Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1449: Mexiko - Bürgerkriegsähnliche Zustände im Bundesstaat Michoacán (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Januar 2014

Mexiko: Bürgerkriegsähnliche Zustände im Bundesstaat Michoacán

von Daniela Pastrana


Bild: © Félix Márquez/IPS

Mitglieder einer Bürgerwehr auf Patrouille in Nueva Italia, einer Kleinstadt in Tierra Caliente im mexikanischen Bundesstaat Michoacán
Bild: © Félix Márquez/IPS

Mexiko-Stadt, 17. Januar (IPS) - "Die Armee beschloss, auf die Menschen zu schießen", kommentierte Estanislao Beltrán, ein Sprecher der 'Selbstverteidigungskräfte' im südwestmexikanischen Bundesstaat Michoacán, gegenüber dem Rundfunksender 'Radio Nacional' den fehlgeschlagenen Versuch der Zentralregierung, die Bürgerwehr in dem südwestmexikanischen Bundesstaat zu entwaffnen. Nach offiziellen Angaben starben bei dem Militäreinsatz am 13. Januar zwei unbewaffnete Zivilisten. Andere Quellen sprechen von vier Todesopfern.

Die Michoacán-Region Tierra Caliente befindet sich derzeit in einer bürgerkriegsähnlichen Situation, für die es keine Lösung zu geben scheint. Im Februar 2013 hatten sich dort die Einwohner mehrerer Städte bewaffnet, um sich vor den sogenannten 'Tempelrittern', einem vor Ort aktiven Drogenkartell zu schützen. Die Agrarregion ist das größte Avocado-Anbaugebiet der Welt, Standort zahlreicher Minen und des drittgrößten mexikanischen Hafens Lázaro Cárdenas.

Die Tempelritter sind die Folgegeneration des Drogenkartells 'Die Familie', das während der Regierungszeit des ehemaligen Präsidenten Felipe Calderón (2006-2012) zunächst mit dem Vorsatz gegründet wurde, die Menschen in Michoacán vor den 'Zetas' zu schützen. Die Zetas sind dafür bekannt, besonders brutal vorzugehen.

Doch der Vorsatz war schnell vergessen und Die Familie begann damit, Unternehmer, Rancher und Bauern zu entführen, um Lösegelder zu erpressen. Die Bande war so mächtig, dass sogar Geschäftsführer und Manager transnationaler Konzerne wie des mexikanischen Kartoffelchipsherstellers 'Sabritas', eine Niederlassung der US-Nahrungsmittelkette PepsiCo, den Übergriffen nicht entkamen.

Dann gingen die Gangmitglieder dazu über, Frauen zu vergewaltigen. "Sie erschienen in deinem Haus und sagten dir: 'Deine Frau gefällt mir. Ich bringe sie später zurück'", berichtet José Manuel Mireles, der Gründer und Anführer der Selbstverteidigungskräfte, in einem Interview mit der unabhängigen Kommunikationsagentur 'SubVersiones'. Mireles hält sich derzeit in Mexiko-Stadt auf, um sich von den Verletzungen zu kurieren, die er am 4. Januar beim Absturz seines Kleinflugzeugs nach einem Treffen mit Behördenvertretern auf dem Heimflug in seine Heimatstadt erlitten hat. Die Ursache des Unglücks ist noch nicht geklärt.


Selbstverteidigungskräfte bedrängen Tempelritter

In den vergangenen Monaten hatten die Selbstverteidigungskräfte nach und nach - mit dem Einverständnis der Zentralregierung, wie sie sagen - die Kontrolle über die Städte in Tierra Caliente übernommen. Sie rückten sogar bis Apatzingán vor und umzingelten die 100.000 Einwohner zählende Hochburg der Tempelritter. Die Belagerung veranlasste die in Bedrängnis geratene Drogenmafia dazu, Bürgermeisterämter und Busse in der Region in Brand zu setzen. Doch anstatt den Rauschgiftring zu zerschlagen, unternahm die von der Regierung von Staatspräsident Enrique Peña Nieto entsandte Armee den Versuch, die Selbstverteidigungskräfte aufzulösen.

Die Regierung rechtfertigt ihren Militäreinsatz gegen die Bürgerwehr mit der Begründung, diese sei im Besitz von Großkaliberwaffen, der für Zivilisten in Mexiko verboten ist. Sie ließ duchsickern, die Gruppe unterhalte zudem Beziehungen zum Jalisco-Kartell 'Neue Generation', das sich von dem Sinaloa-Drogenring unter Führung von Joaquín 'El Chapo' Guzmán abgespalten hat und in Michoacán die Kontrolle über die Handelsrouten für synthetische Drogen anstrebe.

Die Anführer der Selbstverteidigungskräfte weisen Verbindungen zur Drogenmafia jedoch zurück. Sie fühlen sich von der Zentralregierung verraten, wie die Reporterin Alejandra Guillén betont, die das Phänomen der Selbstverteidigungskräfte in den indigenen Gebieten von Michoacán beobachtet. "Die Regierung hatte die Gruppierung lange unterstützt, sie stand hinter ihnen. Doch irgendetwas muss geschehen sein, dass sie veranlasst hat, das Militär loszuschicken, um die Selbstverteidigungskräfte zu entwaffnen und Zivilisten zu töten."

Martín Barrón, Wissenschaftler am Nationalinstitut für Strafrechtswissenschaften, hält die Vorgänge in dem Bundesstaat für das Erbe der von Calderón initiierten Regiere-mit-Hilfe-der-Angst-Strategie. Auch für Innenminister Miguel Osorio ist die derzeitige Lage in Michoacán das Ergebnis einer zehnjährigen Inkubation der Gewalt.

Michoacán gehört zu den gesetzeslosesten Bundesstaaten Mexikos, in dem die Menschen gelernt haben, mit oder oft sogar vom Drogenhandel zu leben. "Es greifen keine wissenschaftlichen Instrumentarien, mit deren Hilfe sich die Lage in Michoacán erklären ließe", meint Guillén. "Es gibt dort keine guten oder bösen Menschen, sondern nur eine Gesellschaft, die eng mit dem Phänomen des Drogenhandels verbunden ist, der erst seit Ausbruch der Machtkämpfe als schlecht empfunden wird."

Die Tempelritter selbst stammen oftmals aus angesehenen sozialen Kreisen. Einer der Gründer, Servando Gómez, war bis 2009 Lehrer an einer Grundschule in Arteaga. Mireles wiederum war Arzt am kleinen öffentlichen Krankenhaus von Tepalcatepec, bevor er sich Anfang 2013 entschied, sein Stethoskop gegen eine Waffe auszutauschen.

Mitte 2009 hatte der Drogenbaron Gómez in einer Radiosendung dem damaligen Präsidenten Calderón einen Pakt vorgeschlagen: die Auflösung seiner Organisation gegen den Schutz vor Übergriffen rivalisierender Banden. "Wir sind ein notwendiges Übel", sagte er. "Bedenken Sie bitte, dass im Fall meines Todes jemand anderes meinen Platz einnehmen wird, der irgendwann ebenfalls ersetzt wird. Diese Kette wird nie reißen." Calderón wies das Angebot zurück und schickte stattdessen das Militär in den Bundesstaat. Doch der Einsatz blieb weitgehend wirkungslos und kostete stattdessen Dutzenden Soldaten und Polizisten das Leben.


Spannungen greifen auf andere Bundesstaaten über

Die Spannungen in Michoacán sind bereits auf benachbarte Bundesstaaten wie Colima, Querétaro und Guerrero übergesprungen, die ihre eigenen Selbstverteidigungskräfte haben. Insgesamt gibt es 36 dieser Bürgerwehren in acht der 31 mexikanischen Bundesstaaten.

Seit mehreren Tagen sehen sich die Einwohner von Tierra Caliente mit Einschränkungen bei der Basisversorgung, mit Nachschubproblemen, Straßenabsperrungen und tödlichen Übergriffen der Armee konfrontiert. Die Zentralregierung führt in Michoacán nach eigenen Angaben einen Sondereinsatz durch. Man werde die Aktivitäten der Selbstverteidigungskräfte nicht länger dulden, hieß es.

Die Selbstverteidigungskräfte sind aber nicht bereit, sich entwaffnen zu lassen. Zunächst müssten die Tempelritter ausgeschaltet werden, sagen sie. "Bevor wir unsere Waffen strecken oder uns auf Verhandlungen einlassen, müssen die Bandenführer festgenommen werden", betonte Estanislao Beltrán gegenüber Radio Nacional. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://subversiones.org/
http://www.ipsnews.net/2014/01/mexican-state-armed-teeth/
http://www.ipsnoticias.net/2014/01/michoacan-el-estado-armado-de-mexico/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 17. Januar 2014
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2014