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LATEINAMERIKA/1466: Brasilien - Drohende Paralyse während Fußball-WM, Streiks und Proteste gehen weiter (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Mai 2014

Brasilien: Drohende Paralyse während Fußball-WM - Streiks und Proteste gehen weiter

von Fabíola Ortiz


Bild: © Fabíola Ortiz/IPS

Professoren und andere Mitarbeiter der Föderalen Universität von Rio de Grande do Norte im Nordosten Brasiliens befinden sich seit März im Ausstand
Bild: © Fabíola Ortiz/IPS

Rio de Janeiro, 27. Mai (IPS) - Je näher der Termin für den Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien rückt, umso hitziger wird in dem südamerikanischen Land gestreikt. Die politisch-soziale Agitation erreicht langsam aber sicher eine Qualität, durch die sich die Protestwelle vor gut einem Jahr auszeichnete.

Staatsbedienstete und die Beschäftigten einiger Privatunternehmen befinden sich seit Tagen im Ausstand und verschärfen damit die Hektik und die Spannungen vor dem Startschuss der Fußball-WM am 12. Juni. Ein Busfahrerstreik in der vorletzten Maiwoche in São Paulo verursachte die schlimmsten Verkehrsstaus in der Geschichte der Stadt. Und am 21. Mai zogen rund 8.000 Polizisten, unterstützt von der Bundes- und der Militärpolizei, durch das Regierungsviertel in Brasilia.

In den zwölf Städten, in denen die FIFA-Turniere bis zum 13. Juli ausgetragen werden, sind allein für den Eröffnungstag mindestens 15 Demonstrationen geplant. Dass Brasilien aufgrund der Spiele im internationalen Rampenlicht steht, machen sich die Gewerkschaften zunutze, um die Mitte-Links-Regierung von Staatspräsidentin Dilma Rousseff zur Erfüllung ihrer Forderungen zu zwingen.

Sogar die Beschäftigten in mehr als einem Dutzend brasilianischer Konsulate in den USA und Europa traten ebenfalls in der vorletzten Maiwoche in den Streik. Und das Personal der 'LATAM Airlines', der größten Fluglinie in der Region, die aus einer Fusion der brasilianischen 'Tam' mit Chiles 'Lam' hervorgegangen ist, drohte mit einem Ausstand beziehungsweise mit einer Entschleunigung ihrer Aktivitäten. In einem solchen Fall dürfte die Arbeit an den Flughäfen zum Erliegen kommen und eine Absage internationaler Flüge während der Fußball-WM die Folge sein.


Generalstreik am Horizont

Die Professoren von 90 Prozent aller Universitäten und die Lehrer der Grundschulen befinden sich ebenfalls im Streik. Öffentliche Kulturstiftungen und Museen haben geschlossen. "Ein Generalstreik ist möglich", meinte Sergio Ronaldo da Silva, Generalsekretär der einflussreichsten Gewerkschaft CONDSEF. "Das geschieht nicht wegen der Weltmeisterschaft. Unsere Forderungen sind alt, und wir sprechen seit langem davon, in den Streik zu treten."

Für den Fall, dass sich an der gegenwärtigen Situation nichts ändert, schließt Ronaldo da Silva einen vollständigen Stillstand des 200 Millionen Einwohner zählenden Landes nicht aus. Bisher hätten die Behörden keinen Termin für Verhandlungen festgelegt, meinte der Chef von CONDSEF, die 80 Prozent der 1,3 Millionen brasilianischen Staatsbediensteten vertritt. Der Regierung warf er vor, Brasilien als Land der Ersten Welt präsentieren zu wollen. Dabei würden Gesundheits-, Bildungs- und öffentliches Transportsystem am Boden liegen.

Am 30. Mai werde man die Möglichkeit eines Generalstreiks eruieren, sagte Ronaldo da Silva. Der Regierung seien die Ziele der Protestbewegung seit Juni 2013 bekannt. Ende des gleichen Jahres hatte sie mehr als 140 Arbeitsabkommen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gewerkschaften unterzeichnet und eine Erhöhung der Löhne und Gehälter von 15,8 Prozent versprochen. Allerdings wurde die Inflation damals auf unterhalb der derzeitigen Teuerungsrate von 26 Prozent geschätzt. "70 Prozent der unterzeichneten Abkommen wurden nicht umgesetzt", kritisierte Ronaldo da Silva.

Ein weiteres Problem, mit dem sich der öffentliche Dienst konfrontiert sieht, ist der Exodus der Beschäftigten. Im letzten Rekrutierungsverfahren im Jahr 2011 waren 240.000 Menschen angestellt worden, doch fast die Hälfte ist inzwischen wieder ausgeschieden.

Seit Februar 2012 diskutieren die Abgeordneten des Landes über Vorschläge zur Streikprävention im Vorfeld der WM. Die Vorlage 728/2011, die derzeit dem Senat vorliegt, soll das Streikrecht vor und während der sportlichen Veranstaltung einschränken. Dem Gesetzesentwurf zufolge müssen die Gewerkschaften ihre Streikpläne 15 Tage im Voraus ankündigen und 70 Prozent der Beschäftigten am Arbeitsplatz bleiben. Dass er in den nächsten Tagen beschlossen wird, gilt als unwahrscheinlich.


Minister droht mit Polizeieinsatz

Justizminister José Eduardo Cardozo sprach von der vorhandenen Option, die Sicherheitskräfte gegen die Demonstrationen einzusetzen. "Die Polizei, die der Verfassung dient, weiß, dass der Oberste Gerichtshof die Streiks untersagt hat. Wir können die nationalen Sicherheitskräfte einsetzen, um Recht und Ordnung sicherzustellen."

Brasiliens Sportminister Aldo Rebelo hat derweil versichert, dass die Fußball-WM eine friedliche und von der Öffentlichkeit gefeierte Veranstaltung sein werde. "Sollte es zu Protesten kommen, wird es sich um Einzelfälle handeln", zeigte er sich überzeugt. "Ich glaube, unser Land ist bereit. Das brasilianische Recht schützt friedliche Demonstrationen und verhindert gewalttätige Proteste. Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele Menschen ein Interesse daran haben könnten, dass die Weltmeisterschaft aufgrund gewaltsamer Proteste ins Chaos abrutscht."

Pedro Trengrouse vom Brasilianischen Anwaltsinstitut, das sich auf das Sportrecht spezialisiert hat, wies darauf hin, dass die anfänglich positive Resonanz auf die Ankündigung 2009, dass Brasilien die WM ausrichten werde, einem Klima der Frustration gewichen sei. "Die Ankündigung hatte innerhalb der Öffentlichkeit überzogene Erwartungen geschürt, die sich als verfehlt herausgestellt haben. Die Regierung hat viel versprochen und wenig gehalten. Die Aussichten haben sich verändert, und die Proteste spiegeln den Wandel."

Als Brasilien als Gastgeber der Fußball-WM 2014 bestimmt wurde, habe niemand an Proteste gedacht, erläuterte Trengrouse. Damals hätten 80 Prozent der Bevölkerung die Bewerbung des Landes als Austragungsort der WM unterstützt. "Inzwischen jedoch sind 55 Prozent der Brasilianer der Meinung, dass die WM dem Land mehr Schaden als Nutzen bringt." In zwei Jahren steht zudem die Sommerolympiade in Rio de Janeiro an.

"Es wird Zeit, ein Gleichgewicht herzustellen", meinte Trengrouse. "Das Streikrecht der Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen ist unveräußerlich. Doch dürfen die Unmutsbekundungen nicht der Öffentlichkeit schaden." Dem Juristen zufolge herrscht in einigen Bereichen ein ungesunder Opportunismus vor. Proteste, die kriminellen Handlungen, Vandalismus und faschistischen Veranstaltungen Vorschub leisten, gehören verboten." (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/05/brasil-cerca-de-la-paralisis-en-visperas-del-mundial-de-la-fifa/
http://www.ipsnews.net/2014/05/protests-threaten-paralyse-brazil-ahead-world-cup/

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IPS-Tagesdienst vom 27. Mai 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2014