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LATEINAMERIKA/1338: Chile - Protestbewegung beendet Straßenblockaden in vernachlässigter Region Aysén (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. März 2012

Chile: Protestbewegung beendet Straßenblockaden in vernachlässigter Südregion Aysén

von Marianela Jarroud

Proteste vor Sitz der Regierung von Aysén - Bild: © Sozialbewegung für die Region Aysén

Proteste vor Sitz der Regierung von Aysén
Bild: © Sozialbewegung für die Region Aysén

Santiago, 8. März (IPS) - In der südchilenischen Unruheregion Aysén haben die Organisatoren der jüngsten Sozialproteste einstimmig beschlossen, die dreiwöchigen Straßenblockaden zu beenden. Die Regierung zeigte sich ihrerseits zur "unverzüglichen" Aufnahme des Dialogs bereit.

Wie Julio López, Regionalvertreter der Nationalen Vereinigung der Verwaltungsangestellten, erklärte, werden die Proteste eingestellt, um die Not der Menschen in der Region nicht noch weiter zu verschlimmern. So hätten die Blockaden viele Menschen von der ohnehin prekären Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Gebrauchs abgeschnitten.

Wie López betonte auch der Sprecher der Sozialbewegung der Region Aysén, Iván Fuentes, dass die Not der Menschen und nicht die Forderung der Regierung den Ausschlag gegeben habe, die Protestaktionen auszusetzen. Santiago hatte die Aufnahme von Gesprächen von der Aufgabe der Straßenblockaden abhängig gemacht.


Hoffnung auf nachhaltige Verhandlungen

Die lokale Protestbewegung hofft nun auf ernsthafte Verhandlungen, die die "historische" Vernachlässigung der Region 1.640 Kilometer südlich der Hauptstadt beenden werden. Vom Rest des Landes weitgehend abgeschnitten, mangelt es der Bevölkerung an einer grundlegenden Infrastruktur, an Bildungsangeboten und medizinischer Versorgung.

Außerdem sind die Kosten für viele Güter exorbitant hoch, weil sie von weit her angeliefert werden müssen. So kostet der Liter Benzin fast zwei US-Dollar und das Kilo Brot drei Dollar. 200 Dollar müssen die Menschen im Monat für Holz bezahlen, auf das sie in der unwirtlichen und kalten Region angewiesen sind. Eine Kilowattstunde Strom kostet doppelt so viel wie in Santiago.

Die Einwohner von Aysén haben einen Elf-Punkte-Katalog aufgestellt, in dem sie unter anderem Verbindungsstraßen und andere Infrastrukturmaßnahmen fordern. Darüber hinaus wollen sie künftig an den Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Rohstoffe stärker beteiligt werden. Auch verlangen sie eine Verbesserung der Gesundheits- und Bildungsversorgung sowie eine Senkung der Preise für Güter des täglichen Bedarfs.

Die zur Sozialbewegung der Region Aysén zusammengeschlossenen Bauern-, Fischer-, Indigenen-, Gewerkschafts- und anderen Verbände wollen den gesamten Forderungskatalog durchsetzen. "Es gibt nicht einen einzigen Punkt, den wir auslassen könnten", sagte der Vorsitzende der Vereinigung der Fischer von Puerto Aysén, Henry Angulo. Die Punkte spiegelten die Probleme der Menschen wie Armut, Vernachlässigung und schlechte Löhne.

Bis vor kurzem hatte sich die Regierung von Staatspräsident Sebastián Piñera strikt geweigert, mit der Protestbewegung in den Dialog zu treten. Stattdessen wurden die Sicherheitskräfte ausgeschickt. Dabei kam es zu Übergriffen auf Zivilisten. Menschenrechtsorganisationen wie 'Amnesty International' berichteten von der Misshandlung festgenommener Personen und Engpässen bei der Versorgung verletzter Aktivisten.

Die Gewalt empörte die Menschen vor Ort. Sie hatten dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Piñera bei der Stichwahl 2010 ganze 58,5 Prozent ihrer Stimmen gegeben.

"Diese Regierung hat keine Ahnung, was derzeit in Chile abläuft. Sie versteht die sozialen Bewegungen und deren Beweggründe nicht", meinte die Soziologin Marta Lagos, die das unabhängige Meinungsforschungsinstitut 'Latinobarómetro' leitet. Mit ihrer Vorgehensweise heize die Piñera-Administration die Konflikte an, ohne sich dessen bewusst zu sein. "Wir haben es hier mit einem Unverständnis der Politik zu tun."

Doch inzwischen scheint die Regierung zumindest theoretisch bereit zu sein, mit den Menschen vor Ort zu reden. So halten sich Energieminister Rodrigo Álvarez und der Staatssekretär im Präsidialamt, Claudio Alvarado, derzeit zu Verhandlungen in Aysén auf.


"Unser Ruf wird in ganz Chile gehört"

Wie Iván Fuentes betonte, ging es den Demonstranten anfänglich darum, die Regierung auf die schwierigen Lebensbedingungen in Aysén und ganz Patagonien aufmerksam zu machen. "Doch inzwischen wird unser Ruf in ganz Chile gehört. Es ist gut zu wissen, dass uns das ganze Land unterstützt."

Chile befindet sich seit den Studentenprotesten 2011, den größten in der Geschichte des Landes, im Daueraufstand, wie die Latinobarómetro-Chefin erläutert. Wie lange dieser Zustand anhalten werde, sei unbekannt. "Das Land erlebt einen Wandel: Die Menschen haben keine Angst mehr auf die Straße zu gehen und Steine zu werfen", sagte sie. "Oder besser gesagt, sie haben gelernt, Steine gegen die Mächtigen aller Sphären zu werfen." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://despiertaaysen.blogspot.com/p/demandas.html
http://www.latinobarometro.org/latino/latinobarometro.jsp
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100298

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IPS-Tagesdienst vom 8. März 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2012