Sturm-Flüchtlingen hat es seit 50 Jahren nicht mehr gegeben. Doch man lebt mit dem Wasser; der Fluss kommt schnell und geht schnell, sagen sie - in letzter Zeit öfter. "Zwei- oder dreimal im Jahr ist das so, wir hatten rechtzeitig alles im Trockenen - Gottseidank die Reisernte auch."

My Son, einst religiöses Zentrum des Cham-Volkes im Dschungel ("Klein-Angkor-Vat"), hat 1.400 Jahre überdauert. Vor 40 Jahren zerstörten es amerikanische Bomber zu drei Vierteln. Die Dioxinkonzentration ist allgegenwärtig - im ganzen Land werden immer noch viele missgebildete Kinder geboren. "Die Folgen des Krieges sind noch überall zu spüren," so Hung, "abgesehen davon, dass die Menschen schon in dritter Generation durch das Gift geschädigt sind, meine ich, dass eine deutliche Folge dieses Krieges die Demoralisierung im heutigen Vietnam ist. Die Menschen sind irgendwie brutaler, gewalttätiger geworden. Man liest heute täglich in den Zeitungen über Mord und Totschlag, immer öfter aus nichtigen Gründen. Toleranz, Güte, gegenseitige Hilfe sind nicht mehr so deutlich zu spüren oder gar ganz verschwunden - aber das waren gerade die Eigenschaften, auf die wir Vietnamesen stolz waren."


Tradition und Moderne unvereinbar

Aussteiger Frank Hammerschmidt macht derweil in seinem deutschen "Treffpunkt" in Nha Trang, wo er Weißwürste und Weizenbier serviert, eine andere Eigenschaft der Vietnamesen aus: "Sie sind begnadete Verkäufer". Auf Schritt und Tritt trifft der Reisende auf Spuren des Krieges, auf Symbole der Globalisierung (Media-Markt, Canon, Yamaha) und auf - begnadete Verkäufer, etwa während der Bootsfahrt durch die malerischen Höhlen von Tam Coc südlich von Hanoi. Getränke und Obst jeder Art werden zwingend feilgeboten, dazu Tischdecken in allen Größen mit vietnamesischen Motiven (maschinen-)bestickt. Lächelnd spielen sie virtuos die Geige der Bedürftigkeit, der wohlhabende weiße Westfremde wäre ein Schuft, ließe er nicht etwas vom Urlaubsgeld da.

Und auf der Wanderung durch eine Bilderbuch-Landschaft mit pittoresken Reisterassen, Gebirgsbach und Wasserbüffeln im Yunnan-Hochland verfolgen die Hmong-Frauen (eine der 54 ethnischen Minderheiten Vietnams) in ihren farbenfrohen Trachten die Touristen über weite Strecken aufdringlich mit ihrem stur-freundlich-lächelnden "You buy from me!", und oft wird der Fremde erst nach barscher Reaktion aus dem einseitigen Verkaufsgespräch entlassen. Die Hmong und andere Minderheiten verlieren dennoch ihre Identität. Doch wie sollen sie angesichts dutzender Fernsehprogramme in jeder Hütte ihre Eigenart wahren, ständig provoziert von durchs Dorf latschenden reichen Touristen? Tradition und Moderne sind auf Dauer unvereinbar - Letztere gewinnt.

So in Hanoi: Beim ersten Besuch von Kanzler Kohl 1995 war die Metropole eine geheimnisvolle, flüsternde Stadt. Tausende von Radfahrern glitten lautlos durch die Straßen, auf Kreuzungen durchdrangen die Verkehrsströme einander kollisionslos. Heute lärmen und stinken drei Millionen Mopeds und Roller mit teils abenteuerlichen Lasten durch die Hauptstadt.

Nguyen hat wie Hung in der DDR studiert und ist jetzt Vietnams Top-Rehabilitationsmediziner. Seine beiden Brüder kämpften in der Armee des Südens - heute treffen sie einander regelmäßig bei der Mutter im Elternhaus in Dong Ha an der ehemaligen Demarkationslinie, dem 17. Breitengrad. Der Reiseführer weiß: "Die Vietnamesen versuchen keinen Groll zu hegen. Das tut der Seele nicht gut und dem Geschäft schon gar nicht."

Aber etwas bleibt - Hung: "Wie ich über die USA denke? Als im Jahre 2001 in den USA das Terrorattentat geschah, fand zufällig ein Treffen der Kommilitonen statt, die mit mir damals in Deutschland waren, und wir sahen im Fernsehen, wie das Flugzeug in das Hochhaus stürzte und die Amerikaner mit großer Angst, schreiend und chaotisch wegrannten. Da dachten wir alle sofort an die Bombardements der USA in Vietnam. Vielleicht haben sie erst 2001 begriffen, welches Leid sie uns zugefügt haben."


Gerhard Hofmann (* 1948) war u.a. langjähriger Chefkorrespondent von RTL und n-tv. Er ist heute freier Autor und Berater in Nachhaltigkeitsfragen.
dr.gerhard.hofmann@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 14-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2010