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NAHOST/1008: Jordanisches Demokratietheater - Die Wahl zum 17. Parlament (inamo)


inamo Heft 73 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2013
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Jordanisches Demokratietheater - Die Wahl zum 17. Parlament

von Malika Bouziane



In den ersten Wahlen seit Beginn der Protestwelle in Jordanien 2011 entstand ein Parlament, das erwartungsgemäß größtenteils auf Basis tribaler Loyalitäten gewählt wurde und sich aus regimetreuen Konservativen und neoliberalen Geschäftsleuten zusammensetzt.

Da die meisten Veränderungen im Wahlprozess von Aktivisten wie Bevölkerung als Kosmetik verstanden werden, haben die Wahlen die politische Apathie und Unzufriedenheit nunmehr verstärkt.


"Hör uns an Abdallah, das Volk will Freiheit"; "Wir boykottieren, wir boykottieren"; so und ähnlich klangen die Rufe der Demonstranten wenige Tage vor den Parlamentswahlen am 23. Januar 2013. Eine Kundgebung für "Volkssouveränität" sollte den Wahlboykott bekräftigen, zu dem die Islamische Aktionsfront (IAF) und einige kleinere Parteien aufgerufen hatten. In Anlehnung an die Spielregeln eines Fußballspiels hoben die Demonstranten gelbe Strafkarten als Warnung an das Regime. "Heute ziehen wir die gelbe Karte, bringt uns nicht dazu die rote zu ziehen", schrien die Führer der IAF und die Demonstranten im Chor (eigene Beobachtungen, 18.01.2013). Auch im Süden des Landes, vor allem in Karak und Ma'an, riefen linke und unabhängige Gruppen in friedlichen Demonstrationen zum Boykott auf.

Wahlboykotte sind bei jordanischen Parlamentswahlen keine Seltenheit. Die IAF, Jordaniens größte und am besten organisierte Oppositionspartei, hatte bereits die Wahlen 1997 und 2010 als Reaktion auf die ihrer Ansicht nach ungenügenden Reformen des Wahlgesetzes boykottiert. Man wolle nicht an diesen "Scheinwahlen" partizipieren, deren "Ergebnisse die Glaubwürdigkeit des künftigen Parlaments erodieren werden", bemerkt Zaki Bani Rusheid, stellvertretender Leiter der Muslimbruderschaft anlässlich des erneuten Boykotts.(1) Zu den Islamisten gesellten sich diesmal auch eine Vielzahl kleinerer oppositioneller Parteien, die kommunistische Partei, die im Zuge der Protestbewegung entstandenen harak (wörtlich: Bewegung[en]) sowie die Nationale Front für Reform des ehemaligen Regierungs- und Geheimdienstchefs Ahmed Obeidat. Mit dem Boykott suchten sie ihrem Frust über ausbleibende Reformen Ausdruck zu verleihen.

In den letzten zwei Jahren hatte der Druck oppositioneller Parteien und Demonstranten eine Reihe von wahlbezogenen Reformen ausgelöst. Ein neues Wahlgesetz wurde auf den Weg gebracht, wonach eine unabhängige Wahlkommission, statt des Ministeriums für Inneres, die Wahlen beaufsichtigt; zudem wurden Sitze für politische Parteien sowie eine Zweitstimme eingeführt. Im August 2011 kündigte König Abdallah im Zuge von Verfassungsänderungen außerdem die Einführung einer parlamentarischen Regierung an. Demnach würde der Monarch nicht wie bisher üblich eigenmächtig den Premierminister ernennen, sondern in Konsultation mit dem Parlament über einen Premierminister entscheiden. Er behält sich allerdings auch Weiterhin das Recht vor, das Parlament aufzulösen.


Das neue Wahlgesetz - Alter Wein in neuen Schläuchen
Wer bereits vergangene jordanische Wahlen beobachtet hat, erlebte ein Déjà-vu. Die Ereignisse vor und um die Wahlen im Januar 2013 scheinen in weiten Teilen die Erlebnisse des Jahres 2010 zu wiederholen. Wie bei den Parlamentswahlen Von 2010 ging auch dieses Mal die Auflösung des Parlaments nach nur der Hälfte der vierjährigen Legislaturperiode den Wahlen voraus. Wurde die Auflösung des 16. Parlaments mit dem langwierigen Verfahren der Konsensfindung begründet,(2) so galt jetzt die Auflösung als ein erster Schritt des anstehenden Reformprozesses. Und wie auch 2010 wurde das neue Parlament im Einklang mit einem speziell für die jeweiligen Wahlen erarbeiteten und als große Reform angekündigten neuen Wahlgesetz gewählt. Im Unterschied zu den Vorschlägen des Nationalen Dialogkomitees (NDK),(3) das die Einführung von drei Wahlstimmen Vorsah (für die Distrikt-, Regional- und Nationalebene) behält das erlassene Wahlrecht vom Juli 2012 das viel kritisierte Einstimmenwahlrecht(4) mit einfacher Mehrheit von 1993 bei, das ein Wahlverhalten nach familiären Loyalitäten und klientelistischen Gesichtspunkten fördert. Zwar wurde im Zuge der Einführung nationaler Listen nun eine zweite Wahlstimme eingeführt, allerdings hat dies nur wenige Veränderungen bewirkt. Zum einen werden nach dem neuen Wahlrecht lediglich 27 der 150 Parlamentssitze (18%)(5) für nationale Listen reserviert; diese dürfen aber nicht nur von Parteien besetzt werden, sondern auch von anderen Zusammenschlüssen. Die politische Öffnung der Listenwahl für nichtparteipolitisch organisierte Zusammenschlüsse steht im Widerspruch zum propagierten Demokratisierungsprozess, der, wie der König in seinem letzten veröffentlichten Diskussionspapier "Making our democratic system work for all Jordanians"(6) schreibt, eine parteibasierte politische Kultur schaffen soll. Zum anderen änderte die Einführung der Listen kaum etwas an dem etablierten personalisierten Wahlverhalten. Jenseits der Grenzen von Amman und anderen größeren Städten wie Irbid und Zarqa spielte die Diskussion um die Relevanz politischer Parteien kaum eine Rolle. So war für die Mehrheit meiner Interviewpartner in Ma'an im Süden Jordaniens die Zweitstimme kaum relevant. Wählen gehen bedeutet weiterhin, seine Stimme für den Kandidaten bzw. die Kandidatin des Wahlbezirks abzugeben.

Zudem erhöhte das neue Wahlrecht die Frauenquote von 12 auf 15 Sitze und reservierte damit für die im Wahlgesetz 2010 vergessenen Beduinen-Wahlbezirke drei weitere Sitze für Frauen. Schließlich schuf das neue Wahlgesetz eine Wahlkommission mit dem Mandat, die anstehenden und alle weiteren Wahlen vorzubereiten und durchzuführen. Angesichts anhaltender Proteste und vor dem Hintergrund regionaler Umbrüche kann die Errichtung dieser 'unabhängigen' Wahlkommission als Versuch gewertet werden, die Glaubwürdigkeit des Reformwillens zu bestärken. Dem diente auch die Einladung von ausländischen Wahlbeobachtern nach Jordanien, mit der vor allem gegenüber dem Ausland Jordaniens Image einer Hochglanzdemokratie(7) poliert werden sollte. Dass sich Jordanien - angesichts der anhaltenden Protestbewegung - um die internationale Anerkennung sorgt, zeigen auch die Statements des Premierministers A. Ensour Anfang Januar 2013, die zwar Schwächen des Wahlgesetzes eingestehen, dennoch aber zur Partizipation an den Wahlen aufrufen, da ein Boykott der Wahlen sonst das falsche Signal an das Ausland senden würde.(8)

Bei der organisierten Opposition stießen diese Reformen des Wahlprozesses auf wenig Gegenliebe. In einem Interview erklärte ein politischer Aktivist aus Amman, dass sie [die Reformen], wären sie vor den Ereignissen des 'Arabischen Frühlings' eingeführt worden, vielleicht als Verbesserung hätten durchgehen können. Angesichts der regionalen Geschehnisse seien die Erwartungen jedoch gestiegen.(9) Deshalb galten die Parlamentswahlen auch im Land selbst als eine Art Lackmustest für die Ernsthaftigkeit der politischen Reformbemühungen des Königs. Jordanien befindet sich erklärtermaßen seit den Unruhen von 1989 in einem Reform- und Demokratisierungsprozess. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Kommentatoren angesichts des neuen Wahlgesetzes von einer "Fassade der zivilen Partizipation"(10) sprechen. Denn, so bemerkt der prominente jordanische Blogger Naseem Tarawnah, die Wahlrechtsreformen "tun wenig, um die essentiellen Probleme des Wahlsystems zu lösen", etwa die ungleiche Wahlkreiseinteilung oder die Schwäche der politischen Parteien.(11) Die bestehende Wahlkreiseinteilung gewährt den dünn besiedelten ländlichen Gebieten im Unterschied zu den Städten, die vorwiegend von Jordaniern palästinensischen Ursprungs bewohnt werden, ein überproportionales Gewicht im Parlament.(12) So brauchte beispielsweise der Kandidat Khalil Attiyeh im ersten Wahldistrikt Ammans 19.399 Wählerstimmen, um ins Parlament zu ziehen, während Amjad Al-Khatab aus Ma'an lediglich 3.563 benötigte.(13)


Fassade der Partizipation
Die regionalen Unruhen haben nicht nur die Erwartungshaltungen politischer Aktivisten erhöht, sondern auch die Forderungen der Menschen an die politischen Parteien verändert. Die IAF, die am lautesten für Reformen und gegen das neue Wahlrecht demonstriert hat, muss sich den kritischen Fragen ihrer Anhänger stellen. Denn die Politik der ägyptischen Muslimbrüder "wirkt sich negativ auf das Image der IAF in Jordanien aus. Durch die Politik von Mursi hinterfragen viele Menschen die Ziele der IAF, wenn sie in Jordanien an die Macht käme", so der Journalist F. Khitan.(14) Für ihn zeigen die Erfahrungen in Tunesien und Ägypten, dass die Islamisten unfähig sind, ein Land selbständig zu regieren.

Die anhaltenden Proteste der oppositionellen IAF nahm der Premierminister A. Ensour wenige Tage vor den Parlamentswahlen zum Anlass, die IAF zu warnen. Keine Partei solle davon träumen, Veränderungen von außerhalb des Parlaments herbeizuführen.(15) Diese Position griffen die Kandidaten auf, die durchweg den "Wandel unter der Kuppel" (des Parlaments) propagierten. Ansonsten hat sich an den Wahlthemen im Vergleich zu den Parlamentswahlen in 2010 kaum etwas verändert. Kein Banner, Flyer oder Plakat, das nicht "Ja" zu diesem und "Nein" zu jenem sagte: "Für soziale Gerechtigkeit", "Nein zu Korruption". Neben sozioökonomischen Themen bleiben "Palästina" und "Frauen" Dauerthemen, die bei jeder Parlamentswahl wieder auftauchen. Auch die in Übergröße an Häuserwände angebrachten Transparente der nationalen Listen hatten weder neue Themen noch Lösungsansätze für ihre "Ja's" und "Nein's" anzubieten. Auch mit Statements zur aktuellen politischen Lage hielten sich die Kandidaten zurück: So wurden weder das neue Pressegesetz, das elektronische Medien stark einschränkt, noch die anhaltenden Proteste, die syrischen Flüchtlinge oder das im Juli 2012 geschlossene Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds Während des Wahlkampfs thematisiert.

Die Diskussionen politischer Kommentatoren waren auch bei diesen Wahlen von den Themen "politisches Geld" und Stimmenkauf geprägt. Im Unterschied zu 2010 wurden im Vorfeld der jetzigen Parlamentswahlen jedoch insgesamt vier Kandidaten wegen des Verdachts der unrechtmäßigen Aneignung von Wählerstimmen verhaftet. Interessanterweise haben drei dieser vier Kandidaten dennoch den Einzug ins Parlament geschafft. Ein Tweet bemerkt dazu zynisch: "wenn ein Kandidat aufgrund des Verdachts der Korruption im Wahlkampf verhaftet wird, die Wahlen gewinnt und ins Parlament zieht, um dort Korruption zu bekämpfen, dann ist man definitiv in Jordanien" (@Hanansleman Twitter).(16)

Bedenkt man, dass die Forderung nach und die offizielle Rhetorik zur Korruptionsbekämpfung ein zentrales Thema der Proteste seit 2011 ist, mag dieses Ergebnis externe politische Beobachtern verwundern. Korruption kann jedoch je nach sozialer und politischer Positionierung wahlweise als verwerflich oder als angemessen identifiziert werden, was vielfältige Aneignungs- und Anwendungsmöglichkeiten mit sich bringt.(17) Aus lokaler Perspektive wird der Stimmenkauf bzw. -verkauf im Kontext der Wahlen nicht unbedingt als Korruption betrachtet und auch nicht mit den bekannt gewordenen 'großen' Korruptionsfällen der letzten Jahre (wie z.B. dem Kasinoskandal, in den der ehemalige Premierminister M. Bakhit involviert gewesen sein soll) in Verbindung gebracht. Wenn man schon nichts vom Parlament hat, dann kann man zumindest finanziell vom Wahlprozess profitieren - so oder so ähnlich antworten viele Menschen auf die Frage, was sie von Stimmenkauf halten.

Auch parteipolitische Partizipation bleibt in wesentlichen Teilen Fassade. Insgesamt konkurrierten 606 Kandidatinnen und Kandidaten für die Sitze in den Wahlkreisen, 105 davon Frauen, während 819 Kandidaten für die 27 Sitze der nationalen Listen antraten. Von den insgesamt 61 angetretenen nationalen Listen sind 23 mit zumeist einem Sitz im Parlament vertreten. Ausnahmen sind die Islamic Center Party (Al-Wasat Al-Islami), die drei Sitze erhielt und zusammen mit unabhängigen Kandidaten, die der Partei angehören, auf 19 Sitze kam und so den stärksten Block im neuen Parlament ausmacht. Die National Union Party (Al-Itihad Al-Watan), die Nation Party (Watan) und die Stronger Jordan Party (Al-Urdun Aqwa) gewannen jeweils zwei Sitze.(18) Insgesamt haben 18 Frauen den Einzug ins Parlament geschafft. 15 von ihnen erlangten über die vorgesehene Quote einen Sitz, zwei Kandidatinnen in Amman und Jerash wurden direkt gewählt, während eine Kandidatin einen Listenplatz gewinnen konnte. Trotz dieser leichten Veränderungen sind parteipolitische Zusammenschlüsse also auch im neuen Parlament nur in sehr geringem Maße vertreten. Eine Wirkliche Änderung der politischen Kultur des Parlamentarismus ist davon nicht zu erwarten.


Die Ruhe vor dem Sturm?
König Abdullah wertete die Wahlen als Erfolg und als Indikator für die Stabilität seines Landes.(19) Doch wie 'stabil' Jordanien ist, ist derzeit fraglich. Nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die breitere Bevölkerung ist sich einig, dass das neue Parlament ebenso wie die vorausgegangenen kein Motor für substantielle politische und ökonomische Reformen sein wird. "Diese Wahlen sind doch ein Witz". "Es sind doch nur neue Gesichter, die sich wie ihre Vorgänger auf unsere Kosten bereichern wollen. Es liegt nicht an den Kandidaten, sondern am System, das nicht funktioniert". "Diese Wahlen sind nur eine Probeaufführung für das nächste Theaterstück im November, Wenn das Parlament wieder aufgelöst wird" - solche und ähnliche Aussagen im Vorfeld der Wahlen Waren allgegenwärtig und zeugen von der allgemeinen Politikverdrossenheit der jordanischen Bevölkerung. Umso überraschender war es deshalb, dass die Wahlkommission eine Wahlbeteiligung von 56,5 Prozent(20) verkündete. Dies ist die höchste Wahlbeteiligung seit der Wiedereinführung Von Parlamentswahlen im Jahre 1989. Die höchste Wahlbeteiligung mit 75,27% wurde in der nördlichen Badia verzeichnet, während sie (erwartungsgemäß) mit 43,18% in Amman am niedrigsten war. Für die Opposition entsprachen diese Zahlen nicht der tatsächlichen Wahlbeteiligung. So warf die IAF dem Regime vor die Zahlen zu verschönern, indem es Unregelmäßigkeiten und Rechtsverstöße ignorierte; laut IAF liege die Höhe der Wahlbeteiligung lediglich bei 16,7%.(21)

Zynismus ist die eine weit verbreitete Reaktion auf die Wahlen; vor allem in Gebieten außerhalb Ammans, wo die Wahlen weiterhin eine hohe symbolische Bedeutung haben,(22) waren jedoch auch andere Reaktionen zu verzeichnen. "Nieder mit Abdullah. Lang lebe Hamza Mansour"(23) riefen die Anhänger eines Wahlverlierers in Ma'an provozierend. Die Wut der Wähler über die Niederlage ihrer Kandidaten schlug sich in vielen Teilen des Landes auch in gewaltsamen Aktionen nieder. So wurden in Ma'an.(24) Karak und Irbid verschiedene öffentliche Institutionen wie die Kommunalverwaltung und der Regierungsbezirk in Flammen gesetzt. Ähnlich wie bei den Wahlen 2010 kam es auch diesmal zu zahlreichen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhängern von Kandidaten und Sicherheitskräften. So musste die Gendarmerie (Darak) in as-Salt (35 km nordwestlich von Amman) und al-Karak (140 km südlich von Amman) den Zusammenstoß von Gruppen konkurrierender Kandidaten unter Einsatz von Tränengas auflösen. Im Nachgang der Wahlen zogen zahlreiche Anhänger in verschieden Städten auf die Straßen und vor den Sitz der Wahlkommission in Amman, um gegen die 'unfairen' Wahlergebnisse zu demonstrieren.(25)

Die IAF und andere politische Gruppen bemühen sich darum, das Wahlprozedere und die Wahlergebnisse als Indikator für den fehlenden Reformwillen des Regimes zu skandalisieren. Die Menschen auf der Straße scheinen sich jedoch mehr für ihre sozioökonomischen Lebensbedingungen zu interessieren, die sich angesichts bisheriger und weiter anstehender Preissteigerungen immer schwieriger gestalten. Ein junger Taxifahrer aus Amman bemerkt z.B.: "Du arbeitest sieben Tage die Woche und kannst mit Mühe und Not die Miete und das Essen zahlen. Wenn sie dann noch die Preise erhöhen, dann haben wir nichts mehr zu Verlieren. Dann wird es in Jordanien brennen."(26) Im Mai 2012 sollten die Elektrizitätspreise erhöht werden, was zu heftigen Demonstrationen führte. Das Vorhaben wurde daraufhin zurückgenommen, um jetzt aber doch schleichend durchgesetzt zu werden.(27) Wenige Monate später erlebte Jordanien als Reaktion auf die von Premierminister A. Ensour angekündigten Preiserhöhungen für Treibstoff und andere grundlegende Konsumgüter die bis dato landesweit größten Demonstrationen, an denen erstmalig auch Bewohner des größten palästinensischen Camps, al-Baq'a, teilnahmen. Im Zuge der als "Novemberunruhen" (Hibat Tischrín) bezeichneten zweitägigen Unruhen verbrannten Demonstranten Reifen und Bilder des Königs, zertrümmerten Ampeln und blockierten Straßen in mehreren jordanischen Städten. In scharfen (und ungewohnten) Tönen prangerten sie König Abdullah persönlich für die Probleme Jordaniens an und forderten seine Absetzung; ein seltenes [aber zunehmendes] Phänomen in Jordanien, wo der Monarch bislang als über jeden Zweifel erhaben zu sein schien.(28) Die Situation beruhigte sich nach wenigen Tagen, doch könnte sie sich wiederholen, wenn die neuen Sparmaßnahmen gemäß dem Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds vom Juli 2012 umgesetzt werden sollten. Im Gegenzug zu einem für drei Jahre gewährten Kredit in Höhe von zwei Milliarden US$ fordert der IWF finanzpolitische Anpassungsmaßnahmen und die Aufhebung von Subventionen vor allem im Bereich der Energieversorgung.(29) Angesichts der anhaltenden Kämpfe in Syrien und der Entwicklungen in Ägypten sind viele Jordanier weiterhin zurückhaltend und ziehen Frieden und Stabilität einer demokratischen Teilhabe vor. Doch sollten die vom IWF geforderten Preissteigerungen für Elektrizität und Nahrungsmittel umgesetzt werden, so könnte das durchaus der Auslöser für einen wirklichen 'jordanischen Frühling' sein.


Malika Bouziane, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients, FU Berlin.



Anmerkungen

(1) Clashes erupt as Jordanians head to polls, Alakhbar, 23.01.2013,
http://english.al-akhbar.com/content/clashes-erupt-jordanians-head-polls; [23.01.2013]

(2) Bouziane, Malika 2010: Parlamentswahlen in Jordanien: Ein Déjà Vue der Ereignisse. In: inamo Nr. 64, Winter 2010, Jahrg. 16, S. 46-49.

(3) Das Nationale Dialogkomitees wurde im Zuge der Proteste vom März 2011 mit dem Mandat Reformvorschläge zu erarbeiten eingerichtet (vgl. Bouziane/Lenner 2013).

(4) Zuvor galt das Wahlgesetz von 1986, wonach die Zahl der Wählerstimmen abhängig von den Sitzen im Mehrmandatswahlkreis war.

(5) Die IAF hat ursprünglich einen Parteiensitzanteil von 30 Prozent gefordert.

(6) King Abdullah: "Making Our Democratic System Work for All Jordanians",
http://kingabdullah.jo/index.php/en_US/pages/view/id/248.html, [30.01.2013]

(7) Lenner, Katharina 2007: Parlamentswahlen in Jordanien -Stillstand in der Hochglanzdemokratie. In: inamo. Nr. 52, Winter 2007, Jahrg. 13, S. 46-49.

(8) Rana Husseini: Ensour encourages women to participate in elections, JordanTimes, 06. Januar 2013

(9) Interview mit K. Khalaldeh, in Amman, 21.01.2013.

(10) Khalid Kamhawi: Jordan's elections will not and cannot be democratic - they must be boycotted, 23.01.2013;
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2013/jan/23/jordan-elections-democratic-boycotted [26.01.2013]

(11) Nassim Tarawneh: Jordan: A 2012 Retrospective and where the country goes to from here, 03.01.2013;
www.black-iris.com/2013/01/03/jordan-a-2012-retrospective-and-where-the-country-goes-from-here/; [03.01.2013].

(12) Bei den Parlamentswahlen 2010 gingen 85% der Parlamentssitze an Transjordanier, vgl. Nicolas Pelham: Jordan starts to shake, 08.12.2011;
www.nybooks.com/articles/archives/2011/dec/08/jordan-starts-shake/?pagination=false&printpage=true, [08.12.2011]

(13) Die Ergebnisse der Gewinner und Verlierer in den Wahldistrikten, Khaberni, 25.01.2013;
www.khaberni.com/print.php?newsid=91618&catid=o [25.01.2013].

(14) Interview mit F. Khitan, 27.01.2013.

(15) Rana Husseini: Ensour encourages women to participate in elections, Jordan Times, 6. Jan. 2013.

(16) Mohamad Ghazal: Tweeps condemn riots, JordanTimes, 27.01.2013.

(17) Vgl. Bouziane, Malika; Lenner, Katharina 2013: Jenseits 'monarchischer Stabilität': Jordanien in Bewegung. In: Jünemann/Zorob Hrsg): Arabisches Erwachen. Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika, Seite 125.

(18) Ammon News: Jordan Election Results: National Lists, 27.01.2013,
http://en.ammonnews.net/article.aspx?articleNO=20034, [27.01.2013].

(19) Khaled Neimat, Hani Hazaimeh, Amjad Yamin: Votes success reflects growing public tendency towards wider participation - King, JordanTimes, 24.01.2013.

(20) Hierbei wird Wahlbeteiligung auf Basis der registrierten Wähler berechnet. Schaut man sich jedoch die Zahlen genauer an, so haben lediglich 41,5% der 3,1 Millionen Wahlberechtigten partizipiert, vgl. BBC News, "Q&A: Jordan Election", 22. Januar 2013,
http://www.bbc.co.uk/news/ world-middle-east-21143037 [27.01.2013].

(21) Die Islamisten: Wahlbeteiligung liegt bei 16,7%, Khaberni 24.01.2013; www.khaberni.com/more.php?newsid=91500, [23.01.2013].

(22) Vgl. Bouziane, Malika 2013: Re-Narrating the Story of Elections in Jordan - Celebrating a National Wedding locally. In: Malika Bouziane, Cilia Harders and Anja Hoffmann (Hrsg.): Local Politics and Contemporary Transformation in the Arab World - Governance beyond the Center. Series: Governance and Limited Statehood. Hampshire: Palgrave Macmillan, forthcoming.

(23) Hamza Mansour ist Generalsekretär der IAF.

(24) Muath Freij: Ma'an rioters torch schools over election results, JordanTimes, 24.01.2013

(25) Areej Abuqudairi: 'Post-election riots contained via tribal mediation', JordanTimes, 26.01.2013;
http://jordantimes.com/post-election-riots-contained-via-tribal-mediation, [26.01.2013].

(26) Gespräch mit Abu M. in Amman, 21.01.2013.

(27) Bouziane, Malika; Lenner, Katharina 2013: Jenseits 'monarchischer Stabilität': Jordanien in Bewegung. In: Jünemann/Zorob (Hrsg): Arabisches Erwachen. Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika.

(28) Ibid.

(29) Jordan, IMF reach preliminary $2b loan deal, JodanTimes, 25.07.2013;
http://jordantimes.com/jordan-imf-reach-preliminary-2b-loan-deal; [25.07.2013]

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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 73, Frühjahr 2013

Gastkommentar:
- Die Westsahara: The worst of the worst... Von Axel Goldau

Ägypten
- Die neue ägyptische Verfassung. Von Anja Schöller-Schletter
- Und täglich ruft die Wahlurne. Von Florian Kohstall
- Ägyptens Wirtschaft: Keine Rettung in Sicht? Von Amr Adly
- Arbeiter, Gewerkschaften und Ägyptens politische Zukunft. Von Joel Beinin
- Shabab al-thaura: Symbolische Macht der ägyptischen Revolutionsjugend. Von Sarah Wessel
- Frauenschwestern und Muslimbrüder: Parallelen. Von Gihan Abou Zaid
- Mursi auf Reisen: Alte Seilschaften, neue Netzwerke. Von Thomas Demmelhuber
- Scharf wie ein Skalpell - TV Satiriker Bassem Youssef. Von Martina Sabra

USA
- Beten in der St. Drohnen Kirche. Von Tom Engelhard

Mali
- Schmerzhafles Erwachen - Gespräch mit dem Schriftsteller Boubacar Boris Diop.
Souleymane Ndiaye: Gespräch mit Boubacar Boris Diop

Palästina/Israel
- Palästinenser in Jordanien und die Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Hazem Jamjoum im Gespräch mit Anis F. Kassim
- Die Vertreibung der Palästinenser aus Kuwait. Eine Bilanz. Von Toufic Haddad
- Das Palästinenserviertel Yarmuk mitten im syrischen Krieg. Von Moutawali Abu Nasser

Jordanien
- Jordanisches Demokratietheater: Die Wahl zum 17. Parlament. Von Malika Bouziane
- Die Wahlen in Jordanien: ein weiterer Schritt rückwärts. Von Hisham al-Bustani

Syrien/Kurdistan
- Kurden in Syrien - der andere syrische Aufstand. Von International Crisis Group

Sudan/Südsudan
- Walzer mit Bashir und Kiir. Von Roman Deckert und Tobias Simon

Wirtschaftskommentar
- Rassismus bei der Weltbank. Von Phyllis Muhammad

Zeitensprung
- Die deutschen Behörden und der Mord an Saleh Ben Youssef. Von Tobias Mörike

Kritik & Meinung
- Werner Rufzu Aissa Halidou, Heft 72

ex mediis
- D. Götting: "Etzel" / G. Hankel: Das Tötungsverbot im Krieg / S. El Feki: Sex und die Zitadelle / H. Albrecht, T. Demmelhuber (Hrsg): Revolution und Regimewandel in Ägypten / Judith Butler: Parting ways. Von Malcolm Sylvers, Norman Paech, Jörg Tiedjen, Nadine Kreitmeyer, Nils Fischer

Nachruf
- Akiva Orr (1931-2013). Von Lutz Fiedler

Nachrichten//Ticker

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Quelle:
INAMO Nr. 73, Jahrgang 19, Frühjahr 2013, Seite 55 - 58
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2013