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LATEINAMERIKA/1230: Großteil der Erdbebenopfer in Haiti wartet auf Hilfe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Februar 2011

Haiti:
Wohnungsbaupläne unzureichend - Großteil der Erdbebenopfer wartet auf Hilfe

Von Jane Regan


Port-au-Prince, 15. Februar (IPS) - Mehr als ein Jahr nach dem schweren Erdbeben hat die Haitianische Interimskommission für den Wiederaufbau (CIRH) ein lang erwartetes Wohnungsbauprogramm für Obdachlose aufgelegt. Allerdings sollen nur diejenigen ein Dach über dem Kopf erhalten, die schon vor der Katastrophe Wohnraum besaßen. In der Bevölkerung wächst zudem die Unzufriedenheit mit den Nichtregierungsorganisationen, die mit dem Wiederaufbau bisher nur langsam vorankamen.

Protest gegen Finanzgebaren von NGOs in Haiti - Bild: © Jane Regan/IPS

Protest gegen Finanzgebaren von NGOs in Haiti
Bild: © Jane Regan/IPS

Laut einem 30-seitigen CIRH-Rahmenkonzept, das 'Haiti Grassroots Watch' vorliegt, sollen zerstörte Stadtviertel wiederaufgebaut und die Infrastruktur verbessert werden. Nicht nur Obdachlose, sondern auch Haus- und Wohnungseigentümer, die derzeit unter besonders prekären Umständen leben, sollen in die neuen Gebäude ziehen. Die Allerärmsten werden dabei aber das Nachsehen haben.

"Mit wenigen Ausnahmen werden nur diejenigen berücksichtigt, die bereits vorher ein Haus oder eine Wohnung besaßen", sagte Priscilla Phelps, die die CIRH und die Weltbank berät, im Gespräch mit IPS. Mehr als 190.000 Familien werden somit weiter auf der Straße leben. Das sind mehr als die Hälfte der insgesamt 1,3 Millionen Haitianer, die durch das Beben ihre Bleibe verloren haben. Wie aus dem Rahmenkonzept hervorgeht, sollen Wohnungseigentümer und Mieter den Status behalten, den sie früher hatten.


Trümmerschutt behindert Wiederaufbau

Selbst bei der Errichtung provisorischer Unterkünfte haben die Haitianer bisher nur zögerliche Fortschritte feststellen können. Internationalen Hilfsorganisationen stehen insgesamt zwar rund 100 Millionen US-Dollar für den Bau von 111.240 so genannter "T-Shelters" zur Verfügung. Da vielerorts der Trümmerschutt noch nicht geräumt wurde, waren Anfang Februar erst 43.100 der durchschnittlich 18 Quadratmeter großen Hütten fertig.

Die Besitzverhältnisse in dem Karibikstaat sind zudem äußerst unübersichtlich. Die meisten Geber wollen sich erst dann finanziell engagieren, wenn alle Landbesitzrechte zweifelsfrei geklärt sind. Baufirmen stehen bereits mindestens 174 Millionen der insgesamt zugesagten 350 Millionen Dollar bereit, mit denen in diesem Jahr Häuser repariert oder aufgebaut werden sollen. Von den etwa 193.000 Gebäuden, die nach dem Beben nicht mehr bewohnbar waren, wurden bisher erst 2.547 instandgesetzt und 1.880 wiedererrichtet.

Hunderttausende, die in behelfsmäßigen Zeltstädten ohne ausreichende sanitäre Anlagen wohnen, können in näherer Zukunft nicht auf eine Besserung ihrer Lage hoffen. Durchschnittlich 392 Menschen müssen sich dort eine Latrine teilen.

Sanon Renel von der haitianischen Hilfsorganisation FRAKKA ist über die Situation empört. Er verglich das Wohnungsbauprogramm mit der früheren südafrikanischen Apartheidpolitik. Viele Menschen würden von der Hilfe einfach ausgeschlossen, sagte er IPS.

Zahlreiche Haitianer haben durch das Erdbeben nicht nur das Dach über dem Kopf, sondern auch ihre Arbeit verloren. Auch größere Summen Geld, die für Miete und Schulgebühren gezahlt wurden, sind verloren. In Haiti ist es üblich, für sechs, zwölf oder sogar 24 Monate die Miete im Voraus zu zahlen.

Renel geht davon aus, dass viele Familien Jahre brauchen, um die Verluste auszugleichen. "Diese Leute sind Fabrikarbeiter oder Tagelöhner", erklärte er. In einigen Fällen seien Bauern in die Stadt gezogen, weil sie auf dem Land kein Auskommen mehr gefunden hätten. "Sie sind die ewigen Opfer eines Wirtschaftssystems, das reiche Großgrundbesitzer schützt."

Der Plan der mit dem Wiederaufbau beauftragten Interimskommission, in der die Geber ein starkes Gewicht haben, wurde bislang weder von der Regierung noch vom Parlament in Port-au-Prince gebilligt. Kritiker beanstanden außerdem, dass er nie öffentlich überprüft und diskutiert wurde. Den CIHR-Vorsitz führen der ehemalige haitianische Premierminister Jean-Max Bellerive und der frühere US-Präsident Bill Clinton.


Minister von Wohnungslosen in die Flucht geschlagen

Jean-Christophe Adrian vom UN-Siedlungsprogramm Habitat ist dennoch zuversichtlich. "Das Dokument zeigt einen Konsens", meinte er. Die Behörden haben sich bislang aber erst zu einem Projekt öffentlich geäußert, das den Bau von bis zu 4.000 Wohneinheiten im Hauptstadtviertel Fort National vorsieht. Als Sozialminister Gérard Germain im Januar zur Grundsteinlegung kam, wurde er jedoch von zornigen Obdachlosen verjagt. Phelps kritisierte wiederum, dass die Regierung die CIRH bei diesem Vorhaben außen vor gelassen hat.

Laut der niederländischen Autorin Linda Polman, die das Buch 'The Crisis Caravan - What's Wrong with Humanitarian Aid?' geschrieben hat, sind so viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Haiti, weil Geber hohe Zusagen gemacht hätten. "Diese Organisationen sind Teil eines multinationalen, milliardenschweren Geschäftszweiges", sagte sie. Schließlich stellten Geberländer jährlich bis zu 130 Milliarden Dollar im Jahr für humanitäre Zwecke bereit - private Spenden noch nicht eingerechnet.

Nach Polmans Schätzungen sind derzeit etwa 2.000 ausländische NGOs in Haiti anwesend. "Sie machen dort Geschäfte, und manchmal werden dabei keine moralischen Entscheidungen getroffen." Haitianische Hilfsorganisationen halten den fremden Helfern vor, nicht genügend Unterstützung in ausreichender Qualität zu leisten. (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2011