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LATEINAMERIKA/1996: Kolumbien - Wachsender Widerstand gegen staatlich organisierten Völkermord (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien

Wachsender Widerstand gegen staatlich organisierten Völkermord


Breites Bündnis: Die Menschen setzen ihren Protest fort in dem Wissen, dass es keinen Sinn hat, mit völkermordenden Regierungen zu verhandeln.

(Bogotá, 13. Mai 2021, colombia informa) - Der Aufschrei der kolumbianische Bevölkerung war laut genug, um sich an verschiedenen Orten der Welt Gehör zu verschaffen. Die Weigerung der Medien, über die Realität des Landes zu berichten, beginnt langsam zu bröckeln und offenbart das historische Bündnis verschiedener Organisationen und Widerstandsbewegungen in seiner ganzen Breite und Vielfalt. Seit Wochen bringen Indigene, afrokolumbianische Gemeinschaften und Landbevölkerung Seite an Seite mit Jugend- und Studierendenverbänden, Frauen- und Diversitybewegungen, Arbeiter*innen und urbanen Aktivist*innen ihre Forderung nach einem Leben in Würde für die kolumbianische Bevölkerung auf die Straße.

Die Protestcamps, Demonstrationen und Straßenblockaden im gesamten Staatsgebiet werden begleitet von künstlerischen und musikalischen Darbietungen und ollas comunitarias ("Küchen für alle", kurz: Küfas). Die Bevölkerung hat ihrer Kreativität freien Lauf gelassen, die Menschen demonstrieren auf den Straßen und rufen: "Das Volk gibt nicht auf!", "Respektiert gefälligst das Volk!" und "Weg mit der schlechten Regierung!". Diese reagiert wie gewohnt mit Repression und Staatsterrorismus auf die Massenproteste: In der Geschichte des Landes war Krieg stets die Antwort auf sozialen Widerstand in den Straßen - bis hin zum systematischen Völkermord, geplant und angeordnet von den machthabenden Klassen und ausgeführt von den repressiven Kräften des Staates: Nationalpolizei, die mobile Aufstandsbekämpfungseinheit Esmad, Armee und paramilitärische Gruppen.


Mehrere Bewegungen ebneten den Weg für den heutigen Widerstand

Doch ist es kein spontaner sozialer Aufstand, der die aktuelle kritische Situation herbeigeführt und Organisationen und Widerstandsbewegungen aus allen Ecken des Landes zusammengebracht hat. Ohne einige richtungsweisende, von unterschiedlichen Bewegungen initiierte politische Höhepunkte wäre die derzeitige eindrucksvolle Präsenz der Bevölkerung auf den Straßen nicht denkbar gewesen. Wegbereiter waren die Minga für das Leben, für Gerechtigkeit, Freude, Autonomie und die Freiheit der indigenen Bevölkerung im Jahr 2004, der Marsch für sozialen und gesellschaftlichen Widerstand 2008, die Gründung des Völkerkongresses und der Patriotische Marsch 2010, die Studierendenbewegung gegen die Bildungsreform (Gesetz 30) im Jahr 2011 und der Agrarstreik 2013, aus dem die Bäuer*innen-Organisation Cumbre Agraria Campesina, Étnica y Popular hervorging. Diese Ereignisse, die von der offiziellen Geschichtsschreibung gern ignoriert werden, sind nun Teil des historischen Gedächtnisses geworden.


Strukturelle und systematische Gewalt am kolumbianischen Volk

Ursache für die Unzufriedenheit und die tiefsitzende Wut der Kolumbianer*innen ist unter anderem die zunehmende Gewalt der kolumbianischen Regierung. Das Vorgehen des Staates wurde in der jüngsten Sitzung des Ständigen Völkertribunals in Kolumbien im März dieses Jahres als staatlicher Völkermord eingeordnet.

Am 24. August 2019 bombardierte die kolumbianische Armee im Rahmen der Operation "Atai" das Dschungelgebiet in San Vincente del Caguán im Bezirk Caquetá und tötete acht Minderjährige. Der Bombenanschlag führte zwar zum Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Guillermo Botero, dieser wurde aber bis heute nicht dafür belangt. Der landesweite Streik vom 21. November desselben Jahres übertraf alle Erwartungen und trug zur Wiederbelebung des sozialen Protests bei. Die Esmad schlug zurück und ermordete den jugendlichen Aktivisten Dilan Cruz. Ebenfalls 2019 wurde hinter dem Rücken der Bevölkerung eine Steuerreform verabschiedet. Die Abstimmung fand in den frühen Morgenstunden statt, die Kritik aus der Bevölkerung wurde ignoriert.

Der Ausbruch der Coronapandemie brachte weitere Gewaltexzesse. Die Ermordung des Anwalts Javier Ordoñez durch die Polizei löste erneute Bestürzung aus. Der 43-jährige war am 20. September 2020 wegen angeblichen Verstoßes gegen Coronaauflagen verhaftet worden und hatte die Brutalität der Sicherheitskräfte nicht überlebt. In mehreren Vierteln Bogotás fanden Großdemonstrationen statt, die mit massiver Gewalt unterdrückt wurden. Weitere 13 Menschen wurden von der Polizei getötet.

Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016 wurden hunderte Führungspersönlichkeiten, Menschenrechtsverteidiger*innen und ehemalige Kämpfer*innen ermordet.

Die Zahl der Menschenrechtsverletzungen ist alarmierend. Laut dem kolumbianischen Institut für Entwicklungs- und Friedensforschung wurden allein in diesem Jahr bisher 57 Menschenrechtsverteidiger*innen und 23 Unterzeichner*innen des Friedensabkommens ermordet, zudem gab es 33 Massaker (Stand: 29. April 2021).


Die Pandemie verschlimmert die Situation

Diese Zahlen sind die Folge der strukturellen Gewalt in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht, die die kolumbianische Bevölkerung erlebt. Seit Beginn der Pandemie sind die ohnehin schon alarmierenden Zahlen von Armut und Arbeitslosigkeit weiter gestiegen. Damit zählt Kolumbien mittlerweile zu den Ländern mit den höchsten Armuts- und Arbeitslosenraten in ganz Lateinamerika. Nach offiziellen Angaben des Nationalen Verwaltungsamts für Statistik "lebten im Jahr 2020 43% der Bevölkerung des Landes in Armut, und 30% drohten in die Armut abzurutschen, während nur 25% zur Mittelschicht und 2% zur Oberschicht gehörten". Im vergangenen März stieg die Arbeitslosigkeit auf 16,8%; weitere 3,5 Millionen Menschen fielen unter die Armutsgrenze. Der katastrophale Umgang der Regierung Duque mit dem Gesundheitsnotstand hat die Krise vertieft und die Unzufriedenheit verstärkt.


Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt

Im April dieses Jahres erklärte der damalige Finanzminister Alberto Carrasquilla, Kolumbien verfüge nur noch über genügend finanzielle Mittel für einen Monat. Die Gelder seien ausgegeben worden, um eine weitere Steuerreform durchzusetzen. In einem Interview erklärte Wilson Arias, Abgeordneter der Partei Polo Democrático: "Wir wissen, dass die Reform eine Steuerlast mit sich bringt, die vor allem die mittleren und unteren Klassen und die Arbeitnehmer treffen wird. Die Regierung kalkuliert mit 10,5 Milliarden Dollar aus Mehrwertsteuer, 16,8 Milliarden aus Steuern für Privatpersonen und drei Milliarden aus Steuern für Unternehmen. Seit der Vorstellung des nationalen Gesamthaushaltsplans habe ich kritisiert, dass man im Finanzministerium Mehrwertsteuererhöhungen um skandalöse 14,2% rechnet, was den regressiven Charakter unseres Steuersystems noch verschärft." Produkte, die der Existenzsicherung dienen, sollten vermehrt besteuert und die Kategorie der steuerfreien Waren gestrichen werden (was auch die Kosten für die Lebensmittelproduktion in die Höhe treiben würde). Außerdem sollte die Bemessungsgrundlage für die Einkommenssteuer für natürliche Personen ausgeweitet werden und bereits bei einem Monatseinkommen von umgerechnet 560 EUR einsetzen, während der Einkommenssteuersatz für juristische Personen reduziert werden sollte. Dazu Wilson Arias: "Die Reform wird vor allem die Menschen aus der Mittelschicht und die sozial Schwachen treffen, da sich die Ausgaben für die Waren des täglichen Bedarfs erhöhen werden. Sie beeinträchtigt letztendlich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (die der Regierung, der Unternehmen, der Haushalte und die Nachfrage Kolumbiens gegenüber der restlichen Welt)".

Die Ankündigung der erneuten Steuerreform war der Auslöser dafür, dass Millionen Kolumbianer*innen am 28. April auf die Straßen gingen. Schon kurz nach dem Ausbruch der Proteste sah sich die Regierung gezwungen, die Reform zurückzunehmen. Nur einen Tag zuvor, am 1. Mai, war das Dekret der "militärischen Unterstützung" erlassen worden, das die verstärkte militärische Präsenz in den Städten im Sinne einer besseren Kontrolle der Proteste vorsieht.


Repressionen als Antwort auf den landesweiten Streik

Seit Beginn des landesweiten Streiks am 28. April hat der kolumbianische Staat sich zahlreicher Verbrechen gegen Demonstrierende schuldig gemacht. Dazu kontrolliert die Regierung in enger Abstimmung mit den gängigen sozialen Netzwerken die Informationen, die im Internet verbreitet werden. So entfernen Facebook, Twitter und Instagram die Inhalte, die mit Gewalttaten in Verbindung stehen und die die Verfolgung und Ermordung von Menschen, die ihr legitimes Recht auf Protest wahrnehmen, durch staatliche Kräfte zeigen. Darüber hinaus werden Live-Übertragungen von polizeilicher Repression und das Hochladen von Informationsmaterial in die Online-Netzwerke gezielt verhindert. Dies galt insbesondere für die Berichte aus Cali und später auch für Livemitschnitte aus Bogotá.

Laut der Nichtregierungsorganisation Temblores wurden zwischen dem 28. April, als der landesweite Streik begann, und dem 10. Mai 2021 insgesamt 1956 Fälle von Polizeigewalt registriert: 40 Menschen starben durch die Hand staatlicher Einsatzkräfte, 1003 Demonstrierende wurden willkürlich verhaftet, 28 Menschen erlitten Verletzungen der Augen, dazu wurden 12 Fälle von sexualisierter Gewalt registriert. 548 Personen verschwanden (Stand: 8. Mai).

Obwohl die Repressionen zunehmen, gehen die Menschen weiterhin auf die Straße. Sie nutzen die Straßen als Räume der Begegnung, um gemeinsam mit ihrem Nachbarn und ihrer Nachbarin ihre Empörung angesichts einer brutalen Alltagsrealität zum Ausdruck zu bringen.


Dem Beispiel der indigenen Mingas folgen

Fast scheint es, als sei die argentinische Piquetero-Bewegung von 2001 in die Straßen Kolumbiens zurückgekehrt, um zu "Straßensperren und Versammlungen" aufzurufen. Die Protestierenden fordern die Bevölkerung auf, weiter auf die Straße zu gehen, sich nicht vertreiben zu lassen und dem Beispiel der indigenen Mingas zu folgen. Von ihnen können wir lernen, was Respekt ist und was es bedeutet, das eigene Territorium zu verteidigen. Die Menschen setzen ihren Protest fort in dem Wissen, dass es keinen Sinn hat, mit völkermordenden Regierungen zu verhandeln. So groß ist deren Hass auf die Bevölkerung, dass sie über Leichen gehen, um ihre Privilegien zu schützen.


Übersetzung: Hannah Hefter


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/wachsender-widerstand-gegen-staatlich-organisierten-voelkermord/


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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2021

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