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LATEINAMERIKA/1597: Venezuela - Der Hunger kehrt zurück (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Venezuela
Der Hunger kehrt zurück

Von Wolf-Dieter Vogel, Caracas


(Caracas-Berlin, 29. Juli 2016, npl) - Die einen sprechen vom Wirtschaftskrieg, die anderen hoffen auf ein Referendum. Alle leiden unter der Ernährungsmangel, doch über die Frage, wie die Krise zu beenden sei, ist das Land gespalten.


Es fehlt an allem: Bohnen, Zucker, Speiseöl, Toilettenpapier

Erst waren es 500, dann 35.000, und später über 100.000: Seit Anfang Juli einige hundert Frauen den Grenzübertritt nach Kolumbien erzwungen haben, fahren immer mehr Venezolanerinnen und Venezolaner zum Einkaufen in das Nachbarland. Denn zuhause fehlt es an allem: an Bohnen, Zucker, Reis, Speiseöl, Kaffee, Toilettenpapier. In den Regalen stehen diese Waren längst nicht mehr, auf dem Schwarzmarkt werden sie zu extrem teuren Preisen verkauft. Zunächst war die Grenze dicht, doch mittlerweile lässt sie der venezolanische Staatschef Nicolás Maduro kurzzeitig öffnen. Er will weitere Zuspitzungen vermeiden. Schließlich ist die Stimmung sehr angespannt.

"Etlichen Leuten fehlt es an allem, sie hungern", sagt eine Frau, die seit sechs Stunden in einer Schlange steht. "Bis jetzt konnten wir nichts kaufen." Mindestens hundert Personen hoffen wie sie darauf, mit einer gefüllten Tasche nach Hause zu gehen. Fast jeden Tag stellt sie sich hier vor dem Supermarkt Lux in Chacao an, einem etwas wohlhabenderen Viertel von Caracas. Um den Mangel zu überwinden, lässt die Regierung subventionierte Waren an die Läden liefern. Dort können die Bürger*innen das Nötigste zu bezahlbaren Preisen kaufen. Im Lux gibt es heute Klopapier, Speiseöl und Butter. Wer die Tüte erwerben will, muss einen Zettel mit einer Nummer samt Ausweis vorzeigen. So will man verhindern, dass Schwarzhändler*innen mehrmals einkaufen und mit den Gütern Geschäfte machen.


Über den Grund für die Misere gehen die Meinungen auseinander

Ortswechsel. Zehn U-Bahnstationen von Chacao entfernt liegt das Barrio 23 de Enero. Ein armes Viertel mit langer Geschichte: Seit Jahrzehnten ist die radikale Linke hier fest verankert, viele Hauswände zeigen die Gesichter von Che Guevara oder Simon Bolivar - und natürlich das des ehemaligen Präsidenten Hugo Chavez. Das Barrio ist eine Hochburg der Chavist*innen. Viele unterstützen die bolivarianische Bewegung, die seit 17 Jahren die Regierung stellt. So auch Luis Flores. Er kümmert sich um die Verteilung von Lebensmitteln. "Eine Tüte mit Essen kostet 500 bis 600 Bolivar, im Schwarzhandel muss man etwa 20.000 Bolivar zahlen", erklärt er. "So wehren wir uns gegen den Krieg der 'bachaqueros', der Schwarzhändler."

20.000 Bolivar, das sind rund 25 Euro, zwei Drittel des Monatslohns eines einfachen Beschäftigten. Durch die rasende Inflation sind auch andere Nahrungsmittel teurer geworden, etwa Obst und Gemüse. Doch Flores ist optimistisch, dass die Regierung das Problem in den Griff bekommt. Hinter der ganzen Misere, da glaubt sich der Mittfünfziger sicher, steht ein Wirtschaftskrieg des US-Imperialismus und der Oligarchie.

Davon ist auch Juan Contreras überzeugt. Früher hat er hier im Barrio 23 de Enero bewaffnet gekämpft, heute ist er Sprecher der Coordinadora Símon Bolivar, einer landesweiten chavistischen Basisorganisation. Fragt man ihn nach den Gründen für die Ernährungskrise, spricht er von den Angriffen, denen die Linksregierung von Anfang an ausgesetzt gewesen sei: vom Putsch von 2002, von internationalen Verschwörungen und den Lügen der bürgerlichen Medien. Dann kommt er auf die heutige Lage zu sprechen. "Im ökonomischen Bereich, also mit Blick auf das Erdöl, sind die Preise gefallen, weil die USA durch das Fracking den weltweiten Markt überschwemmt haben." schimpft er. Das sei zwar gegen Russland gerichtet gewesen, damit Moskau die Preise senkt. "Es hat uns aber direkt betroffen", sagt er. Schließlich sei Venezuela einer der wichtigsten Erdölproduzenten weltweit.


Schwachpunkt: Abhängigkeit vom Erdöl

Es sei dahingestellt, ob US-Erdölunternehmen an den niedrigen Preisen interessiert sind und wer tatsächlich für den Preisverfall verantwortlich ist. Außer Zweifel steht jedoch, dass sich Venezuela komplett vom Export des schwarzen Goldes abhängig gemacht hat. Venezuela bezieht 96 Prozent seiner Devisen durch den Verkauf von Erdöl. Mehr als vor der Regierungszeit der Chavist*innen. Der Verfall des Preises auf unter die Hälfte in den letzten drei Jahren trifft das Land deshalb besonders schwer. Alle Versuche, eine eigenständige Versorgung aufzubauen, sind gescheitert.

"Die Regierung wollte damals vermeiden, wegen der fehlenden Nahrung kritisiert zu werden. Deshalb hat sie alles im Ausland eingekauft", kritisiert Rafael Uzcategui von der Menschenrechtsorganisation Provea. Zudem habe sie Dollars für den Import von Lebensmitteln zu einem günstigeren Kurs zur Verfügung gestellt. "Das führte zu immenser Korruption. Auch für landwirtschaftliche Produzenten wurde der Import rentabler als der Anbau in Venezuela", erklärt der regierungskritische Aktivist. Nach Regierungsangaben habe Venezuela bis zu 80 Prozent dessen importiert, was im Land verzehrt wird.

Mit dem niedrigen Erdölpreis ist der bolivarianischen Revolution die wirtschaftliche Grundlage abhandengekommen. Nicht nur für Nahrung, sondern auch für Gesundheitsprojekte fehlt das Geld. Medikamente sind rar, weil sie für teures Geld importiert werden müssen. Viel verschwindet unter dem Ladentisch und wird auf dem Schwarzmarkt verkauft.

Chavist Contreras ist jedoch davon überzeugt, dass die heimischen Unternehmer*innen für den Mangel verantwortlich sind. Diese würden bewusst Lebensmittel zurückhalten. "Sie haben die Produktion heruntergefahren, die Einfuhr reduziert und die Dollars behalten, die sie vom venezolanischen Staat erhalten hatten. Sie haben ihre Pflicht nicht erfüllt und das führte dazu, dass die Regale in den Supermärkten leer sind. Das ist ein geplanter Krieg", so Contreras.


Kritik: Ungestrafte Korruption in Staatsbetrieben

Was aber ist mit den staatlichen Betrieben? Schließlich hat die bolivarianische Regierung einige Firmen übernommen, darunter auch solche, die Nahrungsmittel herstellen und verteilen. Ihnen fehlt ebenso das Material, auch sie leiden unter der Inflation. Rafael Uzcategui hält wenig von den Argumenten der Chavist*innen: "Wir leben nun seit 17 Jahren unter einer Regierung mit einem sozialistischen Projekt. Es zeugt von wenig Intelligenz, zu behaupten, die Wirtschaft funktioniere nur aufgrund der Sabotage des privaten Sektors nicht." Dann verweist er auf die Initiativen der Regierung, die gescheitert seien. "Der Grund ist die große Korruption, die nicht bestraft wird", kritisiert er.

Zurück ins Barrio 23 de Enero. Auf einem Hügel mitten im Viertel thront das Cuartel de la Montaña. Bewacht von vier Soldat*innen liegen dort die Gebeine von Hugo Chávez. Hier im Mausoleum des ewigen Führers ist die Welt noch in Ordnung. Seine uniformierten Beschützer*innen ehren das Vaterland und skandieren alte Parolen: "Chavez lebt, der Kampf geht weiter."

Doch während in den Gemäuern der Kaserne ein fast religiöser Kult um den Unsterblichen zelebriert wird, rumort es in den Barrios. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Wie damals, als hohe Erdöleinnahmen eine Sozialpolitik für die Armen möglich machten. Rafael Uzcategui zieht ein schlechtes Resümee: "All die Initiativen von Chávez zur Armutsverringerung sind erledigt. Innerhalb von drei Jahren endete alles, was in den Jahren 2004 bis 2009 erfolgreich entwickelt wurde. Heute sind in Venezuela wieder genauso viele Menschen arm wie im Jahr 2000."

Trotz aller internationalen Kritik am Populismus des Kommandanten Chávez erhielt die damalige Regierung auch viel Lob. So würdigte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) noch im Jahr 2013 die Erfolge des Landes im Kampf gegen Hunger und Unterernährung. Doch drei Jahre später bestätigt die aktuelle Krise auf dramatische Weise, wie wenig nachhaltig eine ausschließlich auf dem Erdölexport basierende Sozialpolitik ist. Längst hat deshalb die Zustimmung für die Regierung abgenommen. Selbst in den eigenen Reihen setzen einige auf ein Referendum über die Zukunft des Präsidenten Maduro.

Auch vor dem Supermarkt Lux im besseren Stadtteil Chacao hoffen viele auf einen Neuanfang. "Wir wollen jemanden, der uns hilft. Egal, ob er von der Opposition oder von wo auch immer kommt, ob es ein Mann oder eine Frau ist", sagt die Dame, die seit sechs Stunden in der Schlange steht. Und: "Wir brauchen einfach jemand, der dem Volk hilft."


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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2016

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