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FRAGEN/045: Neudefinition von feministischen Narrativen in Tunesien (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 139, 1/17

Neudefinition von feministischen Narrativen in Tunesien

Interview mit Aya Chebbi von May Abu Jaber


Aya Chebbi ist eine preisgekrönte panafrikanische feministische Aktivistin und Bloggerin. Für ihre Arbeit wurde sie 2013 als eine von Africa's most outstanding young women leader und 2015 von Forbes als young achiever genannt. Aya ist Mitbegründerin der Bewegung Coexistence with Alternative Language and Action Movement (CALAM). Sie hat mit May Abu Jaber von AWID [1] über Frauenrechte in Tunesien nach der sogenannten Arabischen Revolution gesprochen.


Was sind die größten Herausforderungen, mit denen Frauenrechtsaktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen heutzutage in Tunesien konfrontiert sind?

Aya Chebbi (AC): Der öffentliche Raum ist für Frauenrechtsaktivist_innen dort, wo es Fundamentalismen gibt, gefährlich. Manche erhalten persönliche Drohungen, andere werden verbal oder auch physisch angegriffen. Zum Beispiel wurde vor einem Jahr ein Mitglied von CALAM, Hazma Abidi, verhaftet und beschuldigt, einen Polizisten angegriffen zu haben - obwohl er ein gewaltfreier Aktivist ist. Hazma wurde von der Polizei zusammengeschlagen, nachdem diese unseren Plan zur Reform von Gefängnissen namens MawKouf (Verhaftet) in seinem Rucksack gefunden haben. Die Realität ist: Wir leben noch immer in einem Polizeistaat, und zwar seit Jahrzehnten; einem Staat, in dem die Polizei Menschenrechtskämpfer_innen und Aktivist_innen schlagen, misshandeln und attackieren kann.

Die Situation hat sich aufgrund neuer Gesetze zur Terrorismusbekämpfung noch verschärft. Diese werden verwendet, um Beschränkungen der Zivilbevölkerung zu legitimieren. Gleichzeitig werden Aktivist_innen nicht vom Staat geschützt, wenn sie mit verschiedenen Formen von nichtstaatlicher Gewalt konfrontiert werden. Im Juli 2014 wurde der Blogger und Aktivist Houssem Saidi ermordet. Er hat das Innenministerium Anfang Juni über seine Ängste informiert und um Schutz gebeten, doch er wurde nicht ernst genommen. Also ist er aus Tunesien in den Nachbarstaat Algerien geflohen, um sich und seine Familie zu schützen. Ein paar Wochen später wurde er tot unter einer Brücke in Algerien gefunden.


Beim Weltsozialforum 2015 hast du betont, die ältere sollte auf die jüngere Generation hören. Welche Rolle hat die Jugend in der Revolution 2010 bis 2011 in Tunesien gespielt? Welchen Einfluss hat sie seitdem auf die tunesische Zivilgesellschaft?

AC: Die tunesische Revolution war durch die Jugend geprägt. Sie hat Ben Ali gestürzt. Junge Menschen waren diejenigen, die mobil gemacht haben, die an der Spitze der Bewegung protestierten, die Polizeigewalt erlebten, die in vielen Städten Tunesiens ihre Leben geopfert haben. Trotzdem sind junge Tunesier_innen immer noch politisch und sozial marginalisiert. Unser Präsident ist 88 Jahre alt. Vorwiegend ältere Männer besetzen wichtige Führungspositionen. Diese Kluft zwischen den Generationen kreiert Misstrauen zwischen Jungen und Älteren.

Nach dem Sturz von Ben Ali hatte die junge Generation Schwierigkeiten, ein neues gemeinsames Ziel und eine neue politische Rolle für sich zu definieren. Unsere Bewegung hat sich durch den Zusammenschluss vieler dezentraler Basisgruppen gebildet. Die Jugendbewegung ist keine homogene Gruppe, wir repräsentieren viele verschiedene Interessen. Einige von uns entschieden sich, in die (traditionelle) Politik zu gehen. Andere haben neue Wege gefunden, um die Zukunft des Landes sinnvoll mitzugestalten.

Sich aus der Politik herauszuhalten war eine bewusste Entscheidung vieler junger Tunesier_innen. Wir haben uns geweigert, uns von korrupten, eigennützigen Politiker_innen manipulieren zu lassen. Wir haben beschlossen, uns von Klientelpolitik zu distanzieren. Wir lehnen es ab, unsere Bewegung in eine politische Partei umzugestalten. Aber wir haben weiterhin unsere Vetomacht auf den Straßen und sind in Interessengruppen, NGOs, Medienkollektiven etc. organisiert. Wir haben neue Formen politischer und ziviler Partizipation gefunden, und ja, wir haben den demokratischen Wandel mitgestaltet! Wir waren beteiligt an Tunesiens neuer Verfassung und beeinflussen politische Entscheidungen - nicht als politische Parteien, sondern durch Mobilisierung der Zivilgesellschaft.


Tunesiens Übergang zu einer Demokratie wird häufig als einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings in der MENA-Region [2] beschrieben. Trotzdem navigiert das Land weiterhin zwischen Konflikten und Friedensbemühungen. Könnten diese Unsicherheiten zu einem Nährboden für die Errichtung eines islamischen Staates in Tunesien werden?

AC: Ich glaube nicht, dass es in Tunesien die Voraussetzungen für die Errichtung eines islamischen Staates gibt. Als die Ennahda die Wahlen 2011 gewonnen hat, haben Wissenschaftler_innen begonnen, Vergleiche zwischen Tunesien und der iranischen Revolution von 1979 zu ziehen. Dennoch, wie du sehen kannst, haben die Säkularen [3] 2015 die Wahlen gewonnen, obwohl die islamische Partei die letzten drei Jahre regiert hat! Das war kein Zufall - es war das Ergebnis von harter Arbeit und dem täglichen Kampf der tunesischen Zivilbevölkerung gegen rückständige Gesetze, Aussagen und Praktiken.

In der Zeit nach den beiden Terrorattacken im Bardo-Museum und in Sousse blieben die Menschen nicht verängstigt zu Hause. Stattdessen sind sie an die Orte der Anschläge gegangen, um dort ein Zeichen gegen Terrorismus zu setzen. Ich glaube, Tunesien wird weiter entschieden gegen Fundamentalismus kämpfen, insbesondere die Jugend und die Frauen. Gleichzeitig muss auch unsere Regierung aktiv werden und strategische Lösungen zur Sicherheit unseres Landes sowie für ökonomische, pädagogische und soziale Probleme entwickeln.


"Our own struggles in our own contexts" ist das Motto deiner Arbeit und deines Aktivismus, insbesondere wenn es um "westliche" Narrative über Feminismus und feministische Bewegungen geht. Inwiefern hat die "westliche hegemoniale feministische Bewegung" die feministischen Bewegungen in Afrika und dem Mittleren Osten beeinflusst?

AC: Patriarchale Macht wird von allen Feminist_innen bekämpft. Diese Macht nimmt in unterschiedlichen Kontexten diverse Formen an. Deshalb müssen wir auch in verschiedenen Weisen damit umgehen. Genau dieser Blick fehlt dem westlichen Feminismus! Westlicher Feminismus erzählt weiterhin seine eigene Geschichte als dominantes Narrativ und konzentriert sich nur auf die Erfahrungen von Frauen in westlichen Kulturen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie unterschiedlich die Identitäten von Frauen in anderen Kontexten sind. Auch in den USA ist westlicher Feminismus ausschließend - von Privilegien profitieren zuallererst Weiße Frauen aus der Mittelschicht.

Wir müssen race, Klasse und Imperialismus in die Geschlechterdebatten miteinbeziehen. Mich frustrieren die universalisierenden Tendenzen des westlichen Feminismus und die mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und sozioökonomischem Status. Die FEMEN-Bewegung war in Tunesien beispielsweise nicht erfolgreich. FEMEN erhebt den Anspruch, arabische Frauen, die gegen den Islam protestieren, zu repräsentieren. FEMEN ermutigt Frauen weltweit, mit nacktem Oberkörper gegen Islamismus zu protestieren. Tatsächlich reproduzieren sie aber jenes Stereotyp, das muslimische Frauen und Frauen aus dem globalen Süden als unterwürfig, hilflos und bedürftig darstellt - als Opfer, die zum Schutz ihrer Rechte auf westliche Feministinnen angewiesen sind.

Islamist_innen in Tunesien versuchen Frauenthemen im Sinne von "Identitätspolitik" zu vermitteln. Während westliche Feministinnen, zum Beispiel FEMEN, die Frauenemanzipation in Tunesien zu einer Identitätsfrage, zu einer Frage des Religions- und Kulturkampfes ummünzen. Tunesische Aktivist_innen versuchen die Diskussion um Frauenrechte als soziales und politisches Thema zu fokussieren, weg von den Identitätsfragen. Mein Anliegen ist es, das Narrativ über Tunesien und den Mittleren Osten sowie seine Frauen zu verändern.


Was können Aktivist_innen anderswo machen, um Frieden und soziale Gerechtigkeit in Tunesien zu unterstützen?

AC: Zuallererst können uns Aktivist_innen rund um die Welt dabei unterstützen, ein Solidaritätssystem aufzubauen. Ich glaube, es ist keine Option mehr in unserer heutigen globalisierten Welt, sich abseits zuhalten. Die Kämpfe in den nächsten zehn Jahren in Afrika, im Mittleren Osten und in anderen Teilen der Welt benötigen transnationale Solidarität.

Zweitens: Helft, das Narrativ zu verändern! Die meisten Nachrichten, die man in den Mainstreammedien hört, verzerren die Zusammenhänge und blenden Geschichten aus. Es ist notwendig, sich Zeit zu nehmen und Blogs oder Tweets über Afrika zu lesen und das Narrativ über unseren Teil der Welt zu korrigieren und in der eigenen Gesellschaft herauszufordern.


Anmerkungen:
[1] The Association for Women's Rights in Development
[2] Das Akronym MENA wird für "Middle East & North Africa" verwendet.
[3] Mit "Säkularen" meint Aya Chebbi die politische Partei Nidaa Tounes, die 2014 die Präsidentschafts- und legislativen Wahlen gewonnen hat. Sie führt eine Regierung an, der auch Mitglieder von Ennahda, der zweitgrößten Partei in Tunesien, angehören.

Dieser Artikel erschien erstmals auf Englisch bei AWID (www.awid.org). Hier handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung.

Übersetzung aus dem Englischen: Verena Kovacs

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 139, 1/2017, S. 26-27
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2017

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