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LATEINAMERIKA/1054: Guatemala - Hunger im Überfluß (medico international)


medico international - rundschreiben 03/09

Hunger im Überfluss
Guatemala: Die Folgen der Ungleichverteilung von Ressourcen in einem fruchtbaren Land

Von Dieter Müller


"Derweil setzt der Tod seine Arbeit in Guatemala fort, diesmal mit Hunger und nicht mit Schüssen."
(zitiert aus einer Agentur-Meldung)

Der guatemaltekische Präsident Colom erklärte am 9. September 2009 einen Ernährungsnotstand. Bereits seit Tagen stand er unter großem Druck, weil immer mehr Fälle dramatischer Unterernährung, vor allem im Osten des Landes, bekannt wurden, und diese von den Gesundheitsbehörden entweder nicht gemeldet oder verharmlost wurden. Der Gesundheitsminister wurde entlassen, nachdem eine Studie seines Ministeriums bekannt wurde, die im Zeitraum von Januar bis Juli 2009 462 Todesfälle aufgrund gravierender Unterernährung konstatierte, darunter 54 Kinder.

Mit der Ausrufung des Notstands trat Colom die Flucht nach vorn an. Wenige Tage zuvor hatte Olivier De Schutter, UN-Sonderbeauftragter für das Recht auf Ernährung, Guatemala besucht und auf die gravierenden Missstände aufmerksam gemacht. Die Sozialausgaben müssten dringend erhöht und Programme zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft umgesetzt werden. Auch der Zugang zu Land, für jene die gar kein Land oder zu wenig besitzen, müsse geregelt und gefördert werden. De Schutter wiederholte nur, was guatemaltekische Organisationen seit Jahren fordern. Zum Beispiel die Kampagne für ein "Guatemala ohne Hunger", in der auch der medico-Projektpartner ACCSS aktiv ist.

Denn die erneute Trockenheit in Guatemala, ausgelöst von dem Klimaphänomen El Niño, die große Teile der Ernte in dem sogenannten "trockenen Korridor" Guatemalas zerstört hat, ist nicht der eigentliche Grund für die aktuelle Katastrophe.

So protestierten kürzlich Tausende Campesinos auf den Straßen von Guatemala-Stadt, begleitet von Bischof Alvaro Ramazzini. Ihr Unmut richtete sich nicht allein gegen die Sonntagsreden der Regierung, sondern auch gegen die internationalen Organisationen, denen sie vorwerfen, letztendlich nur die auf den Export orientierte Großlandwirtschaft zu fördern und die Frage der Landverteilung nicht anzugehen.

Grundnahrungsmittel sind in Guatemala in ausreichendem Maße vorhanden. Der Mehrheit der Bevölkerung fehlen aber die Ressourcen, um genügend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf anzubauen oder zu kaufen. Verschärft wird dies durch die steigende Tendenz der Agrarindustrie, Ländereien für den Anbau von Exportprodukten, insbesondere pflanzlichen Treibstoffen, aufzukaufen oder mit Knebelverträgen zu pachten. Auch die Drogenökonomie verstärkt die Nachfrage nach Land. Zum Schaden der Kleinbauern und der Subsistenzwirtschaft. Unsere Projektpartner im guatemaltekischen Ixcán, die in Dörfern von Kleinbauern leben, sind damit täglich konfrontiert. "Wir verfolgen mit großer Sorge das Vordringen der Palma Africana-Plantagen, die sich gut für die Gewinnung von Bio-Diesel eignet, und die Methoden, mit denen diese Firmen den Kleinbauern das Land abluchsen. Aber auch andere Sektoren, wie die Erdölfirmen und Strukturen der organisierten Kriminalität, versuchen alles, um an Land zu kommen, und gehen dabei nicht gerade zimperlich vor. Die Sicherheitslage hat sich enorm verschlechtert", so die Worte einer Aktivistin, die nicht genannt werden möchte.

"Die Unterernährung ist konkrete Folge einer mangelnden Ernährungssicherheit, mangelnder Bildungsprogramme und vor allem der Ausgrenzung und Marginalisierung der Bevölkerungsmehrheit, die durch die Regierungspolitik gefördert werden", so die Erklärung der Kampagne für ein "Guatemala ohne Hunger". Die guatemaltekische Regierung verletze die von ihr ratifizierte Charta der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Vereinten Nationen, zu denen auch das Recht auf Gesundheit zählt, für das medico gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen, auch in Guatemala, streitet.

Die guatemaltekischen Organisationen klagen in ihrer Erklärung an, dass die natürlichen Ressourcen als Waren gesehen werden, die beliebig gehandelt werden können, ohne Rücksicht auf die verheerenden Folgen für Umwelt und die betroffenen Menschen. Sie wenden sich gegen die Steuervergünstigungen oder gar -befreiungen, die vor allem exportorientierten Unternehmen gewährt werden, und fordern deren Besteuerung zugunsten von Investitionen in soziale Dienste und Infrastruktur, die der Bevölkerung in den ländlichen Regionen zugutekommen.

Die ungerechte Landverteilung ist Ausgangspunkt der guatemaltekischen Tragödie. Nur in den 50er-Jahren unter Präsident Jacobo Arbenz wurde eine Agrarreform in die Wege geleitet. Sie richtete sich unter anderem gegen die allmächtige United Fruit Company. Diesem demokratischen und sozialen Aufbruch bereitete ein von den Vereinigten Staaten inszenierter und finanzierter Putsch ein jähes Ende. Es folgten die dunklen Jahrzehnte der Militärdiktaturen, in denen das Verschwindenlassen von Oppositionellen und die Politik der verbrannten Erde mit hunderttausenden Opfern unter der indigenen Bevölkerung das Leben bestimmten. Seit dem Friedensschluss von 1995 hat sich an den sozialen Rahmenbedingungen nichts geändert. Eine Landreform fand nicht statt. So gut und wichtig die Arbeit der guatemaltekischen Kollegen in den psychosozialen und gesundheitlichen Programmen ist: Eine nachhaltige Wirkung können sie nur erzielen, wenn sich etwas an diesen sozialen Rahmenbedingungen grundlegend ändert.


Projektstichwort

Seit vielen Jahren unterstützt medico die Gesundheits- und Gemeindeprogramme der guatemaltekischen Gesundheitsorganisation ACCSS bei der Errichtung von Gesundheitszentren, Ausbildung von Zahnpromotoren und in der Arbeit mit Jugendlichen in den armen ländlichen Regionen. Außerdem wird in Guatemala die Menschenrechts- und psychosoziale Arbeit mit indigenen Gemeinden gefördert.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 03/09, Seite 8-10
Herausgeber: medico international, Burgstraße 106
60389 Frankfurt am Main
Tel.: (069) 944 38-0, Fax: (069) 436002
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2009