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ASIEN/676: Nepal - Frauen als Gipfelstürmerinnen, doch Gewalt bleibt ein Problem (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. November 2010

Nepal: Frauen als Gipfelstürmerinnen - Doch Gewalt bleibt ein Problem

Von Shailee Bhandari


Kathmandu, 2. November (IPS*) - Zehn Nepalesinnen erklommen am 23. Mai 2008 als erstes ausschließlich weibliches Team den Mount Everest. Sie vollbrachten damit nicht nur eine einzigartige sportliche Leistung, sondern hielten für die Frauen ihres Landes eine Botschaft bereit: dass es keinen Gipfel gibt, den sie nicht erklimmen könnten.

Die Expedition zum höchsten Berg der Welt wurde in dem Himalaja-Staat als "großer Sprung für Nepals Frauen" gefeiert. Die Gipfelstürmerinnen - Shushmita Maskey, Shaili Basnet, Nimdoma Sherpa, Maya Gurung, Poojan Acharya, Usha Bista, Asha Kumari Singh, Nawang Futi Sherpa, Chunu Shrestha and Pema Diki Sherpa - nutzen seither ihren Ruhm, um an den Schulen des Landes für Chancengleichheit zu werben.

Frauen spielten in der traditionellen nepalesischen Gesellschaft Jahrhunderte lang eine untergeordnete Rolle. Doch inzwischen haben sie sich ein gewisses Maß an Anerkennung erkämpft - im buchstäblichen Sinn des Wortes: als Teilnehmerinnen des zehnjährigen Bürgerkriegs der Kommunistischen Partei (Maoisten) gegen die ungeliebte Monarchie und als Teilnehmerinnen der Volksproteste, die 2006 die Diktatur von König Gyanendra beendeten.


Neues Frauenverständnis in Kriegszeiten

Bis zum Ausbruch der gewaltsamen Auseinandersetzungen 1996 war der Anblick bewaffneter Frauen und Mädchen in dem damaligen Königreich schier undenkbar gewesen. In der maoistischen Volksbefreiungsarmee waren sie jedoch zahlreich vertreten. Sie stellten mehr als ein Drittel der Kämpfer. Respekt verschaffte den Frauen des südasiatischen Landes aber auch der Umstand, dass sie oftmals die Rolle der alleinigen Familienernährer ausfüllten und/oder sich politisch engagierten.

Der Schweizer Günther Baechler, der als Sonderberater seines Landes entscheidend zum Zustandekommen des nepalesischen Friedensabkommens beigetragen hat, erinnert in einer Rückschau an die besondere Rolle dieser 'Akteurinnen des Wandels', die 2006 in Scharen auf die Straße gingen, um Frieden und Demokratie einzufordern.

Menschenrechtsverletzungen, Straffreiheit und Belange der menschlichen Sicherheit hätten die Entstehung einer landesweiten und sektorenübergreifenden Frauenbewegung nach sich gezogen, die den nepalesischen Aktivistinnen Gehör verschafft habe, meint Baechler.

Obwohl die Frauen nicht zu den Friedensverhandlungen zugelassen wurden, hatten einige unabhängige Frauenaktivistinnen und Mitglieder der Sieben-Parteien-Allianz und der Kommunistischen Partei Nepals/Marxisten (CPN-M) an den Friedensvorverhandlungen, Beratungstreffen und Gesprächen mit dem Friedensbüro (dem späteren Friedensministerium) teilgenommen. Ferner waren sie in der Arbeitsgruppe für Frieden ('Peace Task Force') vertreten, die sich aus Vertretern der politischen Parteien und des Friedensbüros sowie aus lokalen und internationalen Vermittlern zusammensetzten.

"Dass Nepals Frauenaktivistinnen ihr Augenmerk auf die menschliche Sicherheit richteten, verschaffte ihnen das Ansehen von Akteuren, die über Parteiengrenzen hinweg für die komplexe nepalesische Gesellschaft eine unterstützende Rolle spielen", schreibt der Schweizer Konfliktforscher in einem Bericht mit dem Titel 'A Mediator's perspective: Women and the Nepali Peace Process'.


Frauen leisten erfolgreiche Lobbyarbeit

Nepals Frauenbewegung konnte schon vor dem Friedensschluss 2006 Erfolge vorweisen. Mit ihrer Lobbyarbeit erreichten sie 2002 die Verabschiedung eines Gesetzes, das Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert. Im gleichen Jahr wurde das Erbrecht reformiert: Frauen sind somit ab der Geburt erbberechtigt. Vier Jahre später brachte der Oberste Gerichtshof des Landes ein Gesetz zu Fall, das Männern die Scheidung in Fällen erlaubt, in denen ihre Frauen kinderlos bleiben. Kurze Zeit später fiel der einstimmige Parlamentsbeschluss, der Frauen berechtigt, ihre Nationalität an ihre Kinder weiterzugeben.

Ebenfalls 2006 wurde Nepals Frauen in einem Parlamentsbeschluss 33 Prozent aller Posten in allen staatlichen Institutionen zugesichert. Darüber hinaus engagierten sich die Frauen erfolgreich für ein Proporz-Wahlsystem, das ihnen einen fairen Anteil an Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung verschaffte. So sind in der Versammlung 197 Politikerinnen vertreten, die mit einer Stimme sprechen, wenn es gilt, wichtige Frauenrechte in der künftigen Verfassung zu verankern. Außerdem steht mit Sahana Pradham erstmals eine Frau an der Spitze des nepalesischen Außenministeriums. Und seit 2009 hat Nepal ein Gesetz gegen häusliche Gewalt.

Diese vielen positiven Entwicklungen reihen Nepal in die wenigen Staaten ein, die einige Fortschritte bei der Implementierung der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats vorweisen können. Die Resolution, die am 31. Oktober ihren zehnten Jahrestag begeht, fordert die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen in allen Sphären der Friedenssicherung und den Schutz von Frauen vor sexueller und anderer Gewalt.

Hinter den nepalesischen Errungenschaften stehen Frauen wie Pradhan oder Binda Panday, die in den 90er Jahren ebenfalls an vorderster Front für die Wiederherstellung der Demokratie gekämpft hatten. "Es ist so wichtig, dass Gender-Gerechtigkeit Eingang in die neue Verfassung findet", sagt die 44-jährige Frauen- und Friedensaktivistin, die dem Hauptkomitee der Verfassungsgebenden Versammlung für fundamentale Rechte und Direktiven vorsitzt. Dem Ausschuss kommt die Aufgabe zu, die künftigen Bürgerrechte Nepals auszugestalten, die Eingang in die nepalesische Verfassung finden sollen.

Panday, eine der 1.000 Friedensfrauen weltweit, verweist jedoch auf die Vielzahl von Problemen, die noch bewältigt werden müssen. "Wir haben soviel Positives erreicht, doch wenn es zur Umsetzung kommt, stoßen wir an unsere Grenzen", sagt sie. Gerade wenn es um konkrete Maßnahmen geht, etwa sexuelle Gewalt gegen Frauen zu verhindern und den vielen Opfern zu helfen, fungiere das von Männern dominierte politische System als Bremse.

Der Oberste Gerichtshof des Landes war offenbar der gleichen Meinung und hat im Februar 2010 im nepalesischen Jahr zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen die Regierung in Katmandu aufgefordert, die Voraussetzungen für die Einrichtung von 'Känguruh'-Schnellgerichten zu prüfen, die die vielen Fälle von Gewalt gegen Frauen zügig ahnden sollen.


Mehrheit der Vergewaltigungsopfer Kinder und Jugendliche

Aktuelle und verlässliche Zahlen über das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen sind nur schwerlich zu finden. Eine vorläufig letzte und umfangreichere Statistik liefert INSEConline.org, das erste nepalesische Nachrichtenportal zur Situation der Menschenrechte in Nepal. Demnach kam es in dem südasiatischen Land 2008 zu 225 versuchten und vollzogenen Vergewaltigungen.

Die Zahl der weiblichen Opfer gibt INSEC mit 233 an. Die Betroffenen waren zwischen 33 Monaten und 63 Jahre, die große Mehrheit - 162 - keine 16 Jahre alt. In sieben Fällen wurden die Opfer nach dem Missbrauch getötet. In 31 Fällen durchlitten die Mädchen und Frauen eine Gruppenvergewaltigung.

INSEConline erstellte auch ein Profil der Täter, die zwischen 13 and 79 Jahre alt waren und mehrheitlich aus dem Umfeld ihrer Opfer stammten. Aufgrund rechtlicher Schlupflöcher kamen die meisten Täter straffrei davon. Srikanth Poude, Sprecher des Obersten Gerichtshofs von Nepal, spricht in diesem Zusammenhang von einem "rechtlichen Vakuum" und kritisiert, dass es keine Maßnahmen gibt, um die Gewaltopfer zu entschädigen oder ihnen zu helfen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.

Ein weiteres ungelöstes Problem ist der Menschenhandel mit kleinen Mädchen, die zu Tausenden jährlich von ihren Familien als Haushälterinnen vorwiegend nach Indien 'verkauft' werden. Viele von ihnen landen in der Prostitution und werden nach Aussagen von Menschenrechtsorganisationen unter unvorstellbaren Bedingungen ausgebeutet.


Gewalt gegen Witwen und Dalit-Frauen

Schlimmen Übergriffen sind zudem Witwen und Frauen der Kaste der 'Unberührbaren' (Dalits) in den ländlichen Gebieten ausgesetzt. Der UN-Frauenfonds UNIFEM schätzt die Zahl nepalesischer Witwen auf etwa 800.000. Viele sind Kriegswitwen, und 67 Prozent sind keine 35 Jahre alt. Sie hat der Verlust ihrer Männer über Nacht ins gesellschaftliche Abseits gebracht. Diskriminierung, Gewalt, sexuelle Ausbeutung und Rechtlosigkeit prägen sehr oft ihren Alltag.

Als Ärmste der Armen werden Witwen und Dalit-Frauen häufig für Todes- und andere Unglücksfälle zur Verantwortung gezogen. Wie dies aussehen kann, schilderte im letzten Jahr ein Opfer aus dem Bezirk Lalitpur 40 Kilometer südlich der Hauptstadt Katmandu. Nach dem Tod mehrerer Rinder wurde die Nepalesin aufs Schwerste misshandelt, eingesperrt und zum Verzehr ihrer eigenen Exkremente gezwungen. Frei kam sie erst nach einem erzwungenen Schuldeingeständnis. Sie brachte den Fall zwar zur Anzeige, doch die Täter kamen mit einem Bußgeld davon.

Frauenaktivistinnen wie Binda Pandey drängen Nepals männliche Politiker immer wieder dazu, die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen öffentlich zu verurteilen. Doch eine Reaktion ist eher unwahrscheinlich. Günther Baechler wirft den ehemaligen Konfliktparteien vor, die Verfassungsgebende Versammlung vor allem für taktische Spielchen und persönlichen Machtzuwachs zu missbrauchen. Die Chancen sind seiner Meinung nach gering, dass die Frauen "diesen Unsinn der einflussreichen männlichen Parteiführer" beenden können. (Ende/IPS/kb/2010)


* Dieser Beitrag ist Teil eines Kooperationsprojekts mit den PeaceWomen Across the Globe (PWAG), dem deutschen Frauensicherheitsrat, der OWEN-Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung und dem Global Cooperation Council. Anlass des Projekts ist das zehnjährige Bestehen der UN-Resolution 1325.

Shailee Bhandari ist eine auf Frauenthemen spezialisierte nepalesische Journalistin

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010