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LATEINAMERIKA/1787: López Obrador - Eine neue Politik für Mexiko oder die neue PRI? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive

López Obrador - Eine neue Politik für Mexiko oder die neue PRI?

von Elisa Gómez und Hans Mathieu, Juni 2018


• Die bisherige Regierungspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) und ihr Kandidat José Antonio Meade werden Umfragen zufolge die Wahlen am 1.7.2018 auf allen Ebenen verlieren. Ihre jahrzehntelange Dominanz in der mexikanischen Politik wäre damit endgültig gebrochen. Andrés Manuel Lopéz Obrador (bekannt unter dem Kürzel AMLO) wird vermutlich im dritten Anlauf die Präsidentschaft erringen. Seine neue Partei Morena und ihre Alliierten könnten zumindest die einfache, vielleicht sogar die absolute Mehrheit im Kongress erreichen.

• AMLO wird mit defizit-finanzierten Konjunkturspritzen um mehr populäre Unterstützung und zusätzliche Stimmen im Kongress werben. Sollte er ausreichende Mehrheiten bilden können, wird er die Strukturreformen der Vorgängerregierung weitgehend rückgängig machen. Eine Allianz mit konservativen, nichtliberalen Kreisen der PRI wie auch mit basisdemokratischen Organisationen ist denkbar, denn das von AMLO angestrebte Gesellschafts- und Politikmodell entspricht einer idealisierten kommunitaristischen Version des PRI-Korporatismus und Klientelismus der 1950er bis 1970er Jahre, allerdings mit einer stärkeren persönlichen Kontrolle durch den Präsidenten oder Parteiführer.

• Ansätze zu Lösungen für die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Blockaden Mexikos bietet bei dieser Wahl allenfalls die Koalition aus Partido Acción Nacional (PAN), Partido de la Revolución Democrática (PRD) und Movimiento Ciudadano (MC). Ihr Präsidentschaftskandidat Ricardo Anaya wird bei der Wahl voraussichtlich den zweiten Platz belegen. Die PAN wäre damit weiterhin zweitstärkste politische Kraft, die PRD wird dagegen um ihr Überleben kämpfen müssen.


Kontext: Gewalt, Korruption, Straflosigkeit, stagnierende Wirtschaft

Bei den Wahlen am 1.7.2018 handelt es sich um den umfangreichsten Wahlprozess in der Geschichte Mexikos: 90 Millionen Mexikaner_innen entscheiden über 18.299 Wahlämter auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene, darunter das Amt des Präsidenten, die Sitze aller Abgeordneten (500) und die der Senator_innen (128) des nationalen Kongresses. Gewählt werden außerdem acht Gouverneur_innen und der Regierungschef von Mexiko-Stadt. Erstmals können unabhängige Kandidat_innen an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen, was aber wegen der hohen Zahl von Unterschriften, die sie zuvor landesweit sammeln müssen, nur zwei geschafft haben.

Die Wahlen finden vor dem Hintergrund wachsender Gewalt, Korruption und stagnierender Einkommen für die Mehrheit der Bevölkerung statt. 2017 verzeichnete Mexiko mit 29.168 Morden und einer Mordrate von 20,5 pro 100.000 Einwohner_innen den höchsten Stand an Tötungsdelikten seit 20 Jahren. Diese Entwicklung setzte sich im ersten Quartal 2018 ungebrochen fort. Auch die Zahl anderer (Gewalt-)Verbrechen ist gestiegen. 2016 wird die Gesamtzahl der Opfer von Verbrechen auf 24,2 Millionen geschätzt, mehr als ein Viertel der erwachsenen Mexikaner_innen wird jährlich Opfer eines Verbrechens. Morde an Journalist_innen und Menschenrechtsaktivist_innen sowie politisch motivierte Gewalt haben ebenfalls zugenommen: 2017 wurden zwölf Journalist_innen ermordet und 285 Vertreter_innen von Menschenrechtsorganisationen bedroht oder angegriffen. Seit dem Beginn des Wahlprozesses im September 2017 wurden 110 Morde an Politiker_innen registriert (Stand: 2.6.2018).

In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Korruptionsfällen aufgedeckt worden. Alle Parteien und Regierungsebenen sind verstrickt, aber bei der Anzahl und vor allem dem finanziellen Volumen der aufgedeckten Fälle liegen PRI-Politiker_innen vorne. Vertreter_innen der Regierung Peña Nieto, darunter der Präsident selbst und der ehemalige Finanzminister und jetzige Außenminister Videgaray, stehen im Verdacht der Vorteilsnahme und Klientelpolitik. Beim finanziellen Volumen der bekanntgewordenen Fälle halten vor allem die Gouverneur_innen die Spitzenposition, nicht zuletzt weil die Transfers von Mitteln der Zentralregierung an die Bundesstaaten nur wenig kontrolliert werden: Von den 19 Gouverneur_innen, die dem Amtsantritt von Präsident Peña Nieto am 1.12.2012 beiwohnten, sind inzwischen elf wegen Korruption unter Verdacht, angeklagt, auf der Flucht oder in Haft. Dabei gehen persönliche Bereicherung und die Umlenkung öffentlicher Mittel in die PRI-Wahlkampfkassen Hand in Hand. Zuletzt wurde bekannt, dass unter den Sozial- und Finanzminister_innen Rosario Robles und José Antonio Meade (parteilos, aktueller Präsidentschaftskandidat der PRI) die Mittel von Armutsbekämpfungsprogrammen »umgeleitet« wurden; beide streiten ab, von den Vorgängen gewusst zu haben.

Eine Vielzahl von Fällen, Untersuchungen, Berichten und Indexen dokumentiert das Fehlen eines Rechtsstaates in Mexiko. Die Entführung und mutmaßliche Ermordung von 43 Studenten einer linksorientierten Ausbildungsstätte für Landschullehrer in der Kleinstadt Iguala Ende September 2014 fand internationale Beachtung, weil dabei lokale Polizeikräfte mit kriminellen Organisationen zusammenarbeiteten. Bundespolizei und Streitkräfte griffen nicht ein, obwohl sie frühzeitig von dem Verbrechen Kenntnis erhielten. Mit der von der Generalstaatsanwaltschaft zu diesem Fall verkündeten »historischen Wahrheit« setzte der Ansehensverlust der Regierung Peña Nieto ein, denn eine internationale Untersuchungskommission wie auch Journalist_innen kamen zu dem Schluss, dass die Ermittlungen von schwerwiegenden technischen und Verfahrensfehlern gekennzeichnet waren und die Zeugenaussagen, auf denen die Darstellung der Regierung beruhte, von zweifelhaften Personen kamen oder unter Folter erpresst wurden. Der Fall bleibt ungeklärt. Die Nachforschungen von Journalist_innen deuten darauf hin, dass die Beteiligung der Sicherheitskräfte am Drogenhandel vertuscht werden soll.

Im Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) von Transparency International erreichte Mexiko 2017 mit Platz 135 (Index: 29) von 180 seinen schlechtesten Platz seit Beginn der Messungen. Gemäß dem von der Universidad de las Américas Puebla (UDLAP) entwickelten Internationalen Straflosigkeitsindex erreicht Mexiko von 69 Ländern den viertschlechtesten Platz. Über 95 Prozent aller Gewaltverbrechen werden nicht geahndet. Bei Menschenrechtsverletzungen durch Polizei, Streitkräfte, Strafvollzugsbehörden und bei Auftragsmorden, als deren Auftraggeber Politiker_innen verdächtigt werden, erreicht die Straflosigkeit nahezu 100 Prozent, wie Amnesty International und die Open Society Foundations dokumentiert haben.

Sicherheit und Korruption stehen deshalb an vorderster Stelle bei Umfragen über die Sorgen der Bevölkerung und werden die Wahlentscheidung der Mexikaner_innen entscheidend beeinflussen. Aber die Mexikaner_innen sind auch unzufrieden mit der wirtschaftlichen Entwicklung: Während das Bevölkerungswachstum 1,3 Prozent pro Jahr beträgt, ist die Wirtschaft unter der Regierung Peña Nietos durchschnittlich um etwa zwei Prozent gewachsen. Einen Zuwachs an Wohlstand bedeutet dies aber ausschließlich für die Bessergestellten, wie neuere Untersuchungen zeigen. In den letzten Jahren hat es keine Verbesserungen bei der informellen Beschäftigung, der Reduktion der Armut (46 Prozent der Bevölkerung) und der Einkommensverteilung mit einem Gini-Koeffizienten von 0,48 bis 0,50 gegeben.


Parteien- und Wahlsystem

Das mexikanische Parteiensystem folgt der Logik des politischen Systems, in dem die Interessenvertretung eine wichtige Rolle spielt. Bis 2000 kontrollierte die PRI die Interessensverbände wie Gewerkschaften, Bauernverbände und Sektorkammern. Die anderen Parteien haben jedoch seitdem ebenfalls solche klientelistischen Beziehungen mit formellen und informellen Interessengruppen aufgebaut. »Klientelistisch« bedeutet hier, dass Stimmen, Wahlkampfunterstützung und finanzielle Beiträge der durch die jeweiligen Interessenorganisationen vertretenen Gruppen gekauft werden. Im Gegenzug werden Kandidaturen oder Posten an die Vertreter_innen dieser Gruppen vergeben, öffentliche Aufträge zugesichert, Monopole bewahrt oder neu geschaffen, Wettbewerbsbeschränkungen eingeführt oder Regulierungen unterlassen. Ein weiteres Element dieses Klientelismus war - und bleibt, aber in abnehmendem Umfang - die Regulierung der organisierten Kriminalität, vor allem des Drogenhandels auf lokaler Ebene, durch die lokalen oder bundesstaatlichen Polizeien, politischen Maschinen und Caudillos. Im Gegenzug für sogenannte Quoten (Bestechungsgelder in Form sich wiederholender Zahlungen von Anteilen am Umsatz) übernahmen diese die Marktregulierung. Bis Anfang der 2000er Jahre führte dies trotz zunehmendem Drogenhandel zu einer Abnahme krimineller Gewalt, bis sich die Balance von finanziellen und Gewaltressourcen zugunsten der kriminellen Akteure verschob. Die gegenseitige Verflechtung von Politik und organisierter Kriminalität ist jedoch geblieben.

Das mexikanische Wahlsystem sieht überwiegend ein einfaches Mehrheitswahlrecht in den für die jeweiligen Funktionen relevanten Wahlterritorien und Wahlkreisen vor. Wer die einfache Mehrheit erreicht, gewinnt das Mandat. Ausnahmen vom einfachen Mehrheitswahlrecht gibt es bei den beiden Kammern des Parlamentes: Von den 500 Abgeordneten werden 200 proportional zu den Stimmenanteilen der Parteien gewählt, von den 128 Senator_innen werden 32 proportional zu den Stimmen für die Parteien in fünf Wahlbezirken bestimmt. Für Senator_innen beträgt die Amtszeit sechs Jahre, für Abgeordnete drei Jahre. Für den Präsidenten oder die Präsidentin und für die Gouverneur_innen gab und gibt es keine Möglichkeit der Wiederwahl. Bürgermeister_innen und weitere gewählte kommunale Funktionsträger_innen können nach einer entsprechenden Gesetzesreform ab 2018 jedoch wiedergewählt werden. Parlamentsmitglieder auf allen Ebenen konnten bisher nicht unmittelbar wiedergewählt werden, können aber ab der übernächsten Wahlperiode wieder kandidieren. Ab 2018 können Parlamentsmitglieder nun für bis zu zwölf Jahre wiedergewählt werden. Das bisherige System schaffte Anreize für Verantwortungslosigkeit und Raffgier bei Amtsträger_innen, da sie einerseits nicht abgewählt werden konnten, anderseits für ihre »Wahlpausen« vorsorgen mussten. Es verstärkte auch die Tendenz zur Abhängigkeit von klientelistischen Beziehungen, die für die häufigen Positionswechsel fast unabdingbar sind. Nur wenige Politiker_innen konnten sich diesen Zwängen entziehen. Ob die Wiederwahl der Kongressmitglieder ohne Änderungen des Parteienrechtes die Korruption reduzieren wird, ist jedoch zweifelhaft.

Die Parteien sind keine Mitgliederparteien. Es steht den Parteien zwar frei, Mitgliederbeiträge zu verlangen, in der Praxis geschieht dies jedoch nicht. Selbst Aktivist_innen der Parteien erwarten, dass die Parteien oder die Führungsfigur der Partei, der sie sich angeschlossen haben (der Klientelismus setzt sich auf persönlicher Ebene bis in die Parteien fort), ihnen ihren Einsatz honorieren, sei es in Form unmittelbarer Bezahlung oder mit der Perspektive auf zukünftige wohldotierte Posten oder eine eigene politische Karriere. Ein nicht unerheblicher, wenn auch abnehmender Teil der Stimmen in Wahlen muss von den Parteien und ihren Kandidat_innen regelrecht gekauft werden, teilweise direkt durch Wahlgeschenke unterschiedlicher Art, teilweise indirekt durch Interessengruppen oder kommerzielle Vermittler_innen. Das gleiche gilt für die Unterschriften, die unabhängige Kandidat_innen für ihre Wahlteilnahme und neue Parteien für ihre Konstituierung und Registrierung benötigen.

Die öffentliche Finanzierung der Parteien in Mexiko ist großzügig. Die Apparate der Parteien werden dauerhaft auf der Grundlage des Stimmanteils bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus finanziert, wobei kleinere Parteien besser bedacht werden. Solange kleine Parteien in den jeweiligen Wahlterritorien mindestens drei Prozent der Stimmen erzielen, um die Registrierung ihrer Partei aufrechterhalten zu können, handelt es sich um ein lukratives Geschäft für sie. Tatsächlich sind die kleinen Parteien - die »Grüne« Partei PVEM, die »Bürgerbewegung« MC, die maoistische »Arbeitspartei« PT, die fundamentalistisch-evangelikale PES, und die »Neue Allianz« PANAL - eher hochprofitable politische Unternehmen unter Kontrolle von wenigen Einzelpersonen oder Familiendynastien als politische Parteien. Da sie sich auf wenige Territorien und klientelistische Netzwerke konzentrieren, brauchen sie keinen umfangreichen Parteiapparat und die öffentliche Finanzierung kann teilweise direkt in die Taschen derer fließen, die de facto ihre »Eigentümer« sind.

Zusätzlich zur Parteifinanzierung erhalten die Parteien und Kandidat_innen öffentliche Mittel, um den Wahlkampf zu bestreiten. Obwohl diese großzügig bemessen sind, reichen sie bei Weitem nicht aus. Der Klientelismus hat zu einer Inflation der Wahlkampfkosten geführt, da die Parteien und Kandidat_innen nur teilweise, wenn auch in zunehmendem Maße, auf der Grundlage ihrer Programme und Leistungen - bei Wirtschafts- und Einkommensentwicklung, sozialer Gerechtigkeit, Strafverfolgung und Sicherheit - konkurrieren. Viel wichtiger ist ihre Kapazität des Stimmenkaufs. Mit dem Anstieg der Konkurrenz, parallel zum Abstieg der PRI, steigen damit die Kosten drastisch. Der wachsende zusätzliche Finanzierungsbedarf wird aus illegal beschafften öffentlichen Mitteln - siehe die oben erwähnten Korruptionsfälle, bei denen es sich oft um die »Umleitung« öffentlicher Mittel in den Wahlkampf der jeweiligen Parteien handelt - und privaten Quellen gedeckt. Damit diese Beiträge nicht nachvollzogen werden können, steigt zu Wahlkampfzeiten, vor allen vor den »großen« Wahlen alle sechs Jahre, die Nachfrage nach Bargeld deutlich.


Parteien, Kandidaten, Allianzen

Für die Präsidentschaftswahlen haben sich drei Parteienallianzen gebildet. Diese Koalitionen unterstützen auch Kandidat_innen für den Kongress, für die Gouverneurswahlen und auf lokaler Ebene, in vielen Fällen konkurrieren Kandidat_innen der Parteien der Allianzen aber auch gegeneinander, entscheidend ist hier meistens, wie die notwendigen einfachen Mehrheiten erreicht werden können.

• Die PRI und ihre Allianz Todos por México (»Alle für Mexiko«) besteht aus der PRI, der PVEM (Partido Verde Ecologista de México, Grüne Ökologische Partei Mexikos) und der PANAL (Partido Nueva Alianza, Partei Neue Allianz), gegründet von der ehemaligen Präsidentin der Lehrergewerkschaft Esther Gordillo, die heute AMLO unterstützt. Die Allianz vereinigt eine Vielzahl von Orientierungen von sozial-konservativ bis klassenkämpferisch-links. Ihr gemeinsamer Nenner ist der Zugang zu Macht, Funktionen und Rentenextraktion auf der Grundlage des von der PRI geschaffenen Korporatismus und Klientelismus. Ihr Präsidentschaftskandidat José Antonio Meade ist ein politisch und wirtschaftlich liberaler und als kompetent angesehener Technokrat, der Außen-, Finanz- und Sozialminister in den Regierungen von Calderón (PAN) und Peña Nieto war. In den Umfragen lag Meade Anfang Juni bei 20 Prozent.

• Die von AMLO und seiner neuen Partei Morena (Movimiento de Regeneración Nacional, Bewegung der Nationalen Erneuerung) geführte Allianz Juntos Haremos Historia (»Gemeinsam machen wir Geschichte«) wird generell als »links« eingeordnet, weist aber ebenfalls ein breites Spektrum von politischen Orientierungen auf, von fundamentalistisch-evangelikal-konservativ - in Form der Partei Neues Zusammentreffen PES (Partido Encuentro Social) - über ehemalige Vertreter_innen von PRI und PAN bis hin zu verschiedenen linken Strömungen, die von sozialdemokratisch über den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« bis hin zu Maoist_innen reichen, letztere in Form der Arbeitspartei PT (Partido del Trabajo). AMLO selbst gehört zu den PRI-Dissident_innen, die Ende der 1980er Jahre die PRI verließen und Anfang der 1990er Jahre gemeinsam mit der klassischen sozialistischen und kommunistischen Linken die PRD gründeten. AMLO verließ die PRD nach den Wahlen 2012, weil er seine Niederlage auf mangelnde Unterstützung durch Teile der Partei zurückführte und die Beteiligung der damaligen PRD-Führung an einigen der Strukturreformen der Regierung Peña Nieto ablehnte. In den folgenden Jahren verließen weitere Führungskräfte und Aktivist_innen die PRD, die meisten schlossen sich Morena an, die 2014 als Partei registriert wurde. AMLO erreichte Anfang Juni 50 Prozent in den Umfragen.

• Die Coalición por México al Frente (»Koalition für Mexiko nach vorne«) aus PAN, PRD und MC ist das Ergebnis der Abspaltung von AMLO und Morena von der PRD und des Aufstieges von Ricardo Anaya zum Präsidenten der PAN. AMLO forderte als Preis für eine Wahlallianz die bedingungslose Unterordnung der PRD, sodass die verbleibenden Führungskräfte der PRD zur Steigerung ihrer politischen Handlungs- und Verhandlungsmacht eine Alternative anstrebten, die sich in Form einer Allianz mit Anaya und der PAN bot. Mit der Machtübernahme von Anaya in der PAN verließen Teile der christlich-konservativen Strömungen sowie die Anhänger von Margarita Zavala die PAN. Zavala, Ehefrau von Ex-Präsident Calderón, hatte die Präsidentschaftskandidatur der PAN angestrebt, kandidierte aber als Unabhängige, nachdem Anaya sich durchgesetzt hatte. Die Allianz aus PAN, PRD und MC kann programmatisch als eine Mischung aus sozialliberalen und sozialdemokratischen Orientierungen identifiziert werden, die noch in der PAN verbliebenen konservative Kräfte verweigern Anaya teilweise ihre Unterstützung im Wahlkampf, darunter einige der PAN-Gouverneur_innen. Anaya lag Anfang Juni in den Umfragen bei 28 Prozent.

Von den drei Kandidaten und Allianzen konnten sich AMLO und Anaya Chancen auf den Sieg ausrechnen. Die PRI startete bereits zurückgeschlagen in den Wahlkampf und wird mehrheitlich wegen Unsicherheit, Korruption und wirtschaftlicher Stagnation abgelehnt. Sie hatte außerdem seit 2015 in Gouverneurs- und Kommunalwahlen die Kontrolle der Mehrheit der Bundesstaaten sowie Städte und Gemeinden an PAN und PRD verloren, die aktuell die Mehrheit der Bevölkerung regieren. Anaya, PAN und PRD konnten sich also gute Chance ausrechnen. AMLO lag zwar in den Umfragen bereits vor dem Beginn des Wahlkampfes deutlich vorne, aber Morena besaß nur in Mexiko-Stadt - in der Hälfte der Stadtbezirke - die bisher in mexikanischen Wahlen so wichtige territoriale Kontrolle.

Anstatt AMLO anzugreifen, konzentrierte die PRI ihr Feuer zunächst auf Anaya und beschuldigte ihn der Korruption. Sie missbrauchte dafür die von der Regierung kontrollierte Bundesstaatsanwaltschaft, aber eindeutige Beweise wurden nicht vorgelegt. Als Ergebnis des mehrwöchigen Schlagabtausches zwischen PRI und Anaya zog AMLO in den Umfragen davon, Anaya stagnierte an zweiter Stelle und der PRI-Kandidat Meade blieb unverändert an dritter Stelle. Von den beiden unabhängigen Kandidat_innen gab Margarita Zavala Mitte Mai auf. Der zweite, Jaime Rodríguez Calderón, unabhängiger Gouverneur des Bundesstaates Nuevo León, blieb bisher im Rennen, obwohl er in den Umfragen nur bei einem bis drei Prozent liegt.


Positionen und Programme

Aus den Programmen und Wahlkampfplattformen der Parteien und Koalitionen sowie aus vereinzelten öffentlichen Politikvorschlägen der Kandidaten - wie AMLOs 2017 veröffentlichtes Buch »2018: La Salida« - lassen sich einige Unterschiede in ideologischer Orientierung, Programmatik und Politikvorschlägen erkennen:

José Antonio Meade (PRI/PVEM/PANAL): In den meisten Politikbereichen wird ein »Weiter so, aber mehr davon« versprochen. Bestehende Politiken und Sozialprogramme sollen ausgeweitet, aber gleichzeitig effizienter und effektiver werden, die Polizeien besser ausgerüstet und ausgebildet, die Investitionen erhöht und die Strukturreformen konsolidiert. Finanziert werden soll dies alles über eine Ausweitung der Steuerbasis durch schrittweise Formalisierung des informellen Sektors. Industriepolitik steht nicht auf der Agenda, sondern eine solide Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik wie bisher. Einzige Auffälligkeit: Zur Korruptionsbekämpfung soll die Immunität von Politiker_innen und hohen Amtsträger_innen einschließlich des Präsidenten abgeschafft werden, was auch die beiden anderen Kandidaten versprechen.

Ricardo Anaya: (PAN/PRD/MC) Obwohl Anaya aus der PAN kommt, basiert die Wahlkampfplattform der Koalition stark auf der Programmatik von PRD und MC. Diese enthält einige Überraschungen: ein universelles Grundeinkommen, das zunächst in einer Testphase in den ärmsten Bundesstaaten eingeführt werden soll, schrittweise Verdoppelung des Mindestlohnes, Reform der Gesundheitspolitik im Sinne eines universellen Gesundheitssystems, Fortsetzung und Ausweitung der Strukturreformen, insbesondere der Bildungsreform, Einsetzung einer von der Regierung unabhängigen Staatsanwaltschaft und des Anti-Korruptionssystems, Einberufung einer Wahrheitskommission für Korruption in der Vorgängerregierung und Steigerung der öffentlichen Investitionen. Als einziger Kandidat kündigt Anaya eine Steuerreform in Form einer progressiveren Einkommenssteuer zusätzlich zur Ausweitung der Steuerbasis an. Polizeikräfte sollen besser ausgebildet, ausgerüstet und koordiniert werden, die organisierte Kriminalität soll durch Konfiszierung ihrer illegalen Einnahmen trockengelegt werden. Zwischen den Zeilen deutet sich eine Bereitschaft zur Reform der Drogenpolitik an, wenn in diesem Zusammenhang von »Schadensreduzierung« gesprochen wird.

AMLO (Morena/PT/PES): Auch AMLO kündigt eine Ausweitung von Sozialprogrammen - darunter ein universelles steuer-, also nicht beitragsfinanziertes Gesundheitssystem - mit Schwerpunkt in ländlichen Regionen an. Zusammen mit einem Stipendien- und Ausbildungsprogramm für jährlich 2,6 Millionen Jugendliche soll dies auch der Kern seiner Sicherheitspolitik sein, da er die Ursachen für Gewalt und Kriminalität in Armut und Ungleichheit sieht. Auch er will die Polizeikräfte besser ausbilden und ausrüsten, wichtiger ist aber die Zusammenfassung aller Polizeikräfte und von Teilen der Streitkräfte in eine Nationalgarde, die dem (wieder) einzurichtenden Ministerium für öffentliche Sicherheit unterstehen soll, und damit auch dem Präsidenten. Im Wahlkampf sprach AMLO auch eine mögliche Amnestie für Kriminelle an, hat diesen Vorschlag aber nach heftiger Kritik verwässert. Zur Korruptionsbekämpfung will er ebenfalls Immunitäten abschaffen, aber vor allem durch sein Beispiel den öffentlichen Dienst »moralisieren«. Seinen Vorgängern hat er de facto Straflosigkeit zugesichert, da er keine Hexenjagd veranstalten möchte. Im Hinblick auf den Energiesektor betont er, dass Energie Eigentum der Nation sei, fordert billige Energie für die Mexikaner_innen - also die Rücknahme von Preiserhöhungen, die sich als Folge der Beendigung von Subventionen Anfang 2016 ergaben - und die Beendigung von Energieimporten durch den Bau von zwei neuen Raffinerien und den Ausbau erneuerbarer Energien. Generell fordert er eine höhere Deckung der Binnennachfrage durch nationale Produktion, insbesondere unter dem Stichwort der Lebensmittel-Souveränität. Er fordert eine umfassende Bildungsreform auf der Grundlage einer Zusammenarbeit mit den Lehrer_innen, deren radikalere und korruptere Gewerkschaftsströmungen jedoch Teil seiner Allianz sind. In seinem Buch äußert er sich deutlicher: Er verspricht eine Volksbefragung - 2014 scheiterte er mit dem Projekt einer Volksbefragung zur Rücknahme der Reformen im Energiesektor - und, im Falle einer Mehrheit, die Rücknahme der Strukturreformen. Dabei lässt er aber offen, ob er bereits seine Wahl zum Präsidenten und eine ausreichende Mehrheit im Kongress als entsprechendes Mandat ansehen wird. Finanzieren will er seine Politiken aus zweiQuellen: Die Beseitigung von Korruption bringe 500 Milliarden Pesos - zehn Prozent des Bundeshaushaltes - und weitere Einsparungen 360 Milliarden Pesos, darunter 132 Milliarden Pesos durch die Verringerung der Spitzengehälter in der Politik und der öffentlichen Verwaltung um bis zu 50 Prozent, eine Steuerreform sei deshalb nicht nötig.

Meade und die PRI haben kaum Neues für die Lösung der wichtigsten Probleme Mexikos zu bieten. AMLO verbindet soziale Versprechungen mit Klientelbildung in der Landwirtschaft und unter Jugendlichen. Seine Tendenz zur Rücknahme der Strukturreformen und zu mehr wirtschaftlicher Autarkie ist eher rückwärtsgewandt als progressiv. Seine Politikvorschläge zur Bekämpfung der Korruption werden kaum effektiv sein. Besorgniserregend sind seine Vorschläge zur Zentralisierung des Sicherheitssektors. Insgesamt fällt auf, dass er die Institutionalisierung von unabhängigen Kontrollmechanismen eher ablehnt, stattdessen auf seine persönliche Führung setzt.

Die von Anaya vertretenen Politiken deuten dagegen auf eine institutionelle Stärkung des Rechtsstaates bei der Bekämpfung der Korruption und der Reform des Sicherheitssektors hin. Er vertritt im Gegensatz zu Meade eine aktive Wirtschafts- und Entwicklungspolitik ohne die rückwärtsgewandten Elemente AMLOs. Im Gegensatz zu seinen beiden Kontrahenten stellt sich Anaya der Notwendigkeit einer Steuerreform, um die Aktionsfähigkeit des Staates bei Investitionen, Rechtsstaat, Sicherheit und Reformen der Sozialpolitiken zu verbessern. Dabei will er nicht die Mehrwertsteuer erhöhen, wie von Unternehmerseite oft vorgeschlagen, sondern die Einkommenssteuer progressiver gestalten. Insgesamt bieten Anaya und seine Parteienkoalition im Vergleich der drei Kandidaten die progressivere Programmatik.


And the Winner Is ...

Andres Manuel López Obrador wird die Präsidentschaftswahlen - im dritten Anlauf - voraussichtlich gewinnen. Sein Vorsprung vor Anaya beträgt im Durchschnitt der Umfragen Mitte Juni über 20 Prozent. Ursache seines Sieges ist die Wut und Enttäuschung einer wachsenden Zahl von Mexikaner_innen über das Versagen speziell der PRI, aber auch des politischen Establishments im Allgemeinen bei Sicherheit, Korruption, Wachstum und Verteilung.

Das einfache Mehrheitswahlrecht ohne zweiten Wahlgang kann zwar dazu führen, dass sich im letzten Monat vor der Wahl noch umfangreiche Wählerwanderungen ergeben, weil die Wähler_innen von abgeschlagenen Kandidat_innen den nicht vorhandenen zweiten Wahlgang sozusagen vorwegnehmen. So kam es bei den Präsidentschaftswahlen 2006 und 2012 im letzten Monat noch zu Wählerwanderungen von knapp über zehn Prozent. Bei den Wahlen 2018 ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sich eine ausreichende Zahl von Wähler_innen umorientiert, um AMLO noch den Sieg zu nehmen und ihn Anaya zu ermöglichen.

Die Wähler_innen von Margarita Zavala, die Mitte Mai ihre Kandidatur aufgab, haben sich größtenteils schon entschieden, aber überwiegend nicht für Anaya, da er nicht zugelegt hat, nachdem sie aus dem Rennen ausgeschieden ist. Auch die gelegentlich diskutierte Option, dass entweder Meade oder Anaya ihre Kandidatur zurückziehen und ihre Wähler_innen anweisen, für den jeweils anderen zu stimmen, um AMLOs Sieg zu verhindern, hat wenig Substanz. Nach den massiven Korruptionsanschuldigungen der PRI gegen ihn wird Anaya nicht verzichten. Im Gegenteil, angesichts der aussichtslosen Kampagne von Meade und des allgemeinen Absturzes der PRI in den Wählerpräferenzen spekuliert Anaya darauf, dass sich die PRI-Wähler_innen noch für ihn entscheiden oder die PRI-Führung im Endspurt ihre Truppen anweist, für Anaya zu stimmen. Aber auch dies ist wenig realistisch. Das Herz derjenigen in der PRI, die sich als authentische PRI-istas sehen, schlägt nicht für Anaya oder die PAN, sondern für AMLO, der schon in den letzten Monaten mehr und mehr ehemalige Parteigänger_innen der PRI in seine Kampagne und Morena integriert hat. Da AMLO außerdem Straflosigkeit in Aussicht stellt, Anaya dagegen Wahrheitsfindung und Bestrafung, bestehen wenig Anreize für die PRI-Hierarchie oder die Wähler_innen der PRI, zu Anaya umzuschwenken.

Nach neueren Umfragen werden Morena und Alliierte wahrscheinlich in beiden Häusern des Kongresses zumindest eine einfache, möglicherweise sogar die absolute Mehrheit erreichen. In beiden Fällen ist eine Vergrößerung der Mehrheit durch Allianzen mit den Kongressmitgliedern von PRI und Teilen von PRD und MC denkbar, die die für Verfassungsänderungen notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit in greifbare Nähe rücken könnte. Bei den Gouverneurswahlen in neun Bundestaaten inklusive Mexiko-Stadt wird Morena mit voraussichtlich vier Siegen ebenfalls der große Gewinner sein. In Mexiko-Stadt wird die Morena-Kandidatin Claudia Sheinbaum die PAN-PRD-Kandidatin Alejandra Barrales vermutlich deutlich schlagen. So könnte Morena nach den Wahlen die wichtigste politische Kraft in Mexiko sein.


Konsequenzen: AMLO und Morena sind die neue PRI

Das Ergebnis der Wahl wird die jahrzehntelange Dominanz der PRI in der mexikanischen Politik wahrscheinlich beenden. Die PRI wird voraussichtlich die drittstärkste Kraft im Kongress sein und weiterhin mindestens 12 Gouverneur_innen stellen. Es ist denkbar, dass sich ihre klassischen, nicht wirtschaftlich liberalen, sondern korporatistischen Gruppen - so etwa der Gewerkschaftsflügel und die verbliebenen linken Strömungen - AMLO und Morena anschließen. AMLO und Morena könnten so zu einer Art neuer PRI werden.

Die Konsequenzen des Sieges von AMLO und Morena bleiben abzuwarten. Sie werden hauptsächlich von vier Faktoren abhängen:

• Wird es AMLO und seinem Parteien-Bündnis gelingen, im Kongress eine absolute und durch weitere Allianzen eine Zwei-Drittel-Mehrheit zu erreichen? Im ersten Fall kann AMLO »durchregieren«, aber nicht die Verfassung ändern. Im zweiten Fall bestünden die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Strukturreformen.

• Wie stark wird AMLO Morena und seine heterogene Allianz kontrollieren können? Im Kongress wird etwa ein Drittel der Abgeordneten der Allianz nicht Morena, sondern der fundamentalistisch-evangelikalen PES und der maoistischen PT angehören, beides Parteien, die trotz ihrer ausgeprägten ideologischen Orientierungen von ihrer jeweiligen Führung machtorientiert-pragmatisch dominiert werden. Beide Partner werden schon heute mit Misstrauen von der Linken in Morena betrachtet.

• Wie korrupt werden die neue Regierung und ihre Parteien sein und wie sichtbar wird diese Korruption sein? Korruption würde unmittelbar die Legitimität der neuen Regierung untergraben. Da politische Reformen, die zu einer Reduzierung oder Abschaffung des Korporatismus und Klientelismus führen, nicht auf der Agenda stehen, bleiben auch die Anreize zur Korruption bestehen. Als AMLO Regierungschef von Mexiko-Stadt war, dienten seine Politiken immer auch dazu, seine Klientel zu bedienen, und die Finanzflüsse waren alles andere als transparent.

• Welchen Erfolg wird seine Politik haben? Zu erwarten ist, dass AMLO zunächst viel Zustimmung finden wird, da seine Politiken auf die Erwartungen der Wähler_innen reagieren. Die Reduzierung der Spitzengehälter in Politik und öffentlicher Verwaltung dürfte populär sein. Die Förderprogramme gegen ländliche Armut und für arbeitslose Jugendliche können leicht zur raschen Klientelbildung dienen, selbst wenn sie ihr eigentliches Ziel nicht erreichen. Mittelfristig werden jedoch wirtschaftliche Probleme in Form von Inflation, Schulden und Zahlungsbilanzproblemen auftreten. Auch die erhofften Erfolge bei Sicherheit und Wachstum werden ausbleiben.

Viel wird von AMLO selbst abhängen: Wird er ein gemäßigt-pragmatischer linker Regierungschef oder ein autoritärer populistischer Verführer sein? Für beides gibt es Anzeichen in seiner Biografie und bisherigen politischen Praxis. Die Interpretation von AMLO als gemäßigter und pragmatischer Linker wird vor allem durch seine Politik als Regierungschef von Mexiko-Stadt - damals noch Bundesdistrikt - von 2000 bis 2005 gestützt. AMLO zeigt jedoch auch eindeutig populistische Tendenzen, indem er sich als »Vertreter des Volkes« gegen die korrupte »Mafia der Macht« darstellt. Sein politischer Referenzpunkt ist dabei eine idealisierte Vergangenheit, die von Nationalismus, verstaatlichter Rohstoff- und Energiewirtschaft und möglicherweise einer hierarchisch strukturierten »sozialen Kohäsion« geprägt ist. Mexikos Wirtschaft und Gesellschaft zeichnen sich durch eine vergleichsweise gut organisierte und diversifizierte Unternehmerschaft, eine aktive Zivilgesellschaft und politischen Föderalismus aus - wichtige Hebel gegen zentralisierende Tendenzen.

AMLO wird zu Beginn seines Mandates versuchen, mit gesteigerten Sozialausgaben und Beschäftigungsprogrammen die Konjunktur anzukurbeln, um im Kongress eine ausreichende Mehrheit für die weitgehende Rücknahme der Strukturreformen zustande zu bringen. Ob und in welcher Form er dann im Namen von Demokratisierung und »sozialer Kohäsion« den Korporatismus und kommunitaristische Ansätze sozialer Organisation stärken wird, bleibt abzuwarten. Sorgen über eine Hinwendung zum Autoritarismus wären dann gerechtfertigt, wenn eine absolute Mehrheit von Morena im Kongress die Wiederwahl des Präsidenten ermöglichen und den politischen Wettbewerb einschränken würde. Je weniger erfolgreich er sein wird, umso größer werden die Chancen für neue politische Kräfte sein, die sich von Korporatismus und Klientelismus lösen können.


Ausblick auf die Parteienlandschaft

In dieser Hinsicht werden die Konsequenzen der Wahlen für das politische Spektrum rechts und links der Mitte von Interesse sein, das sich eher mit dem klassischen politischen Liberalismus in entweder sozialliberalen oder sozialdemokratischen Ausprägungen identifiziert. Der PAN steht eine Zerreißprobe bevor. Sie wird zwar vermutlich drittstärkste politische Kraft im Kongress und in der Fläche bleiben, aber die unterschiedlichen Strömungen geraten immer stärker in Konflikt. Dies zeigt sich daran, dass Teile der katholisch-konservativen als auch der zwar nominal liberalen, aber tatsächlich eher korporatistischen Strömungen - die Margarita Zavala unterstützten - die Partei verlassen haben oder Anaya im Wahlkampf nicht unterstützt haben. Die interessante Frage wird sein, ob sich die PAN in eine sozialliberale Mitte-rechts-Partei und eine katholisch-korporatistische Rechtspartei spalten wird.

Schon seit dem Ende der 1990er Jahre hat es Versuche gegeben, eine sozialdemokratische Alternative sowohl zur PRI wie auch zur PRD zu bilden, die jedoch an den oben geschilderten Charakteristiken des politischen Systems Mexikos gescheitert sind. Die Beteiligten haben sich danach entweder der PRD angeschlossen oder sind in der organisierten Zivilgesellschaft aktiv geworden. Nach der Abwanderung ihrer Mehrheit zu Morena wird die Rest-PRD nach der Wahl voraussichtlich in eine schwere Krise geraten, womit sich eine Lücke im politischen Spektrum ergibt, die eine neue sozialdemokratische Kraft schließen könnte.

In den letzten Jahren haben sich vor allem in den großen Städten mit einer Vielzahl von Universitäten und wissenschaftlichen Forschungs- und Beratungseinrichtungen eine Menge Organisationen der Zivilgesellschaft entwickelt, die öffentliche Politiken kritisch evaluieren, sich für politische Reformen, Transparenz, Menschenrechte und die Entwicklung eines Rechtsstaates einsetzen. Sie haben maßgeblich die in den letzten Jahren verabschiedeten Transparenz- und Anti-Korruptionsgesetzgebungen entwickelt und durchgesetzt. Bei ihnen setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass sie selbst Politik machen müssen, um nachhaltige Reformen durchsetzen zu können, und damit die Bereitschaft, sich entsprechenden Parteien anzuschließen oder sie selbst zu gründen. Politisch orientieren sich diese Vertreter_innen der Zivilgesellschaft überwiegend sozialliberal bis sozialdemokratisch. Einige ihrer Führungskräfte waren an den bereits erwähnten Initiativen zur Gründung sozialdemokratischer Parteien beteiligt.

Die zukünftige Entwicklung Mexikos wird davon abhängen, ob sich politische Parteien und Allianzen bilden, die politische, soziale und wirtschaftlichen Reformen durchführen, um den Korporatismus und die aktuellen Blockaden zu überwinden und rechtsstaatliche Prinzipien durchzusetzen.


Über die Autor_innen

Elisa Gómez ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Mexiko.
Hans Mathieu ist Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Mexiko.


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Svenja Blanke | Leiterin des Referats Lateinamerika und Karibik
Telefon: +49-30-269-35-7484 | Fax: +49-30-269-35-9253
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2018

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