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LATEINAMERIKA/1345: Grundlage für die Industrialisierung - der anderen (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 13 vom 30. März 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Grundlage für die Industrialisierung - der anderen
Der Ressourcenreichtum untergräbt Südamerikas Natur
und das Verhältnis von Linksregierungen und ihrer Basis

von Günter Pohl



Ein neues Wort geht um in Lateinamerika - der "Extractivismo". Selbst die Real Academia Española, die Königliche Spanische Akademie, die sich als Hüterin der spanischen Sprache versteht, verzeichnet den Begriff noch nicht. Für uns ungewohnt, lässt sich die Wortschöpfung vielleicht als "Extraktionsprinzip", aber wohl am besten mit "Förderwut" umschreiben.

Es geht um den immer ungezügelter werdenden Drang des (europäischen, chinesischen und nordamerikanischen) Menschen, aus der Erde herauszuholen, was für den Fortschritt - und zwar dort in Europa, China oder den USA - gebraucht wird. Eigentlich auch in Lateinamerika selbst, aber das ist hochverschuldet. Und so wird fast alles verkauft, was sich unter der Erde befindet. Auch ohne Troika.

Bei den Debatten des Weltsozialforums Ende Januar im brasilianischen Porto Alegre wurde unter anderem über die Ideologie eines "grünen Kapitalismus" debattiert, als eine der letzten Möglichkeiten dieses Wirtschaftsmodell zu retten. Dabei ist für Länder mit entsprechenden klimatischen Voraussetzungen die Nachfrage nach "Biodiesel" (will sagen: Agrotreibstoffen) mehr Bedrohung als Geschäft, weil diese Monokulturen befördern und Nahrungspreise steigen lassen. Und Länder mit wichtigen (seltene Erden, Edelmetalle) oder großflächig auftretenden Rohstoffen (Kohle) sehen sich den Drohungen des so genannten "nachhaltigen" bzw. "verantwortlichen Bergbau" gegenüber. Das sind die Zauberworte, die der Kapitalismus zu seiner Runderneuerung braucht. Denn vielleicht sind die Naturverwüstungen aller Art, die er hinterlässt und provoziert, für seine Überwindung für die Metropolenbewohner/innen ein stärkerer Anreiz als die finanziellen Verwüstungen durch seine Krisen - nachhaltiger sind sie allemal.

Sieben der zehn wichtigsten Mineralienlieferanten der Welt sind südamerikanische Länder. Der Ressourcenreichtum - Erdöl, Erdgas, Kohle, Silber, Gold, Edelsteine, Mineralien und Metalle aller Art - ist auch der Grund, dass Südamerika (Mittelamerika und die Karibik sind insgesamt rohstoffärmer) die kapitalistischen Krisen seit 2008 relativ ungeschoren überstanden hat. Die anhaltend guten Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts vor allem der Andenstaaten Chile, Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien ergeben sich in erster Linie aus der Förderung von festen Minenmaterialien; bei Venezuela sind das Erdöl und -gas. Zuletzt zeigten auch Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay stärkeres Wachstum, was bei den letzteren allerdings mehr auf landwirtschaftliche Produkte zurückgeführt werden kann. Die Nachfrage kommt zum einen aus China und anderen asiatischen Staaten mit Wachstumsraten oberhalb des Weltmittels, aber auch Europa kauft, was die Industrieproduktion am Laufen hält (Erdöl aus Venezuela) oder zur Energiegewinnung erforderlich ist (Steinkohle aus Brasilien und Kolumbien). Dabei sind z. B. die chinesischen Einkäufe auf den ersten Blick für beide Seiten relativ attraktiv: China kann seine Devisenreserven unterbringen und befriedigt den Rohstoffbedarf - Südamerika bedient die Auslandsschulden und verbessert die Infrastruktur. Denn die Vorgaben der 2.000 beschlossenenen "Südamerikanischen Regionalen Infrastrukturinitiative" (IIRSA) werden Stück für Stück umgesetzt, und es zeigt sich einmal mehr, dass eine gesellschaftliche Entwicklung von der ökonomischen Basis nicht zu trennen ist. Die Straßenbauten verbinden Länder, deren Kolonialstatus sie über Jahrhunderte bewusst von einander getrennt ließ - aber sie sind auch die Wege, über die die Reichtümer exportiert werden. Früher getrennt beraubt, werden sie heute vereint geplündert.

Wenn zwischen Venezuela und Kolumbien, inmitten schwierigster Beziehungen, der Bau einer Pipeline, die venezolanisches Öl über Kolumbien und Panama nach China verschiffen soll, nie in Frage stand, oder wenn Boliviens Regierung für ein IIRSA-Straßenbauprojekt von Brasilien nach Peru einen schweren Konflikt mit der indigenen Bevölkerung eines Nationalparks riskierte - dann wird oberflächlich betrachtet der Unterschied zwischen Regierung und Macht klar. Aber wichtiger für eine korrekte Analyse ist der zweite Blick: Macht und Regierung können nicht nur in konservativ regierten Ländern wie Kolumbien oder Chile, sondern auch in fortschrittlich orientierten Staaten wie Ecuador oder Bolivien durchaus eine Symbiose eingehen und ihre Unterscheidung bisweilen hinfällig machen. Denn es geht um Geld. Geld, das die einen Regierungen ihrer Oberschicht belassen und mit dem die anderen Regierungen Programme für die Armen finanzieren - worin derzeit der wichtigste Unterschied zwischen konservativen und fortschrittlichen Regierungen liegt. Gleich aber ist: in beiden Fällen verdienen ausländische Konzerne mit, je nach Höhe der Abgaben, die die Förderunternehmen an den Staat zu leisten haben - die variieren je nach Regierung. Und in beiden Fällen gibt es zwei Verlierer: die Umwelt und die Menschen, die das Pech haben in der betreffenden Gegend zu leben. Und das passiert in Peru, Kolumbien, Argentinien oder Ecuador weitgehend unterschiedslos. Der Soziologe Eduardo Gudynas vom Lateinamerikanischen Zentrum für soziale Ökologie nennt die Linksregierungen daher die "braune (= erdfarbene) Linke", in Anspielung auf die eigentlich "rote Linke". In Kolumbien sind fünfzig Prozent des Gebietes in Schürfkonzessionen für ausländische Großkonsortien und -unternehmungen eingeteilt, und im ALBA-Land Ecuador schickt die Regierung zur Not auch Militär in die Anden, wenn die Anwohner sich gegen die Zerschredderung ihrer Berge und die Vergiftung des Wassers zur Wehr setzen. Die Interessen des Staates an seiner wirtschaftlichen Entwicklung wiegen mehr al s der "Infantilismus der Umweltschützer", wie es Ecuadors Präsident Correa nennt. Das ist gar nicht einmal so falsch - aber dass auch neue Verfassungen nicht vor alten Methoden ihrer Ignorierung bewahren, ist ebenso wahr.

Die ecuadorianische Regierung war vor vier Jahren mit dem Vorschlag der Nichtausbeutung des ITT-Ölfeldes im Nationalpark Yasuní im empfindlichen Amazonasgebiet an die Weltöffentlichkeit gegangen und machte damit Furore: gegen die Zahlung der Hälfte der aus dem Verkauf von 846 Millonen Barrel Erdöl erzielbaren 7,2 Milliarden US-Dollar innerhalb von zwölf Jahren würde das Öl nicht angetastet und so ein großer Schaden im empfindlichen Amazonasbecken vermieden. Sollte theoretisch weltweit nur von dort Öl kommen - ganze sechzehn Tage würde die Menschheit bei Beibehaltung des heutigen Verbrauchs vom Öl des ITT konsumieren können. Aber der Vorschlag Ecuadors ist bislang auf wenig Gegenliebe gestoßen: ganze 2,5 Millionen sind bis Dezember überwiesen worden und auf 114 Millionen belaufen sich derzeit reine Versprechungen. Die 35 Millionen, die Deutschland beisteuern will, sind allerdings nicht für die Initiative, sondern an den Umweltschutz im Yasuní gebunden. Was noch weniger bekannt ist: im Nationalpark Yasuní sind inzwischen die Bohrungen durch die staatliche PetroAmazonas in Zusammenarbeit mit REPSOL (Spanien) und der brasilianischen PetroBras im Gange: täglich werden 18.000 Barrel gefördert. Und das Land macht weiter: mit der kanadischen Firma Kinross spricht man über Lizenzen zur Ausbeutung von 6,4 Millionen Unzen Gold - im Amazonasgebiet.

Auch sonst hat nicht der Umweltgedanke Priorität, sondern "nicht als Bettler auf einem Sack Gold zu sitzen" (Rafael Correa). Am 5. März unterschrieb Ecuador nach einjährigen Verhandlungen einen Vertrag mit der chinesischen ECSA über 25-jährige Kupfer-, Gold- und Silbertagebauarbeiten in der "Cordillera del Cóndor" in der Provinz Zamora Chinchipe im Süden des Landes. Insgesamt sieht das Land Bergbauprojekte in einer Gesamthöhe von 185 Milliarden US-Dollar vor, davon 117 Milliarden allein durch Kupferabbbau; aus der Kondorkordillere, dem ersten Großprojekt dieser Art in der Geschichte des Landes, sollen durch ECSA 20 Milliarden US-Dollar gezogen werden. Davon, so die Zeitung "El Mercurio", verbleiben dem Staat 5,4 Milliarden - 52 Prozent des Gewinns nach Abzug der Kosten, womit die staatliche Rendite beim Bergbau höher als in Mexiko (30 %) oder Chile (36‍ ‍%), aber niedriger als beim eigenen Erdöl (85% nach ecuadorianischem Gesetz) läge. Die chinesischen Anleger investieren vorab 100 Millionen in die Entwicklung der benachbarten Gemeinden - bzw. dem, was davon übrig bleiben wird, denn nicht ungewöhnlich ist es, dass ein Minenprojekt das nächste nach sich zieht. Besonders, wenn der erste Widerstand gebrochen ist. In Ecuador wird der allerdings von der kampferprobten CONAIE, der Konföderation der indigenen Nationalitäten, getragen, die landesweit vom 8. bis zum 22. März gegen das Projekt marschierte. Kaum etwas wird für die Ansässigen abfallen: es sollen zwar 3 100 Arbeitsplätze geschaffen werden - aber das Kupfer wird in China weiterverarbeitet, das übliche Modell also. Für den Kupfertransport werden einige Straßen gebaut und der Bananenhafen in Puerto Bolívar angepasst. An die versprochene Renaturierung durch die ECSA glaubt die CONAIE nicht.

Der Widerstand, besonders gegen Bergbauprojekte aller Art als evidenteste Form der Landschaftszerstörung, ist in den Ländern, wo Massenbewegungen linke Regierungen ermöglicht haben, heute genauso präsent wie in den Ländern, wo das nicht der Fall war. Die spanischsprachige Seite www.conflictosmineros.net des Observatoriums von Bergbaukonflikten in Lateinamerika (OCMAL) berichtet von einer Vielzahl von sozialen und Umweltschäden durch Bergbauprojekte. Der Argentinier Horacio Machado schrieb am 13. Februar für die auf gesellschaftspolitische Berichte spezialisierte Nachrichtenagentur ALAI/AMLATINA: "Zu der Enteignung unserer Wasserquellen, unserer Energie und der Mineralien kommt nun die politische Enteignung: Enteignung der Rechte und des Willens des Volkes. Systematisch sehen wir diejenigen politischen Parteien Wahlen gewinnen, die die Verteidigung der Wasserquellen versprechen, oder den Schutz der Rechte; und wiederholt sehen wir sie dann eben diese Versprechen 'im Namen des Fortschritts' brechen. (...) Investitionen seien nötig um Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln. (...) Aber warum sollten denn wir die Grundlage für die Industrialisierung Chinas, Indiens oder der Länder des Nordens sein?"

Im makroökonomisch boomenden Peru, das in Lateinamerika auf Platz eins und weltweit auf dem sechsten Platz der Goldförderländer steht, sind es nur 32 Prozent, die dem Staat vom Bergbaugewinn bleiben. Das dürfte sich auch mit der neuen Regierung des Nationalisten Ollanta Humala nicht ändern, der 2011 den Rechtssozialdemokraten Alan García ablöste. Die gewaltsame Lösung von Bergbaukonflikten ist jedenfalls geblieben: in der Provinz Cajamarca ist das fünf Milliarden US-Dollar schwere Gold-, Silber- und Kupferprojekt "La Conga" zwar von der dortigen Regionalregierung wegen der Grund- und Flusswassergefährdung abgelehnt worden, wird von der Zentralregierung zur Not gewaltsam angegangen. Über siebzehn Jahre sollen im Tagebau täglich 92.000 Tonnen Material abgebaut werden, wovon 80.000 Tonnen toxische Rückstände haben werden. Vergessen sind die Versprechen des neuen Präsidenten, der die Steuerprivilegien der Bergbauunternehmen verändern und ihre Verträge überprüfen wollte. Denn ein Zurückweichen in Cajamarca, wo die sechs größten Bergbauunternehmen der Welt arbeiten, so der widerständige Regionalpräsident Gregorio Santos, würde wohl Auswirkungen auf die Verfassung und die gesamte Steuergesetzgebung des Landes haben. Derweil ist aus Protest ein Teil der Linken aus der Regierung Humala ausgetreten; ein "Marsch für das Wasser" fand in der ersten Februarhälfte statt. Damit haben die Bauernorganisationen das Projekt vorerst bremsen können. Auch in Kolumbien gibt es massive Proteste, darunter im "Páramo de Santurbán" auch einen erfolgreichen: ein Goldtagebau, der durch die Auswaschungen mit Zyanid, Arsen und Quecksilber die Wasserreservoirs von über zwei Millionen Menschen bedroht hätte, wurde vom Umweltministerium vorerst gestoppt.

In Panama hingegen hat die konservative Regierung bei der Niederschlagung von indigenen Protesten in deren Landstrich Ngäbe-Buglé schon zwei Tote zu verantworten. Nach der Streichung des Artikels 5 aus dem Bergbaukodex, der die Aberkennung aller Minenlizenzen im Ngäbe-Buglé-Gebiet vorgesehen hatte, waren die örtlichen Gemeinschaften besonders gegen den Bergbau im Cerro Colorado vorgegangen - dort werden 17,5 Millionen Kilogramm Kupfer vermutet, was 150 Milliarden Dollar entspräche. In San Félix waren Sondereinheiten der Polizei mit Tränengas und Schrot gegen die Demonstrierenden vorgegangen. In Uruguay will die Mitte-Links-Regierung ein Megaeisenerzprojekt angehen; und das - so Eduardo Gudynas - sogar ohne ein Wahlversprechen zu brechen: denn das Programm war gar nicht erst auf die Umwelt eingegangen. Und in Argentinien gibt es augenblicklich Bergbauauseinandersetzungen in zwölf Provinzen, darunter in Andalgalá (Provinz Catamarca), wo das Unternehmen "La Alumbrera" unter Zuhilfenahme von Schlägertrupps mit handgreiflichen Methoden auf protestierende Anwohner/innen reagiert. Brasilien ist statt wegen seines Steinkohleabgrabens bezeichnenderweise mehr durch das Staudammprojekt Belo Monte im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará in den Schlagzeilen. Mit der Stauuung des Xingu zum drittgrößten Staudamm der Welt unterstützt das Land die Entwicklung einer eigenen Industrie, was natürlich den Argwohn von allerlei Nichtregierungsorganisationen der schon industrialisierten Welt nach sich zieht.

Denn die Bergbauprojekte in Drittweltländern sind nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen problematisch: bei reinem Ressourcenexport fällt kaum Mehrwertschöpfung und praktisch keine nachholende Entwicklung ab, denn die Veredelung findet wie üblich in den Metropolen statt, weshalb die Abhängigkeit in der globalisierten Arbeitsteilung zementiert wird. Ressourcen sind eben - so der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz - mehr Fluch als Segen.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 13 vom 30. März 2012, Seite 9
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2012