Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1494: Argentinien - Tod eines Staatsanwalts stellt junge Demokratie auf die Probe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Januar 2015

Argentinien: Tod eines Staatsanwalts stellt junge Demokratie auf die Probe

von Fabiana Frayssinet


Foto: © Fabiana Frayssinet/IPS

'Heute sind wir alle Nisman' heißt es auf dem Transparent, das eine Demonstrantin im Zusammenhang mit dem Tod des argentinischen Staatsanwaltes Nisman hochhält
Foto: © Fabiana Frayssinet/IPS

Buenos Aires, 22. Januar (IPS) - In Argentinien droht der Tod eines Staatsanwalts am 18. Januar zum Bewährungstest der nach wie vor jungen Demokratie zu werden. Nicht nur, dass der mutmaßliche Selbstmord die Gesellschaft des südamerikanischen Landes polarisiert und verunsichert, auch deutet er auf zweifelhafte Machenschaften innerhalb der Geheimdienste hin.

Natalio Alberto Nisman war mit der Aufklärung des Bombenanschlags auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA in Buenos Aires vor mehr als 20 Jahren betraut. Am 19. Januar sollte er dem Parlament seine angeblichen Beweise vorlegen, dass Staatspräsidentin Cristina Fernández an der Vertuschung des Falls beteiligt war.

Bei dem Anschlag auf das AMIA-Gebäude am 18. Juli 1994 waren 85 Menschen getötet und 300 verletzt worden. Der Verdacht fiel damals auf fünf Iraner. Nisman zufolge soll Fernández die Weiterverfolgung des Falls in diese Richtung verhindert haben.

Dass sich der Jurist ausgerechnet einen Tag vor seinem Auftritt im Parlament in seinem Apartment im Hauptstadtviertel Puerto Madero selbst in den Kopf geschossen haben soll, hat Verschwörungstheorien Vorschub geleistet und bei vielen Argentiniern ein Déjà-vu-Erlebnis ausgelöst. Den Argentiniern ist die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 mit 30.000 Verschwundenen noch gut im Gedächtnis. Der mit den Zutaten eines Politthrillers versehene Tod des Staatsanwaltes hat bei ihnen ein Gefühl der eigenen Verletzbarkeit ausgelöst.

"Wir sind alle angreifbar. Heute hat es ihn erwischt, morgen könnten wir dran sein", sagte die Lehrerin Rita Vega am Rande der Protestveranstaltung 'Ich bin Nisman' vor dem Präsidentschaftspalast, zu der die sozialen Netzwerke am 19. Januar aufgerufen hatten. Die Demonstration in Buenos Aires knüpfte mit ihrem Slogan an die 'Ich bin Charlie'-Kampagne im Anschluss an den tödlichen Terroranschlag auf das französische Satire-Magazin 'Charlie Hebdo' in Paris an.


Der Stoff für Spekulationen

Über den Tod Nismans wird derzeit viel spekuliert und eine Fremdeinwirkung nicht ausgeschlossen. So gibt es diejenigen, die die Mitte-Links-Regierung von Staatspräsidentin Fernández hinter dem Tod des Staatsanwaltes vermuten. Andere argumentieren, der Jurist habe sich umgebracht, weil seine angeblichen Beweise gegen Fernández nicht ausgereicht hätten.

Der Fall erinnere ihn an die Erzählung 'Doppelmord in der Rue Morgue' des US-amerikanischen Schriftstellers Edgar Allen Poe, meinte Horacio Verbitsky, Journalist der regierungsnahen Zeitung 'Página 12'. In der Erzählung von 1841 geht es um zwei Morde, die der Polizei ein großes Rätsel aufgeben: "Wie konnte der Täter entkommen, obwohl alle Fenster und Türen von innen verriegelt waren?", so Verbitsky.

Nach Aussagen von Ronald Noble, bis Ende 2014 Chef von 'Interpol', hat die Staatspräsidentin nie die Aufhebung des Haftbefehls gegen die fünf Iraner veranlasst, wie von Nisman am 14. Januar behauptet. Dem Staatsanwalt zufolge hatte die Präsidentin inmitten der argentinischen Ölkrise eine Weiterverfolgung des Falls verhindert, um einen Öl-gegen-Getreide-Swap mit dem Iran nicht zu gefährden.

Dass das Attentat auf das jüdische Gemeindezentrum bis heute nicht aufgeklärt wurde, hat nach Ansicht des Analysten Martín Granovsky ganze andere Gründe. Wie er betont, habe es die Regierung des damaligen Präsidenten Carlos Menem (1989-1999) in den ersten Tagen nach dem Bombenanschlag an einer gründlichen Untersuchung fehlen lassen. Eine Aufklärung sei wohl nicht im Interesse der damals in privatwirtschaftliche Aktivitäten involvierten Sicherheitskräfte gewesen.

"Wir wissen, dass es innerhalb der Geheimdienste Ecken gibt, in die die Demokratie noch nicht vorgedrungen ist", meinte der Unterhauspräsident Julián Domínguez von der regierenden 'Front für den Sieg'. Es gebe mafiöse Kreise, die danach trachteten, das Land zu destabilisieren, und Richter einzuschüchtern versuchten. "Wir wissen nicht, was Herrn Nisman geritten hat, so zu handeln, wie er gehandelt hat", fügte er hinzu.


Ungute Beziehungen

Im Dezember hatte die Regierung Antonio 'Jaime' Stiuso als Einsatzleiter der Geheimdienstbehörde abgesetzt. Die engen Beziehungen, die er und Nisman unterhielten, waren allgemein bekannt. Aus offiziellen Quellen ist durchgesickert, dass Stiuso den Staatsanwalt inmitten der gerichtsfreien Zeit aus dem Urlaub in Europa zurückrief, um sich die Unterlagen vor der Anhörung im Parlament am 19. Januar zeigen zu lassen.

Laut Néstor Pitrola, einem Abgeordneten der Arbeiterpartei, die dem Oppositionsbündnis 'Linke Front' angehört, hat eine Clique unter Leitung von César Milani drei Wochen vor den Anschuldigungen Nismans gegen Fernández Nisman die Führung der Geheimdienste ausgetauscht. Milani, ein einstiger Scherge der Diktatur, ist innerhalb der argentinischen Justiz umstritten. Pitrola zufolge enthüllt der Tod Nismans die Existenz eines "Staates im Staate".

Atilio Borón, einem ehemaligen Geschäftsführer des Lateinamerika-Rates für Sozialwissenschaften (CLACSO), zufolge, schadet der Tod des Generalstaatsanwalts vor allem der Regierung, die ein besonderes Interesse daran gehabt habe, die Vorwürfe Nismans im Jahr der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu entkräften. "Nisman war eng mit den Geheimdiensten verwoben, mit Leuten, die keinen Spaß verstehen", erklärte er. Das legten auch die von 'Wikileaks' veröffentlichten Telegramme nahe. (Ende/IPS/kb/2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/01/una-muerte-dudosa-para-la-democracia-argentina/
http://www.ipsnews.net/2015/01/prosecutors-death-a-test-for-argentine-democracy/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Januar 2015
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang